Titelbild Osteuropa 5/2024

Aus Osteuropa 5/2024

Profit, Paranoia, Protest
Georgiens Alptraum

Thomas de Waal

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Abstract in English

Abstract

In Georgien stehen die Zeichen auf Sturm. Die immer autoritärer agierende Regierung und eine breite gesellschaftliche Protestbewegung stehen sich unversöhnlich gegenüber. Das Land scheint in einer konfrontativen politischen Kultur gefangen. Die Regierungspartei produziert in sowjetischer Manier Feindbilder und will die letzten Bastionen unabhängiger Kontrolle schleifen. Die Entwicklung war nicht unausweichlich. Offenbar ist der hinter der Regierungspartei stehende Oligarch Bidzina Ivanishvili in Panik verfallen, weil er sein im Ausland angelegtes Vermögen in Zusammenhang mit westlichen Sanktionen gegen Russland in Gefahr sah. Er will Georgien in eine autoritäre Festung verwandeln, in scheinbarer Äquidistanz zu Russland und der EU. Die Lage ist äußerst gewaltträchtig. Die Wahlen im Herbst 2024 eröffnen eine kleine Chance, die Konfrontation auf der Straße wieder in eine Konkurrenz an den Urnen zu überführen.

(Osteuropa 5/2024, S. 5–13)

Volltext

Georgien befindet sich in einer tiefen Krise. Zu oft wird gesagt, ein Land stünde an einem Scheideweg. Hier trifft es jedoch zu. Die herrschende Partei hat ganz offenbar die Absicht, jegliche Opposition gegen sie zu zerstören und um jeden Preis an der Macht zu bleiben. Eine mobilisierte Bürgerschaft leistet Widerstand. Es steht viel auf dem Spiel und keine der beiden Seiten scheint bereit zu weichen. Die Parlamentswahlen im Oktober könnten ein Ausweg sein, aber sie sind noch weit weg.

Auslöser der Krise ist ein äußerst repressives Gesetz über „Ausländischen Einfluss“ – in einer früheren Version: „Ausländische Agenten“, das die Regierung mit ihrer parlamentarischen Mehrheit in den kommenden Tagen trotz massiver Proteste in Georgien und internationaler Kritik endgültig verabschieden will. Das Gesetz ist ein Drohmittel und es ist bewusst schwammig gehalten. Es kann genutzt werden, um Medien, Menschenrechtsorganisationen und andere kritische Beobachter, die aus dem Ausland unterstützt werden – und dies werden die meisten von ihnen – zur Schließung zu zwingen oder ihre Mitarbeiter in die Emigration zu treiben. Angesichts der Erosion anderer Institutionen und der Schwäche der Oppositionsparteien sind es vor allem diese Organisationen, welche die herrschende Partei noch kontrollieren können.

Das Gesetz ist jedoch nur ein Teil der Geschichte. Der Historiker und Politikwissenschaftler Stephen Jones, der seit 40 Jahren über Georgien schreibt, konstatiert: „Die Regierung führt einen Krieg gegen die Gesellschaft.“ Andere sprechen von einem Staatsstreich, da die Regierung fundamentale Artikel der Verfassung missachtet.

Der Widerstand gegen das Gesetz kommt aus dem ganzen Land. Die Massenproteste in Tbilissi – niemals in den vergangenen 20 Jahren waren so viele Menschen dort auf der Straße – sind überwiegend von jungen Menschen organisiert, die keine andere Regierungsform als die Demokratie gesehen haben.

Elemente einer politischen Kultur

In Georgien wurde seit der Unabhängigkeit des Landes 1992 immer wieder auf dem Rustaveli-Prospekt Politik gemacht. Die schlimmsten Auseinandersetzungen auf der zentralen Straße der Hauptstadt fanden 1992 statt, als Dutzende Menschen ums Leben kamen und das Land anschließend in einem Bürgerkrieg versank. Seitdem wurde Georgien mal mehr, mal weniger demokratisch regiert. Stets gehörten jedoch aufwiegelnde Reden zum politischen Alltag, und es scheint fest in der politischen Kultur verankert, dass sich Wahlsieger irgendwann alle Macht nehmen. Jede Partei ist bislang dieser Verführung erlegen. Edvard Shevardnadze wurde 1995 mit großer Mehrheit zum Präsidenten gewählt, ebenso Mikheil Saakashvili im Jahr 2003. Mit der Zeit agierten sie immer abgehobener und manipulativer, so dass sie die politische Unterstützung verloren. Beide gaben ihre Ämter allerdings ohne Widerstand auf, in der friedlichen Rosenrevolution von 2003 und nach den Wahlen von 2012.

