Ukraineexpertise
Die Mühe der Ebene
Editorial(Osteuropa 12/2023, S. 35)
Volltext
Seit zehn Jahren führt Russland Krieg gegen die Ukraine. Die Aggression begann mit der Besetzung und Annexion der Krim. Dann entfachte das Putin-Regime Kämpfe in der Ostukraine. Ziel der Intervention war es – und ist es bis heute –, die Selbstbestimmung und Freiheit der Ukrainer zu unterdrücken, die sie auf dem Majdan so machtvoll zum Ausdruck gebracht hatten, den Weg der Ukraine nach Westen zu unterbrechen und Moskaus imperiale, revisionistische Ansprüche auf Hegemonie über die Nachbarn durchzusetzen.
Die deutschsprachige Öffentlichkeit war 2014 überfordert, die Vorgänge in der Ukraine richtig einzuordnen. Meinungsbildende Medien wie das Fernsehen blickten durch die „russische Brille“. Es fehlte an allem: Korrespondenten vor Ort, Hintergrundwissen, unabhängiger Expertise. Die Ukraine war terra incognita. Selbst in Disziplinen wie der Osteuropäischen Geschichte, der Slavistik oder der Politikwissenschaft, die ex officio für Aufklärung und Orientierungswissen über die Ukraine zuständig gewesen wären, herrschte Sprachlosigkeit. Die wenigen profilierten Ukraineexperten wie Andreas Kappeler oder Anna Veronika Wendland fanden kein Gehör. Und einen Ukrainisch-Kurs an einer deutschen Universität musste man mit der Lupe suchen.
Für einige Verantwortliche war dies ein Damaskuserlebnis. Anfang 2015 wurde die Deutsch-Ukrainische Historische Kommission gegründet. An der Universität Basel rief der Osteuropa-Historiker Frithjof Benjamin Schenk das Projekt „Ukrainian Research in Switzerland“ ins Leben. Seitdem bietet URIS jedes Jahr zwei ukrainischen Forschern ein Fellowship, organisiert Workshops und Sprachkurse und verfolgt das Ziel, die Ukraine-Expertise in der Schweiz zu vertiefen. In Berlin wurde 2017 mit Bundesmitteln das „Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien“ (ZOiS) gegründet. Und im Mai 2018 wurde an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder eine Professur für Verflechtungsgeschichte der Ukraine eingerichtet. Dies ist bislang der einzige geschichtswissenschaftliche Lehrstuhl mit einer Ukraine-Denomination in Deutschland. Aber der ukrainische Historiker Andrii Portnov, der auf ihn berufen wurde, musste mit einer halben Stelle vorlieb nehmen.
Zahlreiche Universitäten reagierten auf das anhaltende Interesse an Hintergrundwissen über die Ukraine und Russlands Krieg mit öffentlichen Ringvorlesungen zur Geschichte und Gesellschaft, Kultur und Politik der Ukraine sowie mit Lehrangeboten in verschiedenen Disziplinen. Bei der Neubesetzung von Lehrstühlen spielt zunehmend das Ukraineprofil der Bewerberinnen und Bewerber eine Rolle. So wurden an die Universität Münster die Historikerin Ricarda Vulpius, die Literaturwissenschaftlerin Irina Wutsdorff sowie die Theologin Regina Elsner berufen, die alle über Ukraineexpertise verfügen und in Forschung, Lehre und Wissenstransfer zusammenarbeiten. Das erste Ergebnis ihres Wirkens ist die Gründung von USiM – Ukrainian Studies in Münster. Zwei Fachbereiche haben die Finanzierung eines Lektorats für Ukrainisch übernommen. Doch an einer dauerhaften materiellen und infrastrukturellen Unterfütterung dieses universitären Netzwerkes mangelt es.
