Titelbild Osteuropa 3-4/2020

Aus Osteuropa 3-4/2020

Coronavirus statt Kaiserkrönung
Putins Verfassung und die Pandemie

Marija Lipman

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Abstract in English

Abstract

Mitte März schien Putin auf der Siegerseite zu sein: Wieder einmal hatte er alle ausgetrickst, sich die „ewige Präsidentschaft“ gesichert und die Stabilität im Land gefestigt. Doch schon am Ende des Monats stieß er auf einen Gegner, der ihn zum Nachgeben zwang: Die Corona-Epidemie hatte Russland erreicht. Die politischen Folgen könnten gravierend sein.

(Osteuropa 3-4/2020, S. 89–97)

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Am 15. Januar 2020 erklärte Präsident Putin in seiner jährlichen Rede zur Lage der Nation, die Verfassung der Russländischen Föderation werde eine Reihe von Änderungen erfahren. Die Ankündigung kam nicht ganz unerwartet – Beobachter hatten im Zusammenhang mit dem Ablauf von Putins aktueller Amtszeit als Präsident im Jahr 2024 mit etwas Derartigem gerechnet. Unerwartet waren Inhalt und Umfang der Änderungen sowie der Zeitpunkt, zu dem Putin das Thema aufbrachte.

In der heutigen politischen Situation in Russland würde kein Amtsträger es wagen, eine von Putin getroffene Entscheidung in Zweifel zu ziehen; kritische Anmerkungen gibt es ausschließlich im „alternativen Raum“, in den sozialen Netzwerken und auf einigen Seiten im Internet.

Gleich nach der Ankündigung der Verfassungsreform tauschte Putin den Ministerpräsidenten aus und entließ die Regierung – beides blieb, wie die Gründe, die Putin zur Änderung der Verfassung veranlasst hatten, ohne Erklärung. Beobachter konzentrierten sich zunächst auf die Frage, welche Machtkonfiguration Putin für die Zeit nach 2024 vorsah. Alle waren sich einig: Auch nach 2024 würde Putin die Macht in Händen halten, selbst wenn er das Präsidentenamt jemand anderem überlassen würde. Die Diskussion drehte sich hauptsächlich darum, wen Putin sich als Präsident vorstellte und welches Amt er selbst bekleiden wollte.

Doch am 10. März 2020, zwei Monate nach Ankündigung der Verfassungsreform, klärte sich die Lage auf einen Schlag. Vor der Abstimmung über die zahlreichen Änderungen – betroffen waren vierzig Verfassungsartikel – schlug die Abgeordnete Valentina Tereškova, die 1963 als sowjetische Kosmonautin die erste Frau im Weltraum gewesen war und seit Sowjetzeiten diverse politische Posten innegehabt hat, in der Duma im letzten Moment eine weitere vor. Diese Änderung sollte Putins bisherige Amtszeiten „auf null stellen“ und ihm so die Möglichkeit eröffnen, für die Amtszeiten 2024 bis 2030 und 2030 bis 2036 als Präsidentschaftskandidat antreten zu können. Kaum hatte sie den Vorschlag ausgesprochen, traf Putin in der Duma ein, hielt eine vorbereitete Rede und stimmte der Verfassungsänderung unter der Bedingung zu, dass das Verfassungsgericht sie billige. Das Gericht, das sich wie alle politischen Institutionen dem Präsidenten bedingungslos fügt, erfüllte seine Mission in kürzester Zeit – zur großen Empörung zahlreicher Verfassungsrechtler. Juristen wie der ehemalige Vorsitzende des Wahlrechtsausschusses im Rat für Menschenrechte Il’ja Šablinskij nannten den Schachzug, die Amtszeiten des Präsidenten einfach auf null zu setzen, und das gesamte Verfahren der Verfassungsreform eine „Katastrophe für die Verfassung“. [1] Und die Verfassungsrechtlerin Elena Luk’janova nahm bereits unmittelbar nach Putins Rede zur Lage der Nation im Januar 2020 kein Blatt vor den Mund: „Putins Reform kann man nur als ,Verfassungsputsch‘ bezeichnen“.[2]

Nach dem Verfassungsgericht billigten im selben Tempo auch sämtliche Regionalparlamente die Korrekturen. Anschließend unterzeichnete Putin die Verfassungsänderung.[3] Die erneuerte Verfassung räumt dem Präsidenten noch größere Vollmachten ein als zuvor. Außerdem enthält sie „soziale“ Bestimmungen, die mehr materielle Unterstützung für die Bevölkerung vorsehen, sowie einige „ideologische“ Punkte wie den „Schutz der historischen Wahrheit“ oder die Definition der Ehe ausschließlich als „Bund zwischen Mann und Frau“.[4] Die Annullierung der bisherigen Amtszeiten drängte allerdings alle anderen Verfassungsänderungen in den Hintergrund.