Der Georgische Traum hat denselben Weg durchlaufen. Die Partei kam auf einer Welle der Euphorie an die Regierung, seit langem ist jedoch die Enttäuschung groß. Im Jahr 2023 fiel die Zustimmung auf unter 20 Prozent. Die Partei könnte wie ihre Vorgänger nach friedlichen Protesten abgelöst werden. Doch das Regime klammert sich an die Macht. Die Polizei und angeheuerte Schlägertrupps sind in einer Weise auf Demonstranten losgegangen und haben sie eingeschüchtert, wie es Georgien seit vielen Jahren nicht erlebt hat.

Zudem war in den Jahren 2003 und 2012 das Engagement des Westens von erheblicher Bedeutung für die Bereitschaft zu einer friedlichen Machtübergabe. Heute halten führende Politiker des Georgischen Traums zwar am offiziellen Bekenntnis zu einem EU-Beitritt fest. Sie haben der Europäischen Union und den USA jedoch rhetorisch den Krieg erklärt und sie als „Partei des Kriegs“ bezeichnet, die einen Regimewechsel finanzieren würde.

Kann man davon sprechen, dass Russland hinter all dem steckt? Die Demonstranten bezeichnen die umstrittene Rechtsänderung als „Russisches Gesetz“ und erklären, der Georgische Traum wolle das Land wieder in Richtung Russland steuern. Die Lage ist jedoch etwas komplexer. Zweifellos ist das Vorhaben der Regierung von einem Gesetz inspiriert, das in Russland im Jahr 2012 verabschiedet wurde und seitdem Nachahmung in mehreren Staaten von Ungarn bis Kirgistan gefunden hat. Diktiert hat Moskau das georgische Gesetz jedoch nicht.

Es gibt eine Menge böses Blut zwischen Georgien und Russland und das kann keine georgische Regierung ignorieren. Tbilissi hatte nach Russlands Aggression im Jahr 2008 und Moskaus Anerkennung der abtrünnigen Regionen Abchasien und Südossetien die diplomatischen Beziehungen abgebrochen. Russlands Armee hat in den beiden Gebieten bis heute Tausende Soldaten stationiert. In Meinungsumfragen geben nur zehn Prozent der Bevölkerung an, dass sie es gerne sehen würden, wenn Georgien den von Russland dominierten zwischenstaatlichen Institutionen beitritt, mehr als 80 Prozent befürworten einen EU-Beitritt. Jeder georgische Politiker, der offen den Weg nach Europa für beendet erklärt und eine Wiederannäherung an Russland verkündet, begeht politischen Selbstmord.

Für Bidzina Ivanishvili, den Gründer des Georgischen Traums, gilt: Er hat sein Vermögen in den 1990er Jahren in Russland gemacht – aber er hat Russland bereits 2002 verlassen. Anders gesagt: Ivanishvili ist davon geprägt, wie in Russland Politik betrieben und Geschäfte gemacht werden und er hat damit kein Problem. Aber er scheint diese Geschäfte aus sicherem Abstand betreiben zu wollen und macht keine Anstalten, sich von den Russen beherrschen zu lassen. Seine Strategie ist Appeasement, nicht Angliederung. Und jeder seiner weiteren Schritte wird vom Verlauf des Krieges abhängen, den Russland gegen die Ukraine und gegen den Westen führt.

