Titelbild Osteuropa 4-5/2022

Aus Osteuropa 4-5/2022

Die Auswirkungen der Sanktionen auf Russlands Regionen
Das Beispiel Krasnojarsk

Natal’ja Zubarevič

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Abstract in English

Abstract

Die vom Westen verhängten Sanktionen entfalten ihre volle Wirkung in Krasnojarsk im Sommer. Arbeitsplätze werden wegfallen, die Realeinkommen werden sinken und das Warenangebot wird einen Einbruch erleben, der nicht von der heimischen Wirtschaft aufgefangen werden kann. China profitiert schon jetzt von den Sanktionen. Ein großes Problem stellt die massive Abwanderung von Beschäftigten des IT-Sektors dar. Wir dokumentieren ein Interview mit dem regionalen Fernsehsender TVK.

(Osteuropa 4-5/2022, S. 107–110)

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TVK: Welche wirtschaftlichen Folgen werden die westlichen Sanktionen für eine Großstadt wie Krasnojarsk haben?

Natal’ja Zubarevič: Krasnojarsk muss sich wie alle Millionenstädte Russlands mehr Sorgen machen als kleinere und mittlere Städte. In den Großstädten spielt der Dienstleistungssektor eine große Rolle. Alleine in den vier Bereichen Einzelhandel, Autoservice, Hotellerie und Gaststätten sind in Russland rund 20 Prozent der Bevölkerung beschäftigt. In Krasnojarsk ist der Anteil ein klein wenig geringer wegen des hohen Anteils der Beschäftigten in der Industrie. Im gesamten Dienstleistungssektor wird die Nachfrage zurückgehen. Damit wird auch die Zahl der Arbeitsplätze sinken. Die Realeinkommen der Menschen werden wegen der Inflation definitiv sinken. Daran führt kein Weg vorbei. Vielleicht werden die Renten im Zuge der Preissteigerungen angepasst, aber auf keinen Fall werden sie an das Inflationsniveau gekoppelt, das bei 15–20 Prozent liegen wird. Und auch die Löhne der Angestellten im staatlichen Sektor werden nicht um 15-20 Prozent erhöht werden. Wenn die Menschen weniger Geld im Portemonnaie haben, dann sparen sie zu allererst bei den Dienstleistungen. Daher wird die Zahl der Arbeitsplätze in diesem Sektor stark sinken.

In den Mittelstädten wird das nicht so spürbar sein. Einige Lieferketten werden vielleicht unterbrochen werden, neue werden entstehen. Aber einen massiven Einbruch bei der Lebensmittelversorgung werden sie nicht erleben. Bei allen anderen Waren wird das Angebot massiv zurückgehen.

TVK: Wie sieht es mit der Industrie aus?

Zubarevič: Schauen wir auf die Aluminiumindustrie, auf Rusal.[1] Der Konzern bezieht 20 Prozent des Aluminiumoxids, aus dem Reinaluminium hergestellt wird, aus Australien. Canberra hat jedoch bereits im März den Export von Aluminiumoxid und des zu dessen Herstellung benötigten Bauxits nach Russland verboten.[2] 10–15 Prozent kamen aus dem Bauxit-Werk im ukrainischen Mykolaïv, das jetzt seinen Betrieb eingestellt hat.[3] Nun versucht Rusal, die Vorprodukte für die Aluminiumherstellung in China zu kaufen. Gelingt dies nicht, müssen die Produktion heruntergefahren und Mitarbeiter entlassen werden.

Solche Probleme hat Noril’sk Nikel’ bislang nicht. Im Gegenteil – die Preise für Nickel, Kupfer, Platin und Palladium sind auf dem Weltmarkt in astronomischen Höhen. Sanktionen gibt es hier keine, weil diese Metalle überall auf der Welt gebraucht werden.[4]

Keine Probleme bekommen die geschlossenen Städte. In Zelenogorsk und Železnogorsk sind Rüstungsbetriebe, die laufen.

TVK: Und die Forstwirtschaft?