Was noch fehlte, war die von Putin angekündigte „Volksabstimmung“, die jedoch vom Gesetzgeber nicht vorgesehen ist und auch nicht erforderlich ist, da alle formalrechtlichen Schritte bereits vollzogen wurden. Die Bevölkerung sollte ebenso wie zuvor der Gesetzgeber und das Verfassungsgericht über alle Änderungen im Paket abstimmen, als handele es sich um eine einzige Korrektur. Die Abstimmung – kein Referendum! – hatte vermutlich den Zweck, den Schachzug „Zurück auf Null“ als vom Volk gewollt darzustellen.

Im Vorfeld der Abstimmung konzentrierten sich die staatlichen Fernsehsender in ihren Sendungen auf die „sozialen“ Änderungen. Das Kalkül war offenbar – und das berechtigterweise –, dass die Sorge des Staates um das materielle Wohlergehen der Bürger auf Zustimmung in der Gesellschaft stoßen würde, während politische Veränderungen die große Mehrheit der Bevölkerung Russlands wenig interessierten.


Pandemieeindämmung vor Politiktheater

Die politische Ordnung Russlands ist in den vergangenen 20 Jahren immer zentralistischer geworden. Im Mittelpunkt des Systems steht Präsident Putin. Mit dem Ende der letzten von der Verfassung erlaubten Amtszeit – bereits die Amtszeiten von 2012–2018 und 2018–2024 waren nur aufgrund einer fragwürdigen Rochade ins Amt des Ministerpräsidenten in den Jahren 2008–2012 möglich geworden – drohte das System der personalistischen Herrschaft zusammenzubrechen. Die Operation „Zurück auf null“ hat die erwünschte Stabilität wiederhergestellt: Es gibt nun de facto die unbegrenzte Präsidentschaft. „Das Prinzip des Machterhalts hat sich in unverhohlener Frechheit gezeigt“, kommentierte der Moskauer Kolumnist Ivan Davydov.[5] Der plumpe Trick, Putins bisherige Amtszeiten einfach zu annullieren, hat womöglich viele Menschen empört, doch nur wenige riskierten es, öffentlich dagegen zu demonstrieren, und sei es auch nur individuell.[6]

Es sah also gut aus für Putin: Am 22. April sollten die Bürger für die Verfassungsänderungen stimmen, inklusive der Annullierung von Putins Amtszeiten. Obwohl bei weitem nicht alle Bürger vorhatten, an der Abstimmung teilzunehmen, wollten doch die meisten derer, die diese Absicht äußerten, mit „Ja“ stimmen.[7] Die herrschende Elite musste sich keine Sorgen machen.

Außerdem sollte kurz danach, am 9. Mai, bereits unter den Bedingungen der neuen politischen Stabilität der 75. Jahrestag des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg begangen werden. Diese Feier, prunkvoller als je zuvor, sollte Putins Status als Oberhaupt jener Großmacht festigen, die den Nationalsozialismus besiegt hatte. Eine der Verfassungsänderungen lautet übrigens, eine Herabsetzung der Bedeutung der Heldentaten bei der Verteidigung des Vaterlandes sei nicht zulässig.

Trotz der nicht allzu guten wirtschaftlichen Entwicklung der letzten Jahre hatte die Regierung mit Nachdruck erklärt, dass ausreichend Mittel vorhanden seien, um die in den „sozialen“ Verfassungsänderungen in Aussicht gestellten Hilfen zu garantieren. Davon hätten die Bürger Russlands oder zumindest einige der bedürftigsten Gruppen bereits im Vorfeld der Dumawahlen 2021 profitieren können.