Der herrschenden Partei schwebt eine „Festung Georgien“ vor, die ihr vollkommen untersteht. In geopolitischer Begrifflichkeit bedeutet dies: eine Wirtschaftspartnerschaft mit Russland; gute Beziehungen zu Unternehmen aus Russland, China und der Türkei; ein Status als Steueroase gleich den Britischen Jungferninseln; Bündnisfreiheit kombiniert mit großen Repressionskapazitäten nach dem Vorbild Aserbaidschans oder einiger zentralasiatischer Staaten; Unterstützung durch illiberale Regime in der EU, vor allem aus Ungarn. Dies wird unterlegt mit einer nationalistischen Ideologie, in der es, orchestriert von der Georgischen Orthodoxen Kirche, um „traditionelle georgische Werte“ geht. Und bei alldem soll das Bekenntnis zum in der Verfassung verankerten Ziel einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union aufrechterhalten werden.

Entscheidend an diesem Mix sind die wirtschaftlichen Aspekte. Vor einer Weile konnte man noch von einer georgischen Regierung und einer Regierungspartei sprechen. Heute muss man konstatieren, dass eine kleine Wirtschaftselite um Ivanishvili den Staat zu ihrem Eigentum gemacht hat.

Das Regime des Georgischen Traums ist eines der bizarrsten im gesamten postsowjetischen Raum. Der Name der Partei geht auf einen Rap-Song zurück, den Ivanishvilis Sohn Bera geschrieben hat. Die Partei gewann im Jahr 2012 die Wahlen an der Spitze einer breiten Koalition, der einige der progressivsten Politiker Georgiens angehörten. Sie unterstützten den exzentrischen Ivanishvili, weil sie in ihm eine Art Rammbock sahen, der als einziger mit seinem Kapital in der Lage sein könnte, die Herrschaft des immer autoritärer regierenden Saakashvili zu beenden.

Sie konnten nicht ignorieren, dass Ivanishvili sein auf sechs Milliarden Dollar geschätztes Vermögen in den 1990er Jahren in Russland in einem der besonders zwielichtigen Sektoren der postsowjetischen Umverteilung gemacht hatte – der Privatisierung der sibirischen Aluminiumindustrie. Aber Ivanishvili führte die Wörter Europa und Demokratie im Munde und hatte versprochen, sich aus der Politik zurückzuziehen – was er nach einem Jahr als Ministerpräsident dann 2013 auch vordergründig tat.

Die von 2012–2016 amtierende Regierung war erfolgreich wie kaum eine andere in Georgien seit 1991. Sie setzte sich vom Kurs Saakashvilis ab, der stets mehr an Washington als an Brüssel interessiert gewesen war und von einem „Singapur im Kaukasus“ gesprochen hatte. Stattdessen knüpfte sie engere Beziehungen zur EU, mit der Georgien 2014 ein Assoziationsabkommen abschloss. 2018 wurde in der Verfassung der Satz verankert, dass „alle Verfassungsorgane alle ihnen im Rahmen ihrer Kompetenzen zur Verfügung stehenden Mittel nutzen sollen, um eine vollständige Integration Georgiens in die Europäische Union und die Organisation des Nordatlantikvertrags zu gewährleisten“.

Doch nach den anscheinend ehernen Gesetzen der georgischen Politik zogen Wolken am Traumhimmel auf. Mit der breiten Koalition war es vorbei. Als Ivanishvilis Partei im Jahr 2020 zum dritten Mal in Folge die Wahlen gewann, gab es bereits Alarmzeichen. Gleichwohl ist es atemberaubend, welchen Abstieg die Partei in so kurzer Zeit hingelegt hat, so dass sie heute für einen illiberalen Autoritarismus steht.

Die zentralen Posten in der Regierung sind mittlerweile alle von Männern besetzt, die persönlich mit Ivanishvili verbunden sind oder von ihm finanziell unterstützt wurden. Innenminister Vakhtang Gomelauri führte einst Ivanishvilis Leibwache an. Der Parteichef und bis vor kurzem amtierende Innenminister Irakli Garibashvili hatte vor seinem Wechsel in die Regierung einzig und alleine für Unternehmen und Stiftungen aus dem Hause Ivanishvili gearbeitet.

