Titelbild Osteuropa 6-8/2022

Aus Osteuropa 6-8/2022

Quell des Widerstands

Editorial


English translation

(Osteuropa 6-8/2022, S. 5–6)

Volltext

Dürfen wir über ukrainische Literatur sprechen, wenn in der Ukraine Krieg herrscht, wenn Männer und Frauen gegen Russlands Überfall Widerstand leisten und es um Freiheit oder Unfreiheit, um Leben oder Tod geht? Ist es nicht geschmacklos, sich mit dem ukrainischen Film zu beschäftigen, während Forensiker in den Gebieten, die vorübergehend von Putins Soldateska besetzt waren, Massengräber entdecken, sichern und Leichen exhumieren? Buča, Izjum, Olenivka, Balaklija … Die Orte des Grauens brennen sich in die kollektive Erinnerung Europas ein. Mit jedem Monat wird die Kette der Namen länger. Die Beweise für Folter, Vergewaltigung, Erschießung von Zivilisten und andere Kriegsverbrechen sind erdrückend. Verbietet es sich in dieser Lage nicht von selbst, sich den schönen Künsten zu widmen?

Der Kunsthistoriker Wilhelm von Bode prägte zur Zeit des Ersten Weltkriegs das geflügelte Wort „Inter arma silent musae“. Er hatte die Funktion der Künste als universelles Mittel der Verständigung zwischen Nationen im Blick. Darum kann es ukrainischen Schriftstellerinnen, Musikern, Regisseurinnen, Verlegern und Malerinnen nicht gehen angesichts eines Angriffskriegs, der auf die Vernichtung ihrer Nation zielt. Die Künste haben in diesen Zeiten eine andere Funktion. Sie sind Ausdruck der Kultur einer Gemeinschaft in Geschichte und Gegenwart, der geteilten Erinnerung, der lokalen, regionalen oder nationalen Identität sowie der Selbstvergewisserung einer Gesellschaft. Sie sind damit auch eine Quelle, aus der die ukrainische Gesellschaft ihr Selbstverständnis, ihren Selbstbehauptungswillen und Widerstandsgeist schöpft, mit dem sie dem Aggressor Russland entgegentritt.

In diesem Sinne dürfen wir nicht nur, sondern müssen uns sogar der ukrainischen Literatur und Kultur in Zeiten des Krieges widmen. Denn die Kultur ist eine Quelle der Aufklärung über ein Land, das in Deutschland – und nicht nur hier, sondern weltweit – jahrzehntelang ignoriert, vergessen, verdrängt oder als vermeintlicher Bestandteil Russlands übersehen, missverstanden und fehlinterpretiert wurde. Diese Fehlwahrnehmung wurde begünstigt durch die komplizierte Geschichte der Ukraine. Die ukrainischen Regionen hatten einst verschiedenen multinationalen Imperien angehört: dem Russländischen Reich, dem Habsburger Reich, der Rzeczpospolita und dem Osmanischen Reich. Die ukrainische Nationalbewegung kämpfte seit Mitte des 19. Jahrhunderts und damit zur gleichen Zeit wie die italienische oder die deutsche um einen eigenen Staat. Doch im Unterschied zu jenen war die Nationsbildung nicht erfolgreich und wurde insbesondere vom Russländischen Imperium bekämpft und massiv unterdrückt. Selbst Angehörige der liberalen Intelligenz in Russland sprachen den Ukrainern das Recht auf eine eigene Staatsbildung ab. Auf den Trümmern der im Ersten Weltkrieg untergegangenen Imperien schufen Ukrainer sogar zwei Staatswesen. Bei allen ideologischen, politischen und regionalen Differenzen hatten diese Staatsgebilde, die „Ukrainische Volksrepublik“ und die „Westukrainische Volksrepublik“ eines gemeinsam: Sie waren instabil und militärisch zu schwach, um sich gegen bewaffnete Angriffe von außen zu verteidigen. Beide Staaten wurden zerschlagen: von der aus dem Osten kommenden Roten Armee und von der aus dem Westen kommenden Polnischen Armee. Diese doppelte Niederlage war Wasser auf die Mühlen derer, die den Ukrainern die Kraft zur Staatsbildung abgesprochen hatten und sie allenfalls als Objekt der Geschichte wahrnahmen.

Doch tatsächlich sind die Jahre der Staatsbildung der Take-off der ukrainischen kulturellen Autonomie. Dazu trug bei, dass die Bolschewiki diese förderten, um die junge Sowjetunion zu konsolidieren Die 1920er Jahre erlebten so eine Periode atemberaubender Produktivität in der Volkskunst, der Malerei, der Graphik, der Buchgestaltung. Die sowjetische Avantgarde war maßgeblich von ukrainischen Künstlerinnen und Künstlern geprägt. Einen ähnlichen Aufbruch gab es auch in der Musik und vor allem in der Literatur. Die Literaten und Künstler verstanden sich als Repräsentanten einer ukrainischen Nationalkultur.

Diese Blüte war von kurzer Dauer. In der stalinistischen Sowjetunion wurde jede Regung kultureller und sprachlicher Autonomie unterdrückt und verboten. Hunderte Schriftsteller, Poeten und Künstler der „Ukrainischen Wiedergeburt“ wurden erschossen, ihre Werke vernichtet, verboten und jahrzehntelang mit dem Mantel des Schweigens verhüllt. Und die Kommunistische Partei der Sowjetukraine war für diese Zerstörung der ukrainischen nationalen Kultur mitverantwortlich.

Seit der Unabhängigkeit ihres Landes im Dezember 1991 entdeckten die Ukrainerinnen und Ukrainer dieses kulturelle Erbe wieder. Dutzende Verlage entstanden und nahmen sich dieser Autoren und Künstler, Komponisten und Graphiker an. Sie gründeten Buchreihen und publizierten die Werke. Doch sie hatten einen schweren Stand. Der Markt für ukrainischsprachige Bücher war klein, die Kaufkraft gering. Die weite Verbreitung des Russischen in der Ukraine, die Dominanz von Konzernen aus Russland sowie illegale Buchimporte und Piraterie stellten für die ukrainische Verlagsbranche und die Filmindustrie ein erhebliches Problem dar. Das änderte sich mit zwei politischen Ereignissen. Die Orangene Revolution im Jahr 2004 war das Fanal für Widerstand und Selbstbehauptung. Der Euromajdan 2013 und die Annexion der Krim im Frühjahr 2014 waren die Zäsur. Seitdem ist in der Ukraine ein Bewusstseinswandel im Gange. Immer mehr Menschen verstehen die Bedeutung politischer und kultureller Selbstbestimmung. Das beschleunigte die Abwendung von Russland und beförderte den Aufschwung der ukrainischen Kultur. Davon profitierte auch der Buchmarkt. Doch unter den Bedingungen des Krieges ist die Lage schwierig wie nie zuvor.

Das Ziel des revisionistischen, neoimperialen Putin-Regimes ist es, die souveräne Ukraine zu zerstören, ihre Regierung zu stürzen und die Bevölkerung ihrer Freiheit und Selbstbestimmung zu berauben. Selbst unter permanentem Artilleriebeschuss finden in Charkiv oder in Zaporižžja Konzerte statt und werden Bücher gedruckt. Das ist kein Ausdruck von Heroismus oder Todesverachtung. Jeder Ton und jedes Buch ist ein Beitrag zur kulturellen Selbstbehauptung.

 

Berlin, Ende September 2022               Manfred Sapper, Volker Weichsel