Doch dann wurden auch all diese Aussichten mit einem Mal „auf null gesetzt“. Am 25. März 2020 erklärte Putin in einer Fernsehansprache, die Corona-Epidemie mache Maßnahmen der Selbstisolation erforderlich, die „Volksabstimmung“ über die Verfassungsreform müsse daher verschoben werden. Der Präsident, der sich immer als unnachgiebiger Politiker inszeniert hatte, der keine Zugeständnisse macht – weder unter dem Druck internationaler Sanktionen noch bei einer Geiselnahme Hunderter Menschen –, schob das Vorhaben wegen des Vordringens des Corona-Virus auf. Auch die Militärparade und andere Feierlichkeiten am 9. Mai, etwa die Märsche des „Unsterblichen Regiments“, bei denen seit einigen Jahren in zahlreichen Orten Russlands Porträts von Kriegsteilnehmern gezeigt werden, beschloss der Kreml zu verschieben.[8]

Arbeitsteilung in der Ratingokratie

In seiner ersten Fernsehansprache zur Bekämpfung der Corona-Epidemie am 25. März vermied Putin alarmierende Begriffe wie „Quarantäne“. Stattdessen kündigte er eine „arbeitsfreie Woche bei Fortzahlung des Gehalts“ an und riet nicht besonders nachdrücklich dazu, „zu Hause zu bleiben“.[9]

Anders als der ungarische Präsident Viktor Orbán setzte er nicht auf Mobilisierung, doch im Unterschied zum belarussischen Präsidenten Aljaksandr Lukašenka auch nicht auf das Leugnen einer Gefahr.[10] Dies hat mit der Inszenierung Putins in den vergangenen Jahren zu tun. Im Staatsfernsehen tritt der Präsident ausschließlich als Quelle guter Nachrichten und diverser Wohltaten für die Bevölkerung auf. Schlechte Nachrichten müssen andere überbringen, die Putin daraufhin öffentlich rügt oder entlässt. Mit dieser Strategie hat Putin sich eine hohe Unterstützung in der Bevölkerung verschafft. Sein Rating in den Umfragen ist die entscheidende Basis für Putins herausgehobene Stellung als alternativloser Führer und sichert ihm die bedingungslose Loyalität der Eliten, in deren Rivalitäten er als oberster Schiedsrichter auftritt.

Putins Aufforderung, zu Hause zu bleiben, wurde jedoch von vielen Menschen nicht befolgt. Vielmehr nutzen sie den Urlaub, um Freunde zu treffen oder Picknicks zu veranstalten. Andere brachen gar ans Schwarze Meer auf. Putins Versuch, die schlechten Nachrichten zu entschärfen, könnte die Verbreitung der Epidemie erleichtert haben.

Härtere und vor allem konkretere Maßnahmen folgten bald. Diese wurden jedoch nicht von Putin verkündet, sondern vom Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin, der zum Leiter einer Sondergruppe zur Bekämpfung des Corona-Virus ernannt worden war. Nach dem Datenstand vom 14. April entfielen etwa 60 Prozent der 21 102 russländischen Infizierten auf Moskau.

Auch der Mitte Januar ernannte Ministerpräsident Michail Mišustin hat den Kampf gegen das Corona-Virus aufgenommen. Die Quarantäne-Bestimmungen und die medizinischen Maßnahmen, die nach Putins Fernsehansprache eingeführt wurden, unterscheiden sich nicht prinzipiell von denjenigen in den meisten europäischen Ländern, doch in Russland ist die Qualität der medizinischen Versorgung – so wie die Lebensqualität allgemein – extrem ungleich verteilt.[11] Moskau steht, was medizinische Technik, Ausstattung der Krankenhäuser und dergleichen betrifft, an erster Stelle. Dennoch kommen seit dem 8., 9. April, als die Zahl der Infizierten in Russland die Zehntausend überschritt, auch hier Meldungen über mangelnde Schutzausrüstung, fehlende Beatmungsgeräte und zu wenig medizinisches Personal aus den Kliniken. Der Personalmangel ist auf massive Stellenkürzungen im Jahr 2018 zurückzuführen, die durchgesetzt worden waren, um Putins Erlass vom Mai 2018 über die Anhebung des Durchschnittsgehalts im Gesundheitswesen umzusetzen.[12] Ebenfalls im ersten Drittel des Monats tauchten in Internetpublikationen Berichte von Ärzten über den gewaltigen Patientenandrang und die extreme Überlastung des medizinischen Personals in den Moskauer Krankenhäusern auf, die Ähnlichkeit mit den früheren Schilderungen der Zustände in Italien oder New York hatten.[13] In der nächsten Zeit dürfte sich die Situation noch verschlimmern, denn der Höhepunkt der Epidemie ist in Russland noch nicht nahe.[14]

