Titelbild Osteuropa 10-12/2021

Aus Osteuropa, 10-12/2021

Sanktionsinstrument Nord Stream 2?
Energie-, Sicherheits- und Symbolpolitik

Roland Götz

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Abstract in English

Abstract

Die durch die Ukraine führenden Transitleitungen für Erdgas sind kein politisch gegen Russland nutzbarer „Hebel“. Das gleiche gilt für die Pipeline Nord Stream 2. Diese Erdgasleitung stellt weder eine Bedrohung für die Ukraine oder andere Staaten dar, noch ist sie ein wirksames Sanktionsinstrument gegen Russland. Die Debatte um Nord Stream 2 lenkt davon ab, dass Deutschland ebenso wie viele andere EU-Länder ungern Sanktionen gegen Russland verhängen wollen, die auf jeden Fall spürbare negative Rückwirkungen auf die eigenen Volkswirtschaften hätten, von denen aber zugleich niemand weiß, ob sie Russlands Führung tatsächlich beeindrucken würden.

(Osteuropa, 10-12/2021, S. 193–200)

Volltext

Osteuropa: Herr Götz, die Debatte über Nord Stream 2 wird seit vielen Jahren geführt. Es scheint, alle Argumente sind ausgetauscht. Das Thema hat eine energiewirtschaftliche, politische und symbolische Dimension. In einer Zeit, in der Moskau mit einem Truppenaufmarsch einem Nachbarstaat droht und die europäischen Staaten wie auch die USA an den Verhandlungstisch bringen will, wäre die Inbetriebnahme einer neuen Ader der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Russland symbolisch äußerst fragwürdig. Daher wird über eine zeitweilige oder dauerhafte Schließung der technisch betriebsbereiten Pipeline als Sanktion gegen Russland gesprochen. Das führt zurück zu den Ausgangsfragen. Die erste lautet: Braucht Deutschland, braucht Europa Nord Stream 2?

Roland Götz: Kritiker der Gasleitung wenden ein, dass man sie nicht braucht, weil das Gastransportnetz der Ukraine mehr als genug Kapazitäten zur Verfügung stellt, um den leitungsgebundenen Gasimport Europas – verstanden hier einschließlich der Türkei, ausgenommen Belarus und der Südkaukasus – aus Russland auch in Zukunft ohne sie zu ermöglichen. Dies mag stimmen, aber im europäischen marktwirtschaftlichen Umfeld entscheiden Unternehmen nach ihren eigenen Gesichtspunkten über Investitionsvorhaben. Beim Bau von Hochspannungsleitungen oder Gasfernleitungen muss in Deutschland überdies von der nach Landesrecht zuständigen Behörde in einem Planfeststellungverfahren geprüft werden, ob diese volkswirtschaftlich erforderlich sind. Im Fall von Nord Stream 2 hat das Bergamt Stralsund in seinem Planfeststellungsbeschluss festgestellt, dass Nord Stream 2 der sicheren Versorgung Europas einschließlich der Ukraine mit leitungsgebundener Energie dient, indem eine zusätzliche Erdgasmenge von ungefähr 55 Milliarden m³ pro Jahr auf aus technischer Sicht sicherem Weg importiert wird. Es hat sich dabei von den Gutachten leiten lassen, die dem Antrag der Nord Stream 2 AG beigefügt waren.

Osteuropa: Durch politischen Beschluss auf höchster, also europäischer Ebene, könnte der Einschätzung des Planfeststellungsbeschlusses widersprochen werden. Von großer Bedeutung dafür ist die Frage: Wozu braucht Russland Nord Stream 2?