Der Georgische Traum ist mittlerweile auch Mitglied bei einem informellen Zusammenschluss, den man als Illiberale Internationale bezeichnen kann. Im Mai 2023 kündigte die Partei abrupt das Assoziationsabkommen mit der Sozialdemokratischen Partei Europas. Garibashvili reiste zum Conserative-Political-Action-Congress (CPAC) nach Ungarn und zeigte sich dort mit Le Pen-Anhängern und US-amerikanischen Republikanern vom Trumpflügel. Garibashvilis Nachfolger im Amt des georgischen Ministerpräsidenten Irakli Kobakhidze tat es ihm nach und begab sich im April 2024 auf die gleiche Pilgerreise nach Budapest.

Der Gastgeber des CPAC Viktor Orbán, der im Oktober 2023 in Georgien war, ist eine besondere Inspirationsquelle. Orbáneske Worthülsen wie „Familienwerte“ führen nun auch die Politiker des Georgischen Traums im Munde. Der Kampfbegriff „LGBT-Propaganda“ soll in einem Gesetz verankert werden. Und natürlich darf die „Globalisierungsideologie“ nicht fehlen, verkörpert von George Soros im Besonderen und von dem Westen im Allgemeinen, die sich in innere Angelegenheiten einmischen würden.

Die „Antiglobalisierungs“-Position ist auch in Georgien mit einer offen vertretenen Zuschauerhaltung in Sachen Krieg in der Ukraine verknüpft. Die Botschaft lautet: Der Georgische Traum ist für „Frieden“, während die westlichen Führer – selbst wenn sie anderes behaupten – mit der georgischen Opposition verbunden seien und Georgien zur Eröffnung einer zweiten Front gegen Russland drängen wollten.

Diese georgischen Politiker übernehmen auch die Rede vom „Kampf für die Souveränität“. Diese sei von der Hegemonie des Westens bedroht, der je nach Publikum als „woke“, „links“ und „sozialistisch“ oder als „neoliberal“ bezeichnet wird. Am 29. April hielt der sonst eher selten in der Öffentlichkeit auftretende Ivanishvili eine von Verschwörungsideologemen strotzende Rede. Eine „globale Kriegspartei“ plane mit Hilfe von NGOs einen Umsturz in Georgien. Ministerpräsident Kobakhidze erklärte vor dem gleichen Publikum: „Die Beispiele Afghanistan und Ukraine haben einmal mehr gezeigt, dass der einzige dauerhafte Freund eines Staates seine Souveränität ist.“

Es klingt ungemein sowjetisch. Überall werden Feinde gewittert. Als seien die 1930er Jahre zurück, fanden einige von jenen, die sich für ein europäisches Georgien engagieren, vor ihren Wohnungen Plakate, auf denen sie als „ausländische Agenten“ und „Heimatverräter“ beschimpft wurden.

Aus der Sowjetzeit kommt auch das Geschichtsbild von der georgischen Nation als eine Festung der Zivilisation, die von Feinden belagert und von Verrätern unterhöhlt wird. Es war der Georgier Iosif Stalin, der diesen Diskurs installiert hat. Stalin persönlich fungierte als Herausgeber des von Nikoloz Berdzenishvili und Simon Janashia verfassten Lehrbuchs zur Geschichte Georgiens von den ältesten Zeiten bis zum 19. Jahrhundert, das 1943 veröffentlicht wurde und als Grundlage für alle sowjetischen Schulbücher diente. Auf diesen beruhen bis heute viele an georgischen Schulen eingesetzte Lehrwerke für das Fach Geschichte. Entsprechend sind auch sie geprägt von einer Sprache und vom Thema des Kampfs (georgisch: brdzola). Es geht um das Ringen der georgischen Stämme um Unabhängigkeit, Vereinigung und Wiedervereinigung.

Viele georgische Politiker haben bis heute dieses Geschichtsbild internalisiert. Und selbst einige Demonstranten, die auf dem Rustaveli-Prospekt europäische und georgische Fahnen schwenken, sind nicht immun dagegen und warten etwa mit nationalistischen Parolen in Sachen Abchasien und Südossetien auf.