Einschneidende Maßnahmen

Die Grenze zu China hatte Russland bereits Ende Januar geschlossen, als Informationen über den Ausbruch der Epidemie in China bekannt geworden waren.[15]  Ende März wurden sämtliche Staatsgrenzen geschlossen.[16] Ausnahmen gelten nur für den Güterverkehr. Sogar der Grenzverkehr mit Belarus wurde eingestellt, obwohl die beiden Staaten formal eine Union bilden. Belarus hatte im Gegensatz zu Russland keine Maßnahmen gegen die Epidemie ergriffen und Präsident Lukašenka protestierte scharf gegen die von Russland verhängten Reisebeschränkungen.[17]

Mit der Grenzschließung stellte Russland auch den Luftverkehr mit anderen Staaten komplett ein. Eine Ausnahme waren die Charterflüge, die russländische Bürgerinnen und Bürger aus dem Ausland nach Russland zurückbringen sollten. Doch die Rückholung der etwa 35 000 Menschen verlief äußerst schleppend.[18]

Die Einschränkung und dann die Einstellung des Luftverkehrs wurden zu einem großen Problem für Arbeitsmigranten aus Zentralasien.[19] Ende März waren Hunderte von ihnen auf Flughäfen gestrandet.[20]  Zahlreiche Migranten halten sich aber nach wie vor in Russland auf; in Moskau arbeiten viele weiterhin in Supermärkten, bei Lieferdiensten oder auf städtischen Baustellen, wo ungeachtet der Epidemie in unvermindertem Tempo gearbeitet wird.[21]

Grenzschließungen zwischen Regionen, die einige Gouverneure durchsetzen wollten, wurden von Ministerpräsident Mišustin untersagt.[22] Einzig Tschetscheniens Oberhaupt Ramzan Kadyrov, der immer wieder seine Unabhängigkeit demonstriert, erklärte, Bewohner anderer Regionen dürften nicht mehr nach Tschetschenien einreisen.[23]

Am 29. März erklärte Bürgermeister Sobjanin, die Verbreitung des Virus habe ein neues Stadium erreicht, und niemand sei davor sicher. Ein solcher alarmierender Ton aus dem Munde eines Repräsentanten des Staates ist in Russland ungewohnt; normalerweise gehen die Menschen davon aus, dass der Staat das wahre Ausmaß einer Katastrophe verschweigt.[24] Das war nicht nur in der UdSSR so, sondern auch 2004 im Fall der Geiselnahme von Beslan. Aufgrund des weit verbreiteten Zugangs zum Internet und zu sozialen Netzwerken dürfte sich die tatsächliche Lage insbesondere in Bezug auf die Zahl der Infizierten und Toten heute allerdings kaum noch verschleiern lassen – eher gilt dies für ungenügende Testkapazitäten, die mangelnde Zuverlässigkeit der Tests und dergleichen.

Sowohl Sobjanin als auch Mišustin treten in der Krise als energische Führungskräfte auf. Da Putin offenbar nicht mit jenen unpopulären Beschränkungen in Verbindung gebracht werden möchte, die bereits jetzt viele Menschen ihren Arbeitsplatz und ihren Verdienst gekostet haben, bleibt es ihnen überlassen, den Kampf gegen die Epidemie zu verkörpern. Sie sind es auch, die jetzt von Staatsdienern auf allen Ebenen verlangen, weitere einschneidende Maßnahmen um- und durchzusetzen, die aber den Begriff „Quarantäne“ dabei, wie ihr Staatsoberhaupt, weiterhin vermeiden.

Die rechtliche Voraussetzung für die Verhängung konsequenter Ausgangssperren und vor allem der damit verbundenen Sanktionen[25] wäre eigentlich die Ausrufung des Katastrophenfalls. Dazu war bisher nur der Präsident berechtigt, doch da Putin möglichst nicht als Überbringer schlechter Nachrichten auftreten will, hat die Duma bereits ein Gesetz verabschiedet, das es nun auch der Regierung erlaubt, den Ausnahmezustand zu erklären. Ministerpräsident Mišustin zögert bislang, davon Gebrauch zu machen, weshalb die derzeitigen extremen Maßnahmen, die praktisch das ganze Land betreffen, zwar zweckmäßig sein mögen, doch ihre Rechtmäßigkeit bleibt fraglich.[26]