Zubarevič: Die Forstwirtschaft im Gebiet Krasnojarsk ist ganz auf den Export nach Asien ausgerichtet. China wird den Import von Hölzern aus Russland gewiss nicht einstellen. Was mit den holzverarbeitenden Betrieben in Lesosibirsk werden wird, ist aber unklar. Sie gehören der Segezha Group – und diese ist im Besitz der Investmentgesellschaft Sistema von Vladimir Evtušenkov, der auf der britischen Sanktionsliste steht.[5]

TVK: Wann zeigen sich die Auswirkungen der Sanktionen in vollem Ausmaß?

Zubarevič: Im Sommer werden wir klarer sehen, zwischen dem dritten und dem vierten Quartal. Auf dem Verbrauchermarkt sind sie jetzt schon deutlich zu spüren und werden im Juni zunehmen. Im produzierenden Gewerbe dauert es etwas länger. Jeder hat gewisse Lagerbestände, wieviel genau, weiß niemand. Daher verstehen die Menschen in Russland noch nicht, wo wir gerade reinrasen.

TVK: Und die Importsubstitution? Wird sie gelingen?

Zubarevič: Wie soll das gehen? Es gibt Waren, die wir überhaupt nicht herstellen. Natürlich, es gibt Dinge, die wir produzieren können. Hygieneartikel etwa und Schminkartikel gab es ja auch in der Sowjetunion. Aber es fehlt so vieles und in solchen Mengen. Wir haben in großem Stil importiert. Wir waren einfach Teil des Weltmarkts und haben dort alles gekauft, was besser und billiger war als die heimische Produktion. Einige Produkte werden wieder in Russland hergestellt werden, es gibt ja den Kosmetikhersteller Svoboda. Aber seine Fabrik ist klein, ob das, was dort hergestellt wird, bis nach Krasnojarsk kommt, wird sich zeigen. Man kann natürlich auch ohne auskommen. Man kann auch zurück zur Naturalwirtschaft, dann braucht man gar keine Importe.

TVK: Welche Folgen hat die Massenauswanderung aus Russland? Experten sprechen von vier Millionen Menschen, die das Land seit dem 24. Februar verlassen hätten?

Zubarevič: Die genaue Zahl kennt niemand. Dazu bedürfte es einer genaueren Studie, und die gibt es bislang nicht. Die Menschen bleiben ja Staatsbürger, wenn sie ausreisen. Formal sind sie Touristen. Gerne nennt man es jetzt „relocation“. Manche wollen nur für einige Zeit im Ausland bleiben, das Ende der „Spezialoperation“ abwarten. Andere richten sich darauf ein, länger zu bleiben. Fest steht, dass es einen Exodus aller privaten IT-Unternehmen gibt. Es sind russländische Firmen, aber sie sind fast alle weg. Leute aus den freien Berufen und Journalisten sind in einer Panikwelle ausgereist. Ein Teil von ihnen wird zurückkommen, wenn ihnen das Geld ausgeht. Andere werden mit allen Mitteln versuchen, eine Arbeit zu finden oder in irgendeiner Weise aus dem Ausland in Richtung Russland zu arbeiten. Die weitere Entwicklung ist vollkommen offen. Fest steht nur, dass der IT-Sektor geht. Hier geht es nicht einfach um eine kleine oder große Anzahl von Leuten, es ist das Gehirn des Landes, das da geht.

TVK: Wird China Russland helfen?