An der Viadrina ist das bisherige „Zentrum für interdisziplinäre Polenforschung“ zum „Viadrina Center of Polish and Ukrainian Studies“ geworden. Ende November 2023 wurde es der Öffentlichkeit vorgestellt. Aus Bordmitteln der Universität wurde wenigstens Portnovs halbe Stelle zu einer ganzen aufgewertet. Zusätzliche Mittel für wissenschaftliche Mitarbeiter, Qualifikationsstellen oder internationale Fellows gibt es nicht. Immerhin hat die Viadrina ein unbefristetes Lektorat für Ukrainisch eingerichtet. Das Zentrum ist mehr als ein Versprechen. Denn es liegen bereits einschlägige Arbeiten zur Geschichte und Kultur der Ukraine vor, wie die Beiträge von Stephan Rindlisbacher und Bozhena Kozakevych aus dem Zentrum sowie von Claudia Dathe im vorliegenden Band zeigen, die ebenfalls an der Viadrina tätig ist. Dazu kommen Portnovs programmatische Studien „Polen und Ukraine: Verflochtene Geschichte und geteilte Erinnerungen in Europa“ sowie eine Stadtgeschichte von Dnipro.
Münster und die Viadrina zeigen, dass der Aufbau der Ukraineforschung in kleinen Schritten erfolgt. Historiker und Slavisten schaffen dezentrale Strukturen. Die Bedingungen für das Erlernen des Ukrainischen haben sich erheblich verbessert: Ukrainisch-Lektorate gibt es nun auch in Oldenburg, Gießen, München, Göttingen und Greifswald. In Leipzig und Bochum ist eine solche Stelle nicht entfristet. Potsdam plant, Ukrainisch im Zusammenhang mit Landeskunde zu vermitteln. Doch einen großen Wurf, der zur Institutionalisierung einer interdisziplinären Ukraineforschung nach dem Vorbild der Ukraine-Zentren in Toronto oder an der Harvard-University führen würde, gibt es nicht.
Ein Konzept zum Aufbau eines interdisziplinären Ukraineforschungszentrums in Brandenburg, das 2022 von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Viadrina entwickelt wurde, liegt in der Schublade der Ministerin für Wissenschaft und Forschung, Manja Schüle. Dort liegt es nicht gut. Ob das Land Brandenburg bereit ist, dieses Projekt zu realisieren, darüber herrscht Stillschweigen. Die Reaktion auf eine Anfrage von Osteuropa lautete: „Aufgrund eines Krankheitsfalles dauert die Bearbeitung etwas.“ Aufbruch buchstabiert sich anders.
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) hat zur Förderung der deutsch-ukrainischen Wissenschaftskooperation vier Exzellenzkerne geschaffen und fördert sie mit jeweils 2,5 Millionen Euro. Drei widmen sich der Erforschung von Antiinfektiva, Plasma- und Quantenmaterialien. Der vierte Exzellenzkern ist ab 2024 für vier Jahre am Lehrstuhl für Geschichte Ost- und Südosteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität in München angesiedelt. Unter der Federführung von Martin Schulze Wessel und Jaroslav Hrycak von der Katholischen Universität L’viv werden Phänomene der Gewalt im 20. Jahrhundert untersucht, der Holocaust und der Holodomor, Kriege, Massenerschießungen und Besatzung.