Zum Ende der „arbeitsfreien Woche“ wandte sich Putin am 2. April 2020 erneut mit einer Fernsehansprache an die Bevölkerung und verlängerte die „arbeitsfreien Tage bei Fortzahlung des Gehalts“ bis Ende April. Er betonte zwar, jetzt sei „die Sicherung von Arbeitsplätzen und Einkommen der Bürger wichtig“[27], erklärte jedoch nicht, wie ein Anstieg der Arbeitslosigkeit oder Einkommensverluste verhindert werden könnten. Über konkrete Unterstützung für die Wirtschaft sagte Putin nichts. Offensichtlich funktionierte auch die Kommunikation schlecht. Viele Verantwortliche hatten nicht gewusst, dass Putin die „arbeitsfreie Zeit“ um einen ganzen Monat verlängern würde, so dass entsprechende neue Rettungsmaßnahmen überstürzt entwickelt werden mussten.[28]

Am 15. April kündigte Präsident Putin ein großes Hilfsprogramm für die Wirtschaft an.[29] Experten befürchten, dass die angekündigte Unterstützung kaum ausreichend sein wird.[30] Wegen des gesunkenen Ölpreises sind Russlands Erlöse und Steuereinnahmen eingebrochen. Je dünner die Finanzdecke, desto wahrscheinlicher werden nur die größten Unternehmen gerettet sowie jene Firmen, die eine starke Lobby haben. Für Kleinunternehmen und den Mittelstand dürfte das Hilfsprogramm geeigneter sein, das Moskaus Bürgermeister Sobjanin ankündigte.[31] Doch grundsätzlich gilt wahrscheinlich das, worauf Finanzminister Anton Siluanov die Bevölkerung in einem landesweit ausgestrahlten Fernsehinterview einstimmte: „Die fetten Jahre der russländischen Wirtschaft“ seien vorbei.[32] Und das vor dem Hintergrund, dass die Einkommen der Bürger ohnehin schon in den letzten fünf Jahren stetig gesunken sind.

Verantwortung nach unten delegieren

In seiner zweiten Fernsehansprache schob Putin die Verantwortung für die Bekämpfung der Epidemie den regionalen Machthabern in den 85 Föderationssubjekten zu.[33] Auf den ersten Blick war dies naheliegend, da sich doch die epidemiologische Lage von Region zu Region stark unterschied und Russland formal einen föderalen Aufbau hat. Doch der Föderalismus besteht seit langem nur noch auf dem Papier. Formal werden die Gouverneure gewählt, tatsächlich aber werden die Kandidaten vom Kreml bestimmt, und mit wenigen Ausnahmen stammen sie nicht aus den Regionen und haben dort keine Verbindungen. Zudem kann der Kreml einen gewählten Regionschef jederzeit austauschen. Seit Beginn der Epidemie sind drei Gouverneure „zurückgetreten“, doch es besteht kein Zweifel, dass alle drei Rücktritte im Kreml angeordnet wurden. Betroffen waren das Oberhaupt der Republik Komi sowie die Gouverneure von Kamčatka und des Gebietes Archangel’sk; der Leiter des Autonomen Gebiets der Nenzen wurde als kommissarischer Gouverneur ins Gebiet Archangel’sk versetzt.[34]

Die Abhängigkeit vom Kreml – statt von den Wählern in der jeweiligen Region – hat die Machthaber in den Regionen seit langem jeder Initiative entwöhnt und sie zu Befehlsempfängern degradiert, die nur noch Direktiven „von oben“ umsetzen. In der gegenwärtigen Krise sind sie plötzlich mit Aufgaben konfrontiert, zu deren Bewältigung ihnen vielfach sowohl die Erfahrung fehlt als auch die Ressourcen.

Die neue Unsicherheit

Noch Mitte März sah es so aus, als hätte Putin seine Legitimität und damit auch die Stabilität im Land gefestigt. Doch schon Ende März verflüchtigte sich diese Stabilität. Nun wurde die Erzeugung von Unsicherheit ein Kernelement von Putins Politik. Indem er die Elite über seine Absichten im Ungewissen ließ, zwang er seine Umgebung, ihr Verhalten ständig neu zu justieren, um seine Gunst nicht zu verlieren. Gleichzeitig vermied er es weiter, schlechte Nachrichten zu überbringen, obwohl sich schon abzeichnete, dass es gute Nachrichten in nächster Zeit kaum geben wird. In der zweiten Aprilwoche begann Putin dann wieder aktiver in Erscheinung zu treten und seine Führungsrolle zu demonstrieren: Er hält Videokonferenzen mit den Oberhäuptern der Regionen und anderen hochrangigen Beamten ab, spricht von der Notwendigkeit „außerordentlicher Maßnahmen“ und ordnet die Auszahlung staatlicher Finanzhilfen an.[35]