Götz: Die Ukraine, die bis in die 1990er Jahre ein Transitmonopol für sowjetisches Erdgas innehatte, wurde noch nach dem Ende der Sowjetunion von Gazprom zu Vorzugspreisen beliefert, die jährlich neu ausgehandelt wurden. Oft bezahlte die Ukraine die Gasrechnung nur teilweise. In den Jahren 2005 und 2008 konnten die Vertreter von Gazprom und der Ukraine sich zum Jahresende nicht auf den Gaspreis für das kommende Jahr einigen. Gazprom reduzierte die Lieferungen, die Ukraine entnahm für den Transit bestimmtes Erdgas, worauf Gazprom die Gaslieferung nach Ostmittel- und Westeuropa über die Ukraine einstellte. Um derartige Gaskrisen zu vermeiden und die höheren „europäischen“ Preise in der Ukraine durchsetzen zu können, aber auch um die zunehmende Gasnachfrage seiner europäischen Kunden befriedigen zu können, beschloss Gazprom ab 1993 sieben um die Ukraine führende Umgehungsleitungssysteme – 1993 Jamal-Europa, 1997 Blue Stream, 2005 Nord Stream, 2009 die 2014 aufgegebene South Stream, 2015 Nord Stream 2 und schließlich 2016 Turk Stream. Ohne South Stream, aber mit Nord Stream 2 beträgt ihre Gesamtkapazität rund 200 Milliarden m³ pro Jahr, was rechnerisch den gesamten leitungsgebundenen Gasexport Gazproms Richtung Westen abdeckt. Die Bedeutung des Ukrainetransits für Russland wurde außerdem durch die Zunahme des Exports von Flüssiggas (LNG) aus Russland nach Europa geschmälert. Er hatte 2017 eingesetzt, war 2020 auf umgerechnet 17 Milliarden m³ gestiegen und seine weitere Erhöhung ist zu erwarten.

Osteuropa: Nord Stream 2 ist also ein rein ökonomisches Projekt, oder hat es nicht doch politische Dimensionen?

Götz: Nord Stream 2 wie auch Nord Stream verbinden zusammen mit den in Russland verlegten Zuleitungen den europäischen Absatzmarkt von Gazprom auf kürzestem Weg und mit moderner Technologie mit der nordsibirischen Jamal-Halbinsel, die mittlerweile das Hauptfördergebiet von Gazprom ist. Daher kann man beiden Leitungen kommerzielle Rationalität nicht absprechen. Wie viele internationale Großbauten haben auch diese Pipelines politische Implikationen: Sie wurden vom Kreml, manchen deutschen Politikern und in Wirtschaftskreisen als Projekte verstanden, welche die wirtschaftliche Verflechtung zwischen Deutschland und Russland stärken und damit auch das Verhältnis zwischen Deutschland und Russland verbessern. Fakt ist: Eine gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeit, wie sie durch teure Investitionsobjekte hergestellt wird, lässt Handelskriege weniger wahrscheinlich werden, da beide Seiten ökonomische Gewinne gegen Verluste aufrechnen müssen. Allerdings sind solche Bauten keine „Friedensprojekte“, da militärische Auseinandersetzungen einem Kalkül unterliegen, in dem wirtschaftliche Verluste kein großes Gewicht haben.

Osteuropa: Die Kritiker des Projekts argumentieren seit langem, Nord Stream 2 würde einen Angriff Russlands auf die Ukraine erleichtern. Angesichts der angespannten Lage fordern sie heute ein Verbot der Inbetriebnahme, um Russland von einem Angriff abzuhalten. Wie sehen Sie dies?

Götz: Das Argument lautet: Ohne Nord Stream 2 kann Moskau mit der Drohung, die durch die Ukraine führenden Gastransitleitungen abzuschalten, von einem Angriff auf das Land abgehalten werden. Aber: Warum musste Russland 2014 oder 2015, als der Gastransit durch die Ukraine 40 Prozent des Westexports von Gazprom ausmachte, nicht befürchten, dass die Ukraine diesen als Antwort auf die Annexion der Krim unterbricht? Der Grund war damals der gleiche wie heute: die Gasversorgung der ukrainischen Wirtschaft und Bevölkerung hängt vom Funktionieren der Transitleitungen und den durch sie verbundenen Gasspeichern ab. Sie sind deswegen kein von der Ukraine gegen Russland nutzbarer „Hebel“, der durch den Betrieb von Nord Stream 2 entfallen würde.