Und der DAAD schrieb im Herbst 2023 die Förderung eines „Zentrums für interdisziplinäre Ukrainestudien“ aus. Mehr als ein halbes Dutzend Universitäten oder universitäre Konsortien haben ihren Hut in den Ring geworfen, darunter eben Münster und die Viadrina sowie Regensburg und Potsdam. Wer den Zuschlag bekommt, erhält aus Mitteln des Auswärtigen Amtes 2,6 Millionen Euro, verteilt auf vier Jahre. In der Ausschreibung hieß es: „Der Krieg in der Ukraine hat verdeutlicht, dass in Deutschland mehr Expertise zum osteuropäischen Raum und speziell zur Ukraine benötigt wird und in der nötigen Breite und Vertiefung aufgebaut werden muss. Ein Wiederaufbau des Landes und eine Heranführung der Ukraine an die EU setzt auch in Deutschland unter anderem eine umfassende Expertise zu Geschichte, Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft voraus.“
Das bedeutet im Umkehrschluss, dass dem Auswärtigen Amt und dem DAAD klar ist, dass es diese „umfassende Expertise“ auch ein Jahrzehnt nach Beginn des Krieges gegen die Ukraine noch immer nicht gibt. Wissen und Handlungskompetenz für die Ukraine sind dringlicher als Expertise z.B. über Spanien. Denn kein anderes Land in Europa steht stärker im Zentrum des geschichtlichen Geschehens als die Ukraine. Und wie der Krieg ausgeht, hat erhebliche Folgen für die gesamte Europäische Union und die NATO. Aus dem Schatten der Aufmerksamkeit ist die Ukraine längst getreten. Die Fernsehsender machen nicht mehr die Fehler von 2014, selbsternannten Experten und Berufsdesinformanten wie dem Ex-Chefredakteur von Russia Today die Talkshowbühne zu bieten, wenn es um die Ukraine geht. Die ARD betreibt ein eigenes Korrespondentenbüro in Kiew. Filme wie „Propagandaschlacht um die Ukraine“, „Selenskyj. Ein Präsident im Krieg“ oder „Blackbox Ukraine“ sowie Dutzende anderer Formate, die nach der linearen Ausstrahlung in den öffentlich-rechtlichen Sendern weiter in den Mediatheken zugänglich sind, haben ein Millionenpublikum erreicht. Serhij Zhadans Kriegsroman Internat verkaufte sich rund 30 000 mal. Zhadan wurde der „Friedenspreis des Deutschen Buchhandels“ verliehen, seinem Kollegen Juri Andruchowytsch der renommierte Heine-Preis. Zur Geschichte der Ukraine sind über ein Dutzend Werke greifbar, alleine Andreas Kappelers Kleine Geschichte der Ukraine ist in der 9. aktualisierten Auflage. Der Zugriff auf die Netzpublikation „Ukraine-Analysen“ explodierte. Hatten sie im Jahr 2020 rund 99 000 Seitenansichten verzeichnet, so waren es im Jahr 2022 rund 1,13 Millionen und im Jahre 2023 noch immer 492 000. Dass die Ukraine ignoriert würde, lässt sich nicht mehr behaupten.
Und doch bleibt der Befund aus der DAAD-Ausschreibung gültig. Gerade in den Bereichen, die momentan für die Ukraine am wichtigsten sind, um ihre Souveränität und Freiheit zu verteidigen, bleibt die deutschsprachige Ukraine-Expertise begrenzt: Wir wissen wenig über die Binnenstruktur der ukrainischen Armee und das Potential des Rüstungssektors, die zivil-militärischen Beziehungen oder über das wichtige Zusammenspiel zwischen formalen politischen Institutionen und informellen Praktiken. Aber auch über soziale Fragen und Sozialpolitik, die mit der Integration der Veteranen, der traumatisierten Kriegsopfer, der Vertriebenen und der Millionen Flüchtlinge vor ungeahnten Herausforderungen steht, wissen wir nichts.
Es ist paradox: Nie zuvor genoss die Ukraine mehr Aufmerksamkeit als heute. Doch ob sie die richtige ist, bleibt offen. Niemals hat die Ukraine eine derartige Unterstützung aus dem Westen erfahren wie seit Beginn des massiven russländischen Angriffskriegs. Doch ob sie ausreichen wird, um die Ukraine zu befähigen, den Angreifer zurückzuschlagen und ihre Unabhängigkeit und Freiheit auf Dauer zu sichern, bleibt ungewiss. Auf den kognitiven Landkarten der Europäer ist die Ukraine unterdessen fest verankert: Sie ist zur terra nota geworden. Und sie ist das Subjekt ihrer Geschichte.
Berlin, im Januar 2024 Manfred Sapper, Volker Weichsel