Russland ist, wie auch der Rest der Welt, mit einer beispiellosen Krise konfrontiert, die effizientes und wohlkoordiniertes staatliches Handeln erfordert. Doch die Effizienz der Verwaltung leidet, wo der Staatsapparat auf totale Loyalität gegenüber dem obersten Führer getrimmt ist. Die bloße Versicherung, dass Putin noch da und die Macht noch in seinen Händen ist, wird in dieser Lage wenig helfen.

Unter den Bedingungen einer Wirtschaftskrise wird sich die Elitenkonkurrenz, die in der russländischen Politik ohnehin eine wichtige Rolle spielt, unweigerlich verschärfen. Werden Sobjanin und Mišustin ihre Position im Machtgefüge festigen? Wie werden die Vertreter der Eliten reagieren, für deren Sicherheit und Wohlergehen Putins ungeteilte Macht die Voraussetzung ist? Kann sich aus der „unfreiwilligen Reföderalisierung“ eine politische Regionalisierung entwickeln?

Werden neue Machtzentren entstehen, und wenn ja, welche Mittel ist Putin bereit einzusetzen, um sich als Herr des Landes zu behaupten? Kann er auf seine frühere Position des alternativlosen Staatschefs und obersten Vermittlers zurückkehren, von der ihn das Virus verdrängt hat? Eins steht fest: Der Umbau der Verfassung und der Clou, Putins Amtszeiten auf null zu setzen, sind in den Hintergrund gerückt. Bereits heute gelten sie nicht mehr als Ereignisse von Gewicht.

Manuskript abgeschlossen am 15.4.2020

Aus dem Russischen von Christiane Körner, Frankfurt/Main

 


[1]   Zloj duch konstitucii. Popravki v Osnovnoj zakon prevraščajut Rossiju v diktaturu. Ob”jasnjaet jurist Il’ja Šablinskij. Novaja gazeta, 16.3.2020.

[2]   Elena Luk’janova: „Konstitucionnyj perevorot“ kak reforma razvala Rossii. Idel.Realii, 28.1.2020, <www.idelreal.org/a/30394848.html>

[3]   O popravke k Konstitucii Rossijskoj Federacii, 15.3.2010, <http://duma.gov.ru/news/48045>.

[4]   Beim „Schutz der historischen Wahrheit“ geht es um den Versuch, die offizielle heroische Geschichtsschreibung insbesondere des Großen Vaterländischen Krieges zu kanonisieren und kritische Diskussionen etwa über den Hitler-Stalin-Pakt zu erschweren – Anm. d. Red.

[5]   Zov predkov: rol’ Valentiny Tereškovoj v drame rossijskoj vlasti. Vlast’, 12.3.2020.

[6]   V Moskve prochodjat pikety protiv popravok k konstitucii. Novaja Gazeta, 15.3.2020.

[7]   Obščerossijskoe golosovanie po popravkam v Konstituciju. 27.3.2020, <www.levada.ru/ 2020/03/27/obshherossijskoe-golosovanie-po-popravkam-v-konstitutsiyu/>.

[8]   RBK: v Kremle prinjali rešenie perenesti parad 9 Maja. Ria.ru 15.4.2020. – Zu den Märschen siehe Julie Fedor: Russlands „Unsterbliches Regiment“. Der Staat, die Gesellschaft und die Mobilisierung der Toten, in: Osteuropa, 5/2017, S. 61–85.

[9]   Obraščenie k graždanam Rossii, 25.3.2020, <http://kremlin.ru/events/president/news/63061>.

[10] Zu Ungarn siehe den Beitrag von Daniel Hegedüs in dieser Ausgabe, S. 3348. Zu Belarus den Beitrag von Astrid Sahm, S. 99‒110.

[11] Zur ökomischen Ungleichheit in Russlands Regionen: <www.znak.com/2020-02-03/moskve _vse_regionam_ostatki_kak_sverhcentralizaciya_meshaet_rossii_lekciya_natali_zubarevich>

[12] Gotovo li rossijskoe zdravoochranenie k bor’be s koronavirusom. Vedomosti, 9.4.2020.

