Titelbild Osteuropa 6-7/2024

Aus Osteuropa 6-7/2024

Fabrizierte Feinde

Editorial

(Osteuropa 6-7/2024, S. 3–4)

Volltext

Seit Ende Juli 2024 gilt die Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde in Russland als „extremistische Organisation“. Dieses Verdikt trifft auch Osteuropa. Der DGO wird vorgeworfen, Teil einer „Antirussländischen separatistischen Bewegung“ zu sein, die das Ziel habe, „die multinationale Einheit und territoriale Unversehrtheit Russlands zu zerstören“. Auf Antrag des russländischen Justizministeriums vom 17. April 2024 nahm das Oberste Gericht am 7. Juni 2024 diese Einstufung vor. Am 25. Juli 2024 veröffentlichte das Justizministerium eine Liste mit 55 Organisationen, die Teil dieser Bewegung seien. In den meisten Fällen handelt es sich um Vereinigungen indigener Völker oder um Verbände von einigen der über 100 Nationen und Nationalitäten. Denn Russland ist bekanntlich ein Vielvölkerstaat. Einige dieser indigenen Völker sind so klein, dass die Vorstellung, sie könnten separatistische Bestrebungen hegen, aberwitzig ist.

Dass die DGO auf dieser Liste gelandet ist, dürfte mit dem Osteuropa-Band „Bodenprobe“ zu tun haben, der die Frage behandelt, welche Rückwirkungen Russlands Krieg gegen die Ukraine auf die Kohäsion der Föderation hat. Denn diese könnte dadurch schwächer werden, dass Baschkiren und Burjaten, Tschuwaschen und Tschetschenen in einem großrussisch motivierten revisionistischen Krieg an der fernen Front im Donbass fallen, in Zinksärgen nach Hause gebracht werden und die Hinterbliebenen den Sinn des Todes in einem „fremden Krieg“ hinterfragen. Das Ergebnis des Bandes lautete jedoch: „Die Erwartung, dass der Krieg zu einer Verschärfung der nationalen Gegen-sätze und dies zu einem Zusammenbruch Russlands führt, ist illusorisch. Das Regime hat die nationalen Eliten fest in die Machtvertikale eingebunden – und alle Widerspenstigen ausgeschaltet.“ Separatismus? Eine wissenschaftliche Analyse.

Bis zum 25. Juli 2024 hatte niemand etwas von einer „Antirussländischen separatistischen Bewegung“ gehört. Das ist kein Wunder, denn es gibt sie nicht. Sie ist eine Erfindung, ein Konstrukt. Nach demselben Muster hatte Russlands Justizministerium am 1. März 2024 eine „Internationale gesellschaftliche LGBT-Bewegung“ entdeckt und auf die Extremismus-Liste gesetzt – so als gäbe es eine queere Internationale. Ziel dieser geheimdienstlichen Operation ist die Fabrikation von Feinden.

In einer Zeit, in der der Kreml der eigenen Bevölkerung Tag für Tag einhämmert, dass sich Russland in einem Krieg mit dem „kollektiven Westen“ befinde, und die Propaganda das Land als belagerte Festung darstellt, benötigt das Putin-Regime Feinde wie die Luft zum Atmen. Die Konstruktion von „Feinden“ dient der Konsolidierung des Machtapparats, auf diese Weise werden Repressionsorgane mobilisiert und die interne Konkurrenz unter den Bürokratien der organisierten Gewalt befeuert. „Feinde“ dienen zudem der Agitation und negativen Integration der Gesellschaft. Die Reduktion der Welt auf Freund und Feind ist ein bewährtes Mittel jeder diktatorischen Herrschaft. Es ist kein Zufall, dass sich das Putin-Regime in die Tradition des Stalinismus stellt.

Den Schauprozessen und der Deportation von Millionen Menschen in den Gulag ging die Erfindung von „bürgerlichen Spezialisten“, „Schädlingen“, der „Industriepartei“ sowie „antisowjetischer Organisationen“ voraus, die angeblich im Untergrund agierten, die Grundlagen des kommunistischen Aufbaus durch „Wühlarbeit“ unterminierten und die Wirtschaft schädigten. Die Tschekisten produzierten „Volksfeinde“, setzten die Repressionsmaschine in Gang, die Millionen Menschen ihr Leben kostete, und verbreiteten Terror mit dem Ziel, die Gesellschaft in Angst zu versetzen, zu disziplinieren und zu beherrschen.

Bislang wendet das Regime noch keinen Massenterror an, doch die Putinsche Praxis der Repression ist nichts anderes als ein Rezidiv totaler Herrschaft. Das Regime schafft sich neue Bedingungen für die Willkür der Macht, für die Verschärfung und Rechtfertigung von Repression.

Das Vorgehen gegen die „Antirussländische separatistische Bewegung“ gibt Aufschluss über die Technik geheimdienstlicher Operationen: Der Täter gibt sich selbst als Opfer aus und erhebt einen Gegenvorwurf.  In einer Zeit, in der Russland die nationale Selbstbestimmung, Freiheit und territoriale Integrität der Ukraine zerstört, beklagt das Putin-Regime, es gäbe Kräfte, die versuchten, „die multinationale Einheit und territoriale Unversehrtheit Russlands zu zerstören“; der Täter erfindet Feinde, die er fiktiver Taten beschuldigt; das Regime erweckt den Anschein eines rechtskonformen Vorgehens. Doch von Rechtskonformität kann keine Rede sein. Bis heute wartet die DGO auf eine Verfügung des russländischen Justizministeriums, die über die Einstufung als „extremistische Organisation“ und ihre Begründung unterrichten würde.

Der DGO und Osteuropa könnte diese jüngste Volte aus Russland egal sein. Doch so einfach ist es nicht. Seit 2012 werden Osteuropa-Autoren und Mitarbeiter russländischer NGOs von Russlands Behörden zu „ausländischen Agenten“ erklärt und schikaniert. Ungeachtet dessen setzten diese ihre Zusammenarbeit mit Osteuropa fort, weil sie sich der Wahrheit, der Wissenschafts- und Pressefreiheit verpflichtet fühlten. Am 1. März 2024 wurde die DGO in Russland zur „unerwünschten Organisation“ erklärt. Einige unserer Autorinnen und Autoren stellten daraufhin ihre Zusammenarbeit ein. Die Einstufung der DGO als „extremistische Organisation“ hat eine neue Qualität. Sie kann für manche Leute zu einer existenziellen Gefahr werden. Wer nun mit der DGO und Osteuropa zusammenarbeitet, begeht nach russländischem Recht eine Straftat und kann mit mehrjähriger Haft belegt werden. Gleiches droht all jenen, die sich in der DGO und auf den Seiten von Osteuropa für die wissenschaftliche Analyse von Geschichte und Gegenwart Russlands engagiert und Forschungsprojekte betrieben haben und zum Teil auf jahrzehntelange akademische Kooperation zurückblicken können. Wenn sie nun in Russland einreisen, droht ihnen die Verhaftung wegen Mitgliedschaft in oder Unterstützung einer „extremistischen Organisation“. Es gilt in besonderem Maße, was das Auswärtige Amt seit längerem ganz allgemein festhält: „Von Reisen in die Russländische Föderation wird dringend abgeraten.“

Die „Antirussländische separatistische Bewegung“ ist eine Erfindung. Aber diese Erfindung kann für einzelne Personen reale Konsequenzen haben. Auch das ist ein Ausdruck der Radikalisierung des Putinismus.

Berlin, im August  2024                                  Manfred Sapper, Volker Weichsel