Osteuropa: Aber die Ukraine bezieht doch schon seit Oktober 2015 kein Erdgas mehr direkt aus Russland.

Götz: Heute kann die Ukraine anders als früher ihren auf rund 30 Milliarden m³ pro Jahr gesunkenen Erdgasverbrauch zur Hälfte aus eigener Förderung decken. Die andere Hälfte wird aus der Slowakei, Polen und Ungarn geliefert. In den Jahren 2016–2019 wurde dieses Erdgas physisch aus den westlichen Nachbarstaaten der Ukraine bezogen, seit 2020 findet überwiegend ein „virtueller Rücktransport“ (virtual reverse flow) statt. Das heißt, die Ukraine entnimmt gemäß einer vertraglichen Vereinbarung Transitgas und verrechnet dies mit dessen Beziehern in Ostmittel- oder Westeuropa.

Allerdings geht es gar nicht um die Importe in die Ukraine, sondern darum, dass das ukrainische Gastransitsystem mit seinen Speichern für die Gasversorgung der Ukraine wichtig ist. Um es in Betrieb zu halten, könnte die Ukraine auch formell den Import von Gas aus Russland wieder aufnehmen, den sie im Oktober 2015 eingestellt hat.

Osteuropa: Sie empfehlen der Ukraine, den Import von Erdgas aus Russland wieder aufzunehmen?

Götz: Warum denn nicht? Die Ukraine kauft doch gegenwärtig aus der Slowakei, Polen und Ungarn per „virtuellem Rücktransport“ zu 100 Prozent und per realer Lieferung aus denselben Ländern überwiegend Gazprom-Gas. Dass sie im Oktober 2015 auf eigenen Wunsch nicht mehr formell von Gazprom beliefert werden wollte, hatte politische Gründe. Eine Wiederaufnahme der direkten Belieferung aus Russland würde das ukrainische Gastransportsystem im Osten der Ukraine auch dann stabilisieren, wenn der Gastransit durch die Ukraine ab 2025 wesentlich geringer werden würde.

Osteuropa: Gesetzt den Fall, es kommt nicht zu einer militärischen Eskalation. Russland zieht die Truppen an der Grenze zur Ukraine ab, Nord Stream 2 wird einige Zeit später in Betrieb genommen. Welche ökonomischen Folgen hätte dies für die Ukraine?

Götz: Auch nach einer Inbetriebnahme von Nord Stream 2 ist Gazprom bis 2024 verpflichtet, Transitgebühren für die Beförderung von 40 Milliarden m³ Gas über das ukrainische Gastransportsystem zu bezahlen (take or pay-Vereinbarung). Grundsätzlich gilt auch danach, dass durch Nord Stream 2 zwar eine Kapazität bereitgestellt wird, die der aktuellen Gastransitmenge durch die Ukraine entspricht. Als Reserve für höhere Liefermengen und jahreszeitlich bedingten Spitzenbedarf könnte Gazprom den Ukrainetransit jedoch weiter nutzen. Deutschland hat erklärt, sich für die Fortführung des Ukrainetransits einzusetzen. Die EU will die Ukraine in ihre Wasserstoffstrategie einbeziehen, damit sie als Produzent und Exporteur von „grünem“ Wasserstoff ihre Transitpipelines und großen Gasspeicher weiter nutzen kann. Wann dies erfolgen kann und ob dies für die Ukraine sinnvoll wäre, ist allerdings noch unklar.

Osteuropa: Aber 2024 – das sind noch drei Jahre, das ist nicht viel. Projekte wie die Wasserstoffstrategie der EU sind noch äußerst vage. Wie hoch sind die Einnahmen aus den Transitgebühren? Welche Rolle spielen diese Einnahmen für die ukrainische Volkswirtschaft? Welche Überlegungen gibt es in der Ukraine, um sich auf den möglichen Wegfall des Gastransits ab 2025 vorzubereiten?

