Titelbild Osteuropa 1-3/2022

Aus Osteuropa 1-3/2022

Tabubruch mit Ansage
Putins Krieg und das Recht

Angelika Nußberger

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Abstract in English

Abstract

In zwei Reden unmittelbar vor dem bewaffneten Angriff auf die Ukraine hat Putin versucht, seinen Krieg zu erklären. Seine historischen und völkerrechtlichen Argumentationsansätze greifen jedoch ins Leere. Dennoch vermochten weder die fast im Konsens erfolgte Verurteilung durch die UN-Vollversammlung noch die einstweiligen Anordnungen verschiedener Gerichte dem völkerrechtswidrigen Angriff Einhalt zu gebieten. Es ist offen, welche Auswirkungen der fundamentale Regelbruch auf die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geschaffene Friedensordnung haben wird.

(Osteuropa 1-3/2022, S. 51–64)

Volltext

Es ist nicht so, dass sich Russlands Präsident Vladimir Putin nicht Mühe gegeben hätte, seinen Krieg zu erklären. Er sprach lang und viel, am 21.2.2022 eine gute Stunde,[1] und dann nochmals am 24.2.2022 unmittelbar vor dem Beginn des bewaffneten Angriffs auf das Nachbarland Ukraine. Letztere Ansprache wurde in Form eines Briefs über den russländischen Botschafter bei den Vereinten Nationen Vasilij Nebenzja an den Sicherheitsrat weitergeleitet;[2] es ist das von Art. 51 UN-Charta für die Geltendmachung des Selbstverteidigungsrechts geforderte Dokument.[3]

Aber so viel Putin auch in diesen Reden gesagt, erklärt und gedroht haben mag – in den Rahmen des geltenden Völkerrechts vermochte er seinen Angriffskrieg nicht zu stellen. Vielmehr bekennt er sich unverhohlen zu der archaischen Idee, dass der Stärkere in der internationalen Politik seine Interessen durchsetzen werde und auch durchsetzen dürfe, dass die Staaten nicht gleich seien und dass Gewalt ein Mittel der Politik sein könne. Damit bricht er mit allen Tabus, die in der über 70-jährigen Geschichte der Vereinten Nationen von allen Staaten der Welt grundsätzlich akzeptiert worden waren. Da dieser Tabubruch nicht theoretisch und abstrakt ist, sondern mit Raketen- und Artilleriebeschuss sowie Bomben auf Kiew, Charkiv, Mariupol’ und viele weitere ukrainische Städte bekräftigt wird, ist die internationale Ordnung in eine neue Phase der Unsicherheit eingetreten. Ein derart fundamentaler Regelbruch kann dazu führen, eine bisher allgemein akzeptierte, die historischen Kräfteverhältnisse nach dem Zweiten Weltkrieg abbildende Ordnung zu zerstören, dies vor allem mit Blick darauf, dass einer der Staaten, der als Garant für diese Ordnung eingesetzt wurde, den Regelbruch selbst zu verantworten hat. Möglich ist aber auch, dass der Regelbruch dazu führt, dass alle Widerstandskräfte mobilisiert werden. In der Folge könnte die bedrohte Ordnung bestätigt und gestärkt, vielleicht sogar verbessert werden, etwa durch eine Einschränkung des Vetorechts. Wie diese Frage zu beantworten ist, ist zum Zeitpunkt des fortdauernden bewaffneten Angriffs, dem noch kein Gegenmittel Einhalt zu gebieten vermochte, offen. Entscheidend aber ist, den Regelbruch in Tiefe und Umfang genau zu bestimmen, um jedweder Relativierung entgegenzuwirken.

In den Reden Putins mischen sich historische und völkerrechtliche Narrative; beide greifen auf vieldeutige Weise ineinander. Im Folgenden gilt es, in einem ersten Schritt zu klären, gegen wen sich der Krieg überhaupt richtet – gegen ein Land, ein Bündnis oder ein Freiheitsverständnis. Sodann ist auf Putins widersprüchliches Verhältnis zum Völkerrecht einzugehen, da er es nicht als ein in sich schlüssiges System ansieht, sondern daraus allenfalls Versatzstücke für seine Kriegsreden gewinnt und bei anderen als Unrecht brandmarkt, was er zur Leitlinie des eigenen Tuns macht und damit für rechtens erklärt. Schließlich sind seine beiden zentralen Rechtfertigungsversuche zu analysieren, zum einen der gegen die Ukraine gerichtete Genozidvorwurf, zum anderen das kollektive bzw. individuelle Selbstverteidigungsrecht; die auf ein „nachholendes Selbstbestimmungsrecht“ aufbauende Argumentation ist dagegen allenfalls eine Randnote.