Aber besonders verbreitet ist dieses Weltbild bei Politikern des Georgischen Traums. Was offenbar in ihrem Kopf passiert, lässt sich nur mit einem Wort beschreiben: Paranoia. Die heutige Konfrontation war nicht unausweichlich. Noch Ende März war die Regierung zwar unbeliebt, aber es regte sich kein ernsthafter Widerstand gegen sie. Das sportbegeisterte Land badete in dem Erfolg der Nationalmannschaft, die sich erstmals und überhaupt als erstes Team aus dem Südkaukasus für die Fußball-Europameisterschaft qualifiziert hat. Der Georgische Traum hätte darauf setzen können, dass die Partei die Wahlen im Oktober erneut für sich entscheidet, indem sie den Wählern eine positive Geschichte erzählt: Wir haben dafür gesorgt, dass die EU Georgien zum Beitrittskandidat erklärt hat, wirtschaftlich läuft es gut, und wir haben das Land aus dem Ukrainekrieg herausgehalten.

Es gibt eine nicht klar umrissene, aber ziemlich große Wählerschaft, die für solche Botschaften empfänglich ist. Sie ist vor allem außerhalb von Tbilissi beheimatet, dort erzielt der Georgische Traum traditionell höhere Ergebnisse als in der Hauptstadt. Auch die Fortführung des Handels mit Russland stößt auf Zustimmung. Bei Umfragen erklärt eine klare Mehrheit, dass die Wirtschaftsbeziehungen mit Russland aufrechterhalten oder ausgeweitet werden sollten. Eine starke Minderheit von 36 Prozent bekundete, dass sie sich eine „prowestliche Außenpolitik“ wünschen, dass Georgien dabei aber gute Beziehungen mit Russland bewahren solle.

Stattdessen holte die Regierung ein Gesetz hervor, das sie ein Jahr zuvor nach Protesten hatte fallen lassen, provozierte damit eine Konfrontation und reagierte mit Repression auf den Aufruhr. Was war der Grund?

Ivanishvilis Privatinteressen

Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Paranoia mit Ivanishvilis Privatinteressen zu tun hat und er Georgien aus diesem Grund in die Krise gestürzt hat. Nachdem Ivanishvili Anfang der 2000er Jahre sein Vermögen – oder große Teile davon, hier sind sich die Beobachter nicht einig – aus Russland herausgeschafft hatte, legte er dieses im Jahr 2005 überwiegend bei der Schweizer Bank Crédit Suisse an. Seit vielen Jahren prozessiert er gegen die Bank, da ein betrügerischer Kundenberater ihn um eine hohe Summe gebracht habe. Einen wichtigen Prozess gewann er. Dann kam der Krieg in der Ukraine und die Crédit Suisse fror sein dort angelegtes Vermögen in Höhe von 2,7 Milliarden Britischen Pfund (3,2 Mrd. Euro) faktisch ein. Im Juli 2022 sagte Ivanishvili, er sei überzeugt davon, dass dieser Schritt politisch motiviert sei und mit der georgischen Politik zu tun habe. Mehrere Personen aus dem Umfeld von Ivanishvili behaupteten, die USA hätten die Schweizer Bank zu dieser Entscheidung bewegt, um auf diese Weise die georgische Regierung dazu zu bringen, Georgien zur Kriegspartei zu machen.

Am 13. Mai 2024 flog der stellvertretende US-Außenminister Jim O’Brien nach Tbilissi und traf Ministerpräsident Kobakhidze, Ivanishvili verwehrte ihm ein Treffen. Nach dem Gespräch brachte Kobakhidze bei der Pressekonferenz das Thema Crédit Suisse auf und sprach von „de-facto-Sanktionen“. Er erklärte unverhohlen, Ivanishvili habe sich geweigert, den US-Gesandten und andere ausländische Vertreter zu empfangen, weil diese ihn erpressen würden:

Sobald die Erpressung und die de-facto-Sanktionen beendet werden, können sofort Treffen stattfinden, aber heute ist dies die Haltung von Bidzina Ivanishvili zu dieser Frage. Erpressung und Drohungen haben seit März 2022 ihr Ziel nicht erreicht und auch in Zukunft wird eine solche Erpressung keinen Erfolg haben.