Götz: Die Ukraine erhält von Gazprom bis 2024 jährlich 1,3 Milliarden US-Dollar für den Gastransit, auch wenn Gazprom die vereinbarte Transitmenge nicht ausschöpft. Diese Summe reicht aus, um die laufenden Personal- und Sachkosten des ukrainischen Gastransportsystems zu decken. Der ukrainische Pipelinebetreiber Gas Transmisson System Operator of Ukraine (GTSOU) verspricht sich in Zukunft Einnahmen aus der Durchleitung von Erdgas aus Zentralasien, dem Ausbau eines Nord-Süd-Gaskorridors Richtung Balkan, der noch stärkeren Marktkooperation mit der Slowakei sowie der Nutzung der ukrainischen Gasspeicher durch polnische Gesellschaften für LNG-Importe über das Terminal Świnoujście (Swinemünde) und für ungarische über das bei der kroatischen Halbinsel Krk.

Osteuropa: Sprechen denn Umweltgründe gegen Nord Stream 2?

Götz: Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) beanstandet, dass bei der im Januar 2018 erfolgten Genehmigung von Nord Stream 2 Umfang und Auswirkungen von Methan­emissionen nicht zutreffend berücksichtigt wurden und beruft sich dabei auf einen im Juni 2018 erschienenen Bericht zu US-amerikanischen Öl- und Gasanlagen. Sie verweist zudem auf eine 2020 publizierte Studie der Bundesagentur für Geowissenschaften und Rohstoffe zur Klimabilanz von Erdgas. Da der Planfeststellungsbeschluss des Bergamts Stralsund für nachträglich gewonnene Erkenntnisse einen Entscheidungsvorbehalt enthält, verlangt die DUH weitere Untersuchungen und vorsorglich die Abänderung oder Aufhebung des Genehmigungsbescheids. Die DUH erklärt, dass wegen Nord Stream 2 über Jahrzehnte hinweg jährlich 55 Milliarden m3 Erdgas aus Russland importiert, durch dessen Verbrennung jährlich etwa 100 Millionen t CO2 freigesetzt und außerdem durch den Transport und die Förderung in Russland erhebliche Mengen klimaschädigender Methanemissionen verursacht werden. Hier muss man allerdings einwenden, dass durch den Betrieb von Nord Stream 2 der Gasimport aus Russland nicht ansteigen wird und durch die Verlagerung auf die neue Pipeline weniger Erdgas über das alte Gastransportsystem der Ukraine und seine noch älteren Zuleitungen und Kompressorstationen in Russland nach Europa geleitet und so im Ergebnis die Umwelt durch Methanemissionen erheblich weniger geschädigt werden wird als durch den Betrieb von Nord Stream 2.

Osteuropa: Die DUH geht davon aus, dass der Erdgasimport aus Russland zügig reduziert werden kann, eine neue Pipeline hingegen die Rolle von Erdgas im Energiemix und die Rolle Russlands als Bezugsland zementiert.

Götz: Prognosen zum zukünftigen europäischen Erdgasimport aus Russland kommen zu sehr verschiedenen Ergebnissen, weil unter anderem die Rolle von Erdgas als Brücken­technologie oder der zukünftige Umfang von LNG-Importen unterschiedlich gewichtet wird. Der Umfang des Gasimports wird nicht vom Gasangebot und der Existenz von Transportsystemen wie Nord Stream 2 bestimmt werden. Das zeigen die LNG-Empfangsstationen an Europas Küsten. Sie standen jahrelang fast leer und wurden erst wieder gefüllt, als 2021 die Gasnachfrage in Europa anstieg. Der sogenannte carbon lock-in ist also nicht keineswegs zwangsläufig.

Osteuropa: Widerspricht Nord Stream 2 nicht dem EU-Prinzip der Energiesolidarität?

Götz: Das ist eine politische Frage und für solche gibt es in der EU eine rechtliche Regelung: EU-Staaten können gegen die volle Nutzung der Nord Stream 2 und ihrer Anschlussleitung EUGAL vorgehen, indem sie (wie im Fall der Nord Stream-Anschlussleitung OPAL bereits geschehen) durch weite Auslegung des Art. 194 Abs. 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union „Energiesolidarität“ einfordern, wenn ihre Interessen durch Nutzung einer Gasleitung beeinträchtigt werden, die zu ihrem Gasleitungsnetz in Konkurrenz tritt.

