Der schwarze Punkt
Editorial(Osteuropa 11-12/2024, S. 34)
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Georgien kommt nicht zur Ruhe. Seit Wochen halten die Proteste an. Zunächst richteten sie sich gegen die systematische und raffinierte Fälschung der Parlamentswahlen am 26. Oktober 2024, durch die sich die Partei Georgischer Traum die absolute Mehrheit sicherte. Seit der Oppositionsabgeordnete Davit Kirtadze am 16. November 2024 dem Vorsitzenden der Zentralen Wahlkommission Giorgi Kaladarishvili bei der Bekanntgabe des vermeintlichen Wahlergebnisses schwarze Farbe ins Gesicht und auf dessen weißes Hemd spritzte, ist der schwarze Punkt, der das Cover dieser Osteuropa-Ausgabe ziert, zum Symbol der Protestbewegung geworden.
Die Proteste richten sich gegen die Regierung, welche die Demonstranten wegen der Wahlfälschung für illegitim halten; sie richten sich aber auch gegen die Ankündigung von Ministerpräsident Irakli Kobachidse vom 28. November 2024, den EU-Beitrittsprozess des Landes bis 2028 auf Eis zu legen. Die Demonstranten und die Opposition befürchten, dass damit die Westorientierung des Landes gestoppt wird und die zunehmend autoritäre Regierung Georgien in Russlands Orbit führt. Am 14. Dezember 2024 wurde auf Vorschlag des Georgischen Traums Michael Kavelashvili von einer Wahlversammlung aus Parlamentariern und Regionalvertretern zum neuen Präsidenten Georgiens gewählt. Die Oppositionsparteien waren dieser Abstimmung ferngeblieben und fordern gemeinsam mit der bislang amtierenden Präsidentin Salome Surabishvili und der Protestbewegung freie und faire Neuwahlen.
Bei den Wahlen Anfang November in Moldova wurde die Präsidentin Maia Sandu wiedergewählt. Gleichzeitig entschied die Bevölkerung in einem Referendum mit hauchdünner Mehrheit von kaum mehr als 10 000 Stimmen, den EU-Beitritt des Landes zum Verfassungsziel zu erklären. Der knappe Ausgang der beiden Abstimmungen ist Ausdruck der Spaltung des Landes. Diese ist hausgemacht und doch bietet sie ein Einfallstor für Einmischung aus Russland.
In der Ukraine setzt Russland seinen Krieg unverändert fort. Auf dem Boden in der Region Donec’k rückt die Okkupationsarmee – wenn auch unter enormen Verlusten – langsam vor. Am besonders verbrecherischen Charakter des Luftkrieges hat sich nichts geändert: Russlands Armee greift systematisch zivile Infrastruktur an und zerstört Kraftwerke, Fernwärmesysteme, Umspannwerke, Stromleitungen und Wasserwerke. Ziel ist es, die Menschen unter den härteren Lebensbedingungen des Winters mürbe zu machen und den Widerstandswillen der Ukrainer zu brechen. Auch die Kriegsziele des Putin-Regimes haben sich nicht geändert. Zwar verzeichnete die Okkupationsarmee in diesem Herbst die größten Geländegewinne seit langem. Es geht dem Regime aber nicht um das Territorium der vier annektierten Gebiete, sondern um die Zerstörung der Selbstbestimmung und Freiheit der ukrainischen Nation. Und um die Ausschaltung einer demokratischen Alternative vor den Mauern des Kreml.
Moldova, Georgien und die Ukraine sind unterschiedliche Schauplätze ein und desselben Konflikts. Der Konflikt dreht sich um die Frage, wie die politische Ordnung beschaffen sein soll: liberal oder autoritär? Was ist besser für die jeweilige Gesellschaft: eine liberale, pluralistische, rechtsstaatliche oder eine autoritäre, antipluralistische rechtsnihilistische Ordnung? Dieser Konflikt beschäftigt die Gesellschaften in Osteuropa seit der Auflösung der Sowjetunion im Dezember 1991. Mal ist der Konflikt kaum zu registrieren. Wie in der Tektonik nehmen die Spannungen im Untergrund langsam zu, bis sie sich in gesellschaftlichen Krisen wie der Rosenrevolution 2003 in Georgien oder der Orangen Revolution 2004 und dem Euromajdan 2013/2014 in der Ukraine entladen. Das sind die Druckpunkte des Protests. Mal eskalieren die Spannungen wie im Falle von Russlands Einmischung in der Ukraine und führen zum Krieg. Dieser Konflikt um die politische Ordnung hat neben der innergesellschaftlichen und der innenpolitischen auch eine außenpolitische Dimension. Zugespitzt lautet diese: „Brüssel“ oder „Moskau“?
Da ist es kein Wunder, dass ausgerechnet jene politischen Kräfte wie die Autokraten und Populisten von rechts und von links, die mit „Brüssel“ als Symbol der liberalen pluralistischen Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit hadern oder gebrochen haben, die europäische Solidarität mit den Angegriffenen aufkündigen. Als „Friedensmissionar“ gerierte sich der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán bei seinem Kreml-Besuch Anfang Juli 2024. Dass er mit keiner Silbe den einfachsten Weg zum Frieden ansprach, nämlich Putin aufzufordern, die Aggression einzustellen und seine Truppen aus der Ukraine abzuziehen, ist Ausdruck einer besonderen Donau-Diplomatie. Statt dem Frieden nur einen Zentimeter näherzukommen, bot Orbán Putin den Anlass, vor der internationalen Presse unwidersprochen seine Lügen zu wiederholen, dass der Westen einen Krieg gegen Russland führe, Moskau aber nur Frieden wolle.
Der andere führende Donau-Diplomat Robert Fico, seines Zeichens slowakischer Ministerpräsident, machte deutlich, dass es ihm und seinesgleichen, die in die Friedensschalmeien blasen, um Appeasement geht – also um nichts anderes als die Kapitulation der Ukraine. Unter Anspielung auf das Münchner Abkommen von 1938, als England und Frankreich festlegten, dass die Tschechoslowakei das Sudetenland an NS-Deutschland abtreten muss, und sie damit den Weg zur Zerschlagung der Tschechoslowakei freigaben, meinte Fico in einem Radiogespräch Anfang Dezember 2024: „Es wird ein schönes München für die Ukraine werden, Russland wird die Gebiete behalten, die es kontrolliert.“
So honoriert man Angriffskriege. Und so hofiert man Diktatoren. Doch mit Frieden hat das nichts zu tun. Kein schwarzer Punkt, kein Druckpunkt, sondern ein Tiefpunkt.
Berlin, im Dezember 2024 Manfred Sapper, Aurelia Ohlendorf, Felix Eick