Dies ist nicht alles. Parallel zur Vorbereitung des Gesetzes über ausländischen Einfluss hat die Regierung andere Verordnungen verabschiedet, die Ivanishvilis Vermögen schützen und Georgien resistenter gegen westliche Sanktionen machen. So hat etwa die Nationalbank, deren einst unabhängiger Vorstand im Jahr 2023 ersetzt wurde, ihre Regeln zur Erfüllung von Sanktionen geändert. Es ist nun schwieriger, die Einlagen eines georgischen Staatsbürgers einzufrieren, der internationalen Sanktionen unterliegt. Auch wurde die Verwaltung des 1,8 Milliarden Euro umfassenden Pensionsfonds in die Hände des Ministerpräsidenten gelegt.

In Russland finden sich attraktive Geschäftspartner für dieses Autarkieprojekt. Die westlichen Sanktionen haben bereits dazu geführt, dass alle drei südkaukasischen Staaten zu wichtigen Handelspartnern für Russland geworden sind. Die georgische Regierung hat einen Zuwachs des Außenhandels mit Russland sowie die Wiederaufnahme von Direktflügen zwischen Moskau und Tbilissi ermöglicht und steht im Verdacht, sich an der Umgehung von Sanktionen zu beteiligen. All dies lässt ein anderes der zahlreichen neuen Gesetze als das vielleicht wichtigste erscheinen. Es ermöglicht die Rückführung von Vermögen aus ausländischen Steueroasen nach Georgien. Nicht nur Ivanishvili und andere georgische Oligarchen können nun ihr Geld unversteuert nach Georgien bringen. Das Gesetz ermöglicht auch einen massiven Zustrom von Geld aus Russland nach Georgien.

Es geht nicht nur um Geld aus Russland. Georgien hat im Jahr 2023 ein Partnerschaftsabkommen mit China abgeschlossen, das chinesische Investitionen erleichtern soll. Außerdem sind da die türkischen Unternehmen, die Favoriten beim Ausbau des lukrativen georgischen Wasserkraftsektors sind.

Das „Problem“ ist, dass die Europäisierung, die unter anderem diese türkischen Unternehmen mit vorangetrieben haben, das Geschäftsmodell in Gefahr bringt. Die EU scheint entschlossen, Mittel u.a. in ländliche Regionen zu lenken, die der Georgische Traum bislang in semifeudaler Manier als Lehen und Wählerreservoir betrachtet hat. Darüber hinaus helfen Mittel aus der EU und den USA Nichtregierungsorganisationen, die ein Auge auf die Vorgänge in der georgischen Wirtschaft haben. Unabhängige Medien, Umweltgruppen und alle, die sich dem Kampf gegen die Korruption widmen, wollen Transparenz. Genau an dieser hat die herrschende Klasse kein Interesse. Das „Gesetz über die Transparenz ausländischen Einflusses“ soll genau dies unterbinden und trägt zynischerweise das Wort „Transparenz“ im Namen.

Jede NGO, die mehr als 20 Prozent ihrer Mittel aus dem Ausland erhält – also fast alle in den genannten Bereichen – wird ressourcenfressende Dokumentationen erstellen und übergriffige Inspektionen über sich ergehen lassen müssen. Wer gegen das Gesetz verstößt, hat mit einer Strafe von 25 000 Lari (ca. 7000 Euro) zu rechnen. Die meisten Organisationen können eine solche Summe nicht aufbringen. Eine Änderung, die unter der Hand in der dritten Lesung noch in das Gesetz eingeschmuggelt wurde, macht dieses noch repressiver. Jetzt sollen auch natürliche Personen zur Offenlegung ihrer Daten verpflichtet werden und wegen Verstoßes gegen das Gesetz belangt werden können. Es darf nicht vergessen werden, dass die Anwendung des Gesetzes in der Hand der Sicherheitsapparate liegt. Sie können jede Organisation ins Visier nehmen, aber bevor es so weit ist, werden möglicherweise bereits zahlreiche NGOs wegen des bürokratischen Aufwands von sich aus aufgeben – von Dorfklubs über lokale Vereine, die den Tourismus in abgelegenen Gegenden des Landes fördern bis zum Tierheim für Straßenhunde in Tbilissi. Selbstverständlich stehen georgische Unternehmensstiftungen – darunter natürlich der vom größten georgischen Wohltäter namens Ivanishvili gegründete Cartu Fond – bereit, die Finanzierung jener Organisationen zu übernehmen, die sich der ausländischen Geldgeber entledigen wollen.