Osteuropa: Noch einmal zurück zu der Frage „Nord Stream 2 als Sanktionsoption“. Kann Deutschland die Inbetriebnahme verbieten?

Götz: Zu den rechtlichen Grundlagen eines Betriebsverbots für Nord Stream 2 hat die Bundesregierung sich nie geäußert und das Thema wird auch in der öffentlichen Diskussion ignoriert. Dabei ist die Rechtslage klar: Für die Elektrizitäts- und Gasversorgung und damit auch für Nord Stream 2 gilt in Deutschland das Energiewirtschaftsgesetz, das auch die einschlägigen EU-Verordnungen umsetzt. Für außenpolitische Recht­fertigungen eines auch nur zeitweiligen Betriebsverbots durch die Bundesregierung bietet es keine Grundlage. Bau und Betrieb der Nord Stream 2 wurden durch den Planfeststellungsbeschluss des Bergamts Stralsund vom 31. Januar 2018 genehmigt. Nur aus eigenem Ermessen oder auf Weisung der Regierung Mecklenburg-Vorpommerns könnte das Bergamt Stralsund diese Genehmigung widerrufen, indem es darlegt, dass der Betrieb von Nord Stream 2 schwere Nachteile für das Gemeinwohl der Bevölkerung der Bundesrepublik erzeugt. Dagegen ist Beschwerde beim Oberverwaltungsgericht Greifswald möglich. Ein Sanktionsbeschluss der EU müsste dagegen vom Bergamt Stralsund oder einer anderen von Deutschland benannten Behörde unmittelbar umgesetzt werden.

Osteuropa: Warum hat die EU durch einen Sanktionsbeschluss die Inbetriebnahme von Nord Stream 2 bisher nicht verhindert?

Götz: Nach den Grundsätzen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU werden Sanktionsbeschlüsse vom Europäischen Rat, in dem die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsländer sowie der Präsident des Rats und der Präsident der Kommission zusammenkommen, einstimmig gefasst. Da Einstimmigkeit nicht zu erwarten war, hat der Europäische Rat Sanktionen im Zusammenhang mit Nord Stream 2 gegen Gazprom oder Russland nie zur Abstimmung gestellt. Deswegen sagte der Hohe Vertreter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik Josep Borell am 28. April 2021 vor dem Europäischen Parlament, dass Nord Stream 2 keine Angelegenheit der EU, sondern der Deutschen sei.

Osteuropa: Da beißt sich die Katze in den Schwanz. Ganz verwunderlich ist es nicht, dass manche den Eindruck haben, Deutschland würde auf EU-Ebene mit einigen Staaten im Schlepptau gegen einen Konsens arbeiten, um auf nationaler Ebene darauf zu verweisen, dass ein Beschluss nur einstimmig von allen EU-Staaten gefasst werden kann. Hat Deutschland doch ein besonderes wirtschaftliches Interesse an Nord Stream 2?

Götz: Das durchaus. Aber davon abgesehen: Den Betrieb von Nord Stream 2 vorübergehend oder für immer zu verbieten wäre eine der unwirksamsten Sanktionen, die man sich vorstellen kann. Denn der Gasexport Russlands nach Europa über andere Leitungen bliebe ebenso unberührt wie der Export von Flüssiggas. Ein Verbot von Nord Stream 2, das in Deutschland vielfach als Element und Auftakt einer „neuen Ostpolitik“ gefordert wird, wäre daher nur Symbolpolitik oder bestenfalls ein Signal des Unmuts über Russlands Außenpolitik. Die hitzige Debatte um Nord Stream 2 lenkt von dem Umstand ab, dass weder Deutschland noch viele andere EU-Länder gerne bereit sind, effektivere Sanktionsinstrumente einzusetzen, von denen man nicht einmal weiß, ob sie Russlands Führung tatsächlich beeindrucken könnten, die auf jeden Fall aber spürbare negative Rückwirkungen auf die eigenen Volkswirtschaften hätten. Zur Symbolpolitik gehört auch der ebenfalls geforderte, aber nicht ernsthaft erwogene Verzicht Europas auf den gesamten Gasimport aus Russland. Denn nicht der Gasexport, sondern der viel umfangreichere und viel höher besteuerte Export von Erdöl und Erdölprodukten füllt in Wirklichkeit Putins Kriegskasse.