[13] Pacient s toboj razgovarivaet, a legkich u nego uže net. pravmir.ru, 7.4.2020.

[14] Sergej Sobjanin: My nachodimsja u podnožija pika koronavirusa. Ria Novosti, 10.4.2020.

[15] Rossija zakryla granicu na Dal’nem Vostoke iz-za kitajskogo koronavirusa. BBC Russkaja služba, 30.1.2020, <www.bbc.com/russian/news-51307777>.

[16] Rasporjaženie ot 27 marta 2020g. Nr. 763r, <http://static.government.ru/media/files/uPySA qzA9AV39jD1h71za3OR9esIxlDj.pdf>.

[17] Lukašenko nedovolen zakrytiem rossijskoj granicy. regnum.ru, 16.3.2020.

[18] Mišustin soobščil, čto 35 tys. rossijan zajavili o gotovnosti vernut’sja iz-za rubeža. tass.ru, 8.4.2020.

[19] Koronavirus zaper migrantov v Rossii. kommersant.ru, 17.3.2020.

[20] My vse na ulice. Čto slučilos’ s migrantami v stoličnom aeropartu>, RIA Novosti 31.3.2020.

[21] Sobjanin zajavil o nevozmožnosti ostanovit’ strojku v Moskve iz-za pandemii, 8.4.2020, <www.rbc.ru/rbcfreenews/5e8de8469a794731883765c8>.

[22] Mišustin zapretil zakryvat’ granicy meždu regionami Rossii, 6.4.2020, <www.svoboda.org/a/30534194.html>.

[23] Kadyrov otkazalsja otkryt’ granicy Čečni dlja žitelej drugich regionov. Vedomosti, 6.4.2020.

[24] Nach einer Umfrage der Vysšaja škola ėkonomiki von Anfang April geht etwa die Hälfte von Russlands Bevölkerung davon aus, dass die offiziellen Angaben zur Zahl der Infizierten und Verstorbenen zu niedrig sind, siehe: Virus viden nevooružennym glazom, in: Kommersant”, 8.4.2020, <www.kommersant.ru/doc/4316579>.

[25] Am 1. April 2020 unterzeichnete Putin einen Erlass zur strafrechtlichen Verantwortung bei Verstößen gegen Quarantänebestimmungen. Putin podnisal zakon ob ugolovnoj otvetstvennosti za narušenie karantina, 1.4.2020,  <www.rbc.ru/rbcfreenews/5e84c8779a79478649d4f041?from=newsfeed>.

[26] „Samoizoljacija – izbeganie vlastjami otvetstvennosti. A kogda vvel ČP, ty vzjal otvetstvennost’ na sebja“. Počemu prikazy sidet’ doma nezakonny. Nastojaščee vremja, 31.3.2020, <www.currenttime.tv/a/coronavirus-sidite-doma-samoizolyatsia/30519368.html>.

[27] Obraščenie k graždanam Rossii, 2.4.2020, <http://kremlin.ru/events/president/news/63133>.

[28] Ėkonomika bez raboty i bez podderžki, „Bol’šoj brat“ v Moskve i novaja sdelka s OPEK. The Bell, 3.4.2020.

[29] Soveščanie s členami Pravitel’stva, 15.4.2020, <http://kremlin.ru/events/president/news/63204>.

[30] Pomožet li antikrizisnaja programma Putina vyžit’ rossijskoj ėkonomike. RBK, 25.3.2020, <www.rbc.ru/economics/25/03/2020/5e7b74039a794702166bdda0>.

[31] Sobjanin ob”javil o subsidijach po kreditam vsemu malomu i srednemu biznesu. The Bell, 15.4.2010.

[32] Siluanov: tučnye vremena v rossijskoj ekonomike prošli. Kommersant.ru, 6.4.2020.

[33]  Einschließlich der annektierten Krim und der zum eigenen Föderationssubjekt erhobenen Stadt Sevastopol’ auf der Krim.

[34] Gubernator Kamčatki ušel v otstavku posle kritiki iz-za koronavirusa, 3.4.2020, <www.rbc.ru/politics/03/04/2020/5e85ff8f9a79470b2baaab45>.

[35] Putin zajavil o neobchodimosti ėkstraordinarnych mer v bor’be s pandemiej. RBK, 14.4.2020, <www.rbc.ru/rbcfreenews/5e9595789a79472f9a7a21c8>.

 

 

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