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EditorialAbstract in English
(Osteuropa 8-10/2024, S. 56)
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Zentralasien ist wieder Drehkreuz. Die Großmächte ringen um Rohstoffe, Routen und Rückendeckung. Ein altbekanntes Bild, Stichwort Great Game. Neu erscheint, dass die Staaten der Region Einfluss auf dieses Ringen und auf ihre eigenen Geschicke haben. Doch so neu ist dies nicht, es ist nur unübersehbar geworden. Kasachstan und Usbekistan sind riesige Flächenstaaten mit großen Bevölkerungen. Die politischen Führungen verstehen es, sich den globalen Wettbewerb zwischen China, Russland und dem Westen zunutze zu machen, der sich seit Moskaus Überfall auf die Ukraine massiv verschärft hat. Dies trifft, wenngleich in geringerem Maße, auch auf die kleinen und armen Bergstaaten Kirgistan und Tadschikistan zu. Und es gilt ebenso für den Wüstenstaat Turkmenistan, der sehr vorsichtig von der Politik der Abschottung abrückt, die er fast 30 Jahre lang betrieben hatte.
Ein wesentlicher Faktor ist die Kooperation zwischen den fünf Staaten. Nachdem diese 1991 aus der Konkursmasse der Sowjetunion hervorgegangen waren, prägten Grenzkonflikte, Konkurrenz um die Ressource Wasser sowie das Misstrauen zwischen autoritären, aber schwachen Führungen die Region. Dies machte es insbesondere Russland leicht, Astana (KZ), Taschkent (UZ), Bischkek (KG), Duschanbe (TJ) und Aşgabat (TM) gegeneinander auszuspielen. Seit dem Machttransfer an der Spitze der usbekischen Führung von Islom Karimov zu Shavkat Mirziyoyev im Jahr 2016 hat sich einiges verändert. Eine neue Dynamik prägt die Region. Doch vor allzu großem Optimismus sei gewarnt.
Die Regime stützen sich in allen fünf Staaten auf Gewalt, Unterdrückung und Kontrolle, die Konflikte sind nicht verschwunden. In Kirgistan, wo in den 2010er Jahren ein gewisser politischer Pluralismus geherrscht hatte, gelangte im Oktober 2020 im Zuge eines Volksaufstands gegen korrupte Eliten der Volkstribun Sadyr Dschaparow an die Macht. In Kasachstan versucht die politische Führung unter Präsident Qasym-Jomart Toqaev, innergesellschaftliche Konflikte durch eine autoritäre Konsenspolitik einzudämmen. Statt auf politische Freiheiten setzt er auf soziale Zugeständnisse. Was geschieht, wenn das Regime herausgefordert wird, zeigte sich im Januar 2022. Als lokale Proteste im abgelegenen Westen des Landes auf das Finanz- und Wirtschaftszentrum Almaty übersprangen, rief die Staatsführung Truppen der von Russland dominierten Organisation des Vertrags über Kollektive Sicherheit ins Land, die gemeinsam mit den nationalen Ordnungskräften die Unruhen niederschlugen.
In Tadschikistan unterdrückt das seit 30 Jahren amtierende Regime von Machthaber Emomali Rahmon seit dem Frühjahr 2022 rigoros die Mehrheitsbevölkerung im Autonomen Gebiet Berg-Badachschan. Nach dem Bürgerkrieg der 1990er Jahre hatten sich die ismaelitischen Pamiri in der abgelegenen und unterentwickelten Bergregion an der Grenze zu Afghanistan trotz zahlreicher Konflikte mit der Regierung Eigenständigkeit bewahren können. Im Grenzkonflikt mit Kirgistan führte das offensive Vorgehen Duschanbes in den Jahren 2021 und 2022 zu schweren Kämpfen.
In Usbekistan ging das Regime im Juli 2022 ebenfalls mit großer Gewalt gegen Demonstrationen in der Hauptstadt der Autonomen Republik Karakalpakstan vor. Brisanter für die Staatsführung ist der gesellschaftliche Druck islamischer und islamistischer Bewegungen. Das Regime hat die islamische Tradition des Landes zu einem Pfeiler der Staatsideologie gemacht und versucht, seine Herrschaft durch strenge Überwachung religiöser Institutionen zu zementieren. Doch eine Wiederholung des Szenarios von 2005, als die Regierung im Fergana-Tal nach Protesten zunächst die Kontrolle verlor und die Einsatzkräfte in Andischan ein Massaker anrichteten, ist keineswegs ausgeschlossen.