Osteuropa: Warum bleibt das Thema Öl in der Sanktionsdebatte außen vor?

Götz: Ich vermute vor allem deswegen, weil in der Öffentlichkeit Russlands Ölexport, der weit überwiegend per Tanker erfolgt, nicht als außenpolitisches Drohpotenzial Moskaus betrachtet wird und insbesondere kein Zusammenhang mit der Bedrohung der Ukraine gesehen wird. Auf Regierungsebene spielt vielleicht auch eine Rolle, dass große Ölkonzerne wie BP, Exxon und Shell in Russlands Ölsektor sehr viel stärker finanziell engagiert sind als im Gassektor Russlands. Fachleute wissen, dass bereits die Diskussion eines Ölembargos einen jähen Anstieg des Ölpreises auslösen würde, was viele Staaten in Bedrängnis bringen würde und dazu noch Russlands Staatskasse zugute käme.

Osteuropa: Zurück zu Nord Stream 2. Wie ist die Rechtslage, wenn sich politisch nichts mehr ändert?

Götz: Nord Stream 2 muss gemäß Energiewirtschaftsgesetz durch ein von der Bundesnetzagentur (BNA) zertifiziertes Unternehmen betrieben werden. Für diesen Zweck hat die in Zug in der Schweiz ansässige Nord Stream 2 AG im Januar 2022 die Gastransportgesellschaft Gas for Europe GmbH mit Sitz in Schwerin gegründet und ihre Zertifizierung als Unabhängiger Netzbetreiber beantragt. Sie wird auch Eigentümerin des im Küstenstreifen Deutschlands verlaufenden 54 km langen Teils der Nord Stream 2. Nach Vorliegen aller Unterlagen muss die BNA innerhalb von zwei Monaten entscheiden und ihren Beschluss an die EU-Kommission übermitteln, die innerhalb weiterer vier Monate dazu Stellung nehmen kann. Erst anschließend kann die BNA ihren Beschluss verkünden, was frühestens im zweiten Halbjahr 2022 der Fall sein dürfte.

Osteuropa: Sollte wider Ihr Erwarten doch ein Sanktionsbeschluss der EU erfolgen: Könnte Gazprom dann die Gaslieferungen nach Europa einstellen und auf China ausweichen?

Götz: Für die Belieferung Europas mit rund 200 Milliarden m³ Leitungsgas pro Jahr oder noch mehr wird Gazprom keinen baldigen und auch nur annähernd ausreichenden Ersatz finden. Eine erste, Kraft Sibiriens (Power of Siberia) genannte Gaspipeline Richtung China ist 2019 eröffnet worden. Sie soll ab 2024 bis zu 38 Milliarden m³ Erdgas transportieren, wird aber aus Gasfeldern in Ostsibirien versorgt. Das Erdgas, das nach Westen transportiert wird, stammt dagegen aus den Vorkommen auf der Jamal-Halbinsel und aus westsibirischen Gasfeldern. Von dort wird Gazprom erst nach Fertigstellung der durch die Mongolei geführten Pipeline Kraft Sibiriens 2 (Power of Siberia 2) Erdgas auf den chinesischen Gasmarkt bringen können. Dies wird voraussichtlich im Jahr 2030 der Fall sein. Da diese Pipeline mit ihrer Kapazität von 50 Milliarden m³ das westsibirische mit dem mittel- und ostsibirischen Gasleitungsnetz verknüpft, erhält Gazprom erst ab dann die Möglichkeit, die Bedienung von westlichen und östlichen Märkten variabel zu gestalten und etwaigen künftigen Gasembargos und Sanktionen wenigstens teilweise auszuweichen.

Das Gespräch führte Volker Weichsel am 7.2.2021.

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