Zubarevič: China wird das verkaufen, was es liefern kann, ohne Gefahr zu laufen, unter die Sanktionen zu fallen.[6] Die Frage ist, zu welchem Preis. Die einzige Fabrik in Russland, die Autos einer chinesischen Marke herstellt, das Haval-Werk in Tula, hat die Preise bereits verdoppelt. Ist „helfen“ das richtige Wort, oder „profitabel verkaufen“? China nimmt weiter Rohstoffe aus Russland ab. Aber chinesische Staatsunternehmen, die großen Staatskonzerne, weigern sich auf Empfehlung ihrer Regierung, Öl aus Russland zu kaufen. Sie haben Angst vor Sekundärsanktionen der USA. Daher kaufen jetzt nur noch kleinere Raffinerien in privater Hand Öl aus Russland. Sie hoffen, dass gegen sie keine Sanktionen verhängt werden, weil sie zu klein sind. Nach China und Indien kann also nur mit großen Preisabschlägen verkauft werden, 25–30 Prozent unter dem aktuellen Weltmarktpreis für Öl. Sie kaufen das Öl billig ein und verkaufen es teuer weiter. Ob das unter „China hilft uns“ fällt? China macht ein gutes Geschäft. Mit uns. Das ist die Wahrheit. Außerdem lassen sich aus logistischen Gründen nicht alle zusammengebrochenen Lieferketten in östliche Richtung wieder aufbauen. Es fehlt schlicht an Transportinfrastruktur. Die Transsib-Strecke ist jetzt bereits überlastet. Es dauert Jahre, bis auf dieser Strecke Kapazitäten für mehr Güterverkehr geschaffen sein werden.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin

 


[1]   Der Aluminiumkonzern RUSAL betreibt im Gebiet Krasnojarsk zwei Schmelzhütten: eine in Krasnojarsk sowie die erst Mitte der 2010er Jahre eröffnete Hütte an der Angara, für die das Wasserkraftwerk Bogučansk errichtet wurde. Eine weitere Hütte befindet sich unmittelbar an der Südgrenze des Gebiets Krasnojarsk in Sajanogorsk (Republik Chakassien). Siehe dazu: Stephen Fortescue: Russlands Schmutzhütten. Die Umweltbilanz des Metallurgiesektors, in: Im Fluss. Umweltpolitik in Russland [= Osteuropa, 7–9/2020], S. 149–175.

[2]   Australian alumina ban to disrupt Rusal aluminium output. <www.reuters.com/business/australian-alumina-ban-disrupt-rusal-aluminium-output-woodmac-2022-03-21/>.

[3]   Nach Mykolaïv transportierte RUSAL das in den konzerneigenen Minen in Guinea abgebaute Bauxit, wo dieses zu Aluminiumoxid verarbeitet und anschließend zu den Aluminiumschmelzen nach Russland transportiert wurde.

[4]   Der Besitzer von Noril’sk Nikel’, Vladimir Potanin, ist wegen der Bedeutung der Buntmetalle, die sein Konzern gewinnt, von personenbezogenen Sanktionen ausgenommen und hat daher von Kapitalverschiebungen innerhalb Russlands seit Ende Februar profitiert. Der Oligarch ohne Sanktionen. FAZ, 31.5.2022.

[5]   Evtušenkov versucht allerdings, die Auswirkungen der gegen ihn gerichteten personenbezogenen Sanktionen von der Investmentgesellschaft fernzuhalten und hat Aktien auf seinen Sohn überschrieben, so dass er nun nicht mehr über ein Kontrollpaket verfügt. Russian billionaire Yevtushenkov cedes control of Sistema after UK sanctions. Reuters, 13.4.2022. Die Segezha Group erachtete es für notwendig zu erklären, dass die Sanktionen gegen Evtušenkov keine Auswirkungen auf das Unternehmen hätten. Segezha Group ne sčitaet sebja zatronutoj sankcijami, vvedennymi v otnošenii V.P. Evtušenkov, <https://segezha-group.com/press-center/news/segezha-group-ne-schitaet-sebya-zatronutoy-sanktsiyami-vvedennymi-v-otnoshenii-v-p-evtushenkova/>.

[6]   Die USA verhängen Sekundärsanktionen gegen Unternehmen, die sich nicht an US-Sanktionen halten, auch wenn diese Firmen nicht unter US-Jurisdiktion stehen. Diese Unternehmen verlieren den Marktzugang in den USA. Siehe dazu Carl-Wendelin Neubert: Sanktionen und das Völkerrecht. Entwicklungslinien und aktuelle Problemlagen, in: Sanktionen. Ziele, Kosten, Wirkung [= Osteuropa, 10–12/2021], S. 35–46. – Sascha Lohmann: Vom Schongang zum Schleudergang. Unilaterale US-Sanktionen gegen Russland, ebd., S. 83–104.

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