Man kann es als Zeichen der Schwäche Russlands deuten, dass im Jahr 2022 in drei der fünf Staaten Proteste und Unruhen ausbrachen und in einem langjährigen zwischenstaatlichen Grenzkonflikt schwere Waffen eingesetzt wurden. Doch die Vorgänge werfen ein grelles Licht auf die Machtverteilung in Extremsituationen: Die Führungen insbesondere Kasachstans und Usbekistans mögen durch die Erweiterung ihrer Kontakte mit der EU bei bilateralen und multilateralen Treffen (ZA5+EU, ZA5 +Deutschland) ihren Spielraum gegenüber Moskau ausweiten. Insbesondere Astana betont die Bedeutung einer „multivektoralen“ Außenpolitik und knüpft Kontakte in alle Richtungen. Nicht nur mit China, dem ökonomisch bedeutendsten externen Staat in der Region, sind die Beziehungen enger geworden. Auch die Türkei und in einer Achse mit ihr in jüngster Zeit auch Aserbaidschan sind zu Partnern geworden. Doch Russland bleibt der zentrale Gewaltakteur. Werden die Regime herausgefordert, schickt Moskau Soldaten, liefert im Rahmen der Geheimdienstkooperation gesuchte Personen aus und gibt symbolische Rückendeckung.
Eine ganz besondere Beziehung zwischen den zentralasiatischen Staaten und Russland ist entstanden, seit die westlichen Staaten wegen des Überfalls auf die Ukraine massive Sanktionen gegen den Aggressor verhängt haben. Russland braucht die Güter, die nicht mehr auf direktem Weg ins Land gelangen, nicht zuletzt für die Rüstungsindustrie. Der Weg über die zentralasiatischen Staaten hat sich als eine der Routen etabliert, über die die begehrten Waren nach Russland gelangen. Dies hat mit Geographie und Infrastruktur zu tun, sehr viel aber auch damit, dass die Gesellschaften weiter eng verflochten sind. Bei allem Bedeutungszuwachs, den die Nationalsprachen der fünf Staaten erfahren haben, das Russische ist weiter die lingua franca der internationalen Kommunikation und für den Bildungsaufstieg essentiell.
Ein genauer Blick auf die für die Staaten Zentralasiens so wichtige Energiewirtschaft ist ernüchternd. Der Export von Öl und Gas ist für Kasachstan und Turkmenistan von zentraler Bedeutung und daran wird sich mittelfristig nichts ändern. Deutschland fördert den Umstieg auf erneuerbare Energien – und will doch selbst mehr Öl aus Kasachstan importieren. Auch die Kohle wird für die Binnenversorgung mit Strom und Wärme noch lange eine wichtige Rolle spielen, außer in Turkmenistan, wo Erdgas fast der alleinige Energieträger ist. Energiesicherheit ist für alle fünf Staaten ein zentrales Thema. Auf dem Weg dorthin werden gewiss einige von ihnen schon in näherer Zukunft die Nutzung erneuerbarer Energien ausbauen. Am größten ist die Dynamik in Kasachstan. Doch dort hat sich die politische Führung gerade in einem Referendum bescheinigen lassen, dass die Mehrheit der Bevölkerung ihrem Kurs folgt und den Bau eines Atomkraftwerks befürwortet. Ob Rosatom es errichten wird oder ein internationales Konsortium, wie Präsident Toqaev es sich wünscht, ist offen. Fest steht, dass dieses Vorhaben ebenso wie verschiedene Pipelineprojekte für Öl und Gas Aufmerksamkeit und Ressourcen binden. Die Produktion von Grünem Wasserstoff für den Export in die EU konnte bislang kaum Fuß fassen.
Diese Momentaufnahme am Ende des ersten Viertels des 21. Jahrhunderts bedarf einer Ergänzung durch einen Blick auf die langen Linien. Wir eröffnen ihn durch den Wiederabdruck einer großen Synthese, die der 2021 verstorbene Islamwissenschaftler, Turkologe, Arabist, Iranist, Slawist und Völkerkundler Bert Fragner im Jahr 2007 für den ersten großen Zentralasien-Band von Osteuropa verfasst hat. Doch ganz gleich, ob man auf die Strukturveränderungen über die Jahrhunderte oder die jüngsten Ereignisse schaut, fest steht: Politik und Gesellschaft in Zentralasien sind im Fluss.
Berlin, im November 2024 Manfred Sapper, Volker Weichsel