Kriegserklärung gegen ein Land, ein Bündnis und ein Freiheitsverständnis

Konfrontation zwischen Russland und der Ukraine

„Aber Russland kann sich nicht sicher fühlen, es kann sich nicht entwickeln, nicht leben mit der ständigen Bedrohung, die heute von der Ukraine ausgeht.“[4] Mit diesem unglaublichen Satz, der sich in dem offiziellen, an den Sicherheitsrat geschickten Dokument findet, begründet Putin, dass seine Raketen auf das Nachbarland Ukraine gerichtet sind, dass er in der Ukraine seinen unmittelbaren Kriegsgegner sieht. Seine Philippika aber richtet sich nicht nur gegen die Ukraine, sondern vor allem gegen „den Westen“ und – unverkennbar, gegen ein Freiheitsverständnis, das oftmals mit dem Kürzel „Westen“ verbunden ist.

Die Vorwürfe Putins an die Ukraine in der Rede vom 21. Februar 2022 sind die eines Lehrmeisters. Die Ukraine habe „ihre Staatlichkeit auf der Verleugnung all dessen aufgebaut, was uns verbindet“.[5] Sie habe ausländische Kräfte im Land mitbestimmen lassen, die, so wörtlich, „mit Hilfe eines verzweigten Netzes von NGOs und Geheimdiensten in der Ukraine ihre eigene Klientel geschaffen und ihre Leute an die Macht gebracht“ hätten.[6] Korruption wirft er der Ukraine vor, Zusammenarbeit mit den Feinden Russlands. Die Ukraine habe keine unabhängigen Richter, sogar auf ihre Auswahl werde vom Ausland Einfluss genommen. Sie habe die russische Sprache aus den Schulen vertrieben, zum Schisma der orthodoxen Kirche beigetragen und das Denkmal von Aleksandr Suvorov gestürzt, der die Krim an Russland angegliedert hatte. Und, wie Putin mit einer Reihe von Beispielen zeigt, habe man eine Vielzahl von falschen Entscheidungen im Bereich der Wirtschaft getroffen, die zur Verarmung des Landes geführt hätten.

Es ist offensichtlich, dass die Ukraine in der Innenpolitik seit dem Majdan 2014 an allen Wegscheiden Entscheidungen getroffen hat, die den Vorstellungen der russländischen politischen Führung diametral entgegengesetzt sind.[7] Aber dies ist nichts anderes als ein Ausdruck der staatlichen Souveränität, die als eines der ehernen Prinzipien der UN-Charta jedem Staat zusteht und von allen anderen Staaten zu achten ist. Die Kritik Putins greift so völkerrechtlich ins Leere. Dennoch versucht er, die souveränen Entscheidungen der Ukraine in Frage zu stellen und verwendet dabei zwei Argumentationen – zum einen sei die Ukraine nicht frei und souverän, sondern in Geiselhaft, so dass die für sie getroffenen Entscheidungen in Wirklichkeit gegen sie gerichtet seien. Zum anderen ende die Souveränität der Ukraine da, wo sie die Souveränität Russlands gefährde.

Aus der Sicht Putins stellten die mit dem Sturz der Janukovyč-Regierung neu an die Macht gekommenen Kräfte ein Okkupationsregime dar, das die Souveränität der Ukraine nicht schütze, sondern zerstöre. So führt er zu der Entwicklung nach dem Majdan aus:

„Die Radikalen hingegen wurden immer dreister, ihre Ansprüche wuchsen von Jahr zu Jahr. Sie hatten keine Schwierigkeiten, ihren Willen ein ums andere Mal einer schwachen Staatsführung aufzuzwingen, die ja selbst vom Virus des Nationalismus und der Korruption befallen war, und an die Stelle der wahren kulturellen, ökonomischen und sozialen Interessen des Volks, an die Stelle einer echten Souveränität der Ukraine, geschickt alle möglichen Spekulationen auf nationaler Grundlage und mit rein äußerlichen ethnographischen Attributen zu setzen.“[8]

Seine Rechtfertigung für die Nicht-Achtung der frei gewählten Regierung der Ukraine packt er in Suggestivfragen an das ukrainische Volk:

„Wissen die Ukrainer selbst von all diesen Steuerungsmethoden? Verstehen sie, dass ihr Land zu einem politischen und wirtschaftlichen Protektorat geworden ist, mehr noch, dass es in eine Kolonie mit einem Marionettenregime an der Spitze verwandelt wurde? Die Privatisierung des Staates hat dazu geführt, dass die „Regierung der Patrioten“, wie die Machthaber sich selbst nennen, jeden nationalen Charakter verloren hat und stattdessen konsequent auf einen kompletten Souveränitätsverlust zusteuert.“[9]

Putin knüpft hier an historische Vorbilder nicht-souveräner Staaten – Kolonien und Protektorate – an, um die Souveränität der