Protest

Wenn die Politiker des Georgischen Traums geglaubt hatten, Widerstand würden nur die „üblichen Verdächtigen“ leisten – die städtische Mittelschicht aus Tbilissi und eine Reihe von Gruppen, die man als Anhänger kleiner Oppositionsparteien oder Verbreiter von LGBT-Propaganda stigmatisieren kann – dann haben sie sich verkalkuliert.

Der Protest wird im Kern von jungen Menschen organisiert, die in einem demokratischen Land aufgewachsen sind und die autoritäre Gefahr wittern. Die breite Öffentlichkeit mag das Gesetz jedoch ebenfalls nicht. Eine Umfrage Ende April 2024 – also vor den großen Protestversammlungen – ergab, dass 68 Prozent der Georgier das Gesetz für überflüssig halten. Auch wird nicht nur in Tbilissi demonstriert, sondern in nahezu allen Städten des Landes.

Es steht allerdings zu befürchten, dass das Regime seiner eigenen Propaganda glaubt – oder wer auch immer sie seinen Vertretern ins Ohr flüstert – und zu weiteren Repressionen greift. Die Proteste könnten die Paranoia befeuern. Beweise für eine Verschwörung lassen sich immer finden, etwa in den Stellungnahmen und Beschlüssen europäischer Politiker, die klar Partei ergriffen haben.

Wenn das Regime die Gewalt steigert und zu Massenverhaftungen greift, könnte es zu bewaffnetem Widerstand kommen. Das Gespenst des Bürgerkriegs der 1990er Jahre ist nie ganz aus Georgien verschwunden. Einen friedlichen Ausgang könnten die im Oktober anstehenden Wahlen bringen, die möglicherweise vorgezogen werden. Statt Konfrontation auf der Straße würde ein Wettbewerb an den Urnen stattfinden.

Gegner des Georgischen Traums haben allerdings berechtigte Sorgen, dass die herrschende Partei ihre finanziellen Ressourcen für den Versuch nutzen wird, ausreichend Wähler für einen Wahlsieg zu kaufen. Wahlsieg zu kaufen. Es ist zugleich die Stärke und die Schwäche der Protestbewegung, dass sie mit den bestehenden Parteien praktisch nichts zu tun hat. Gut ist, dass dieses Mal nach einem reinen Verhältniswahlrecht gewählt wird, so dass kleine Parteien eine Chance haben, in das Parlament einzuziehen.

Wahlen genügen jedoch langfristig nicht, um eine stabile Demokratie aufzubauen. Es bedarf einer partizipativeren Politik, die auch Systemprobleme angeht. Gegenwärtig verbleiben viele Menschen in Georgien am Rande der Gesellschaft und nehmen nicht am politischen Leben teil, insbesondere Wähler aus ländlichen Gegenden sowie aus ethnischen Minderheitengruppen.

Doch vorerst geht es darum, dass eine einigermaßen freie und faire Wahl die realistischste Möglichkeit ist, wie Georgien ohne Gewalt aus der Krise kommen kann. Ein solcher Urnengang würde das Blendwerk der Regierungspartei beenden, die behauptet, an der Demokratie festzuhalten, aber das Gegenteil tut.

Aus dem Englischen von Volker Weichsel, Berlin

Thomas de Waal (1966), Senior Fellow bei Carnegie Europe, London
Der Text ist unter dem Titel „Georgian Nightmare“ bei „Engelsberg Ideas“ erschienen. Wir danken für die Genehmigung zur Veröffentlichung einer leicht aktualisierten dt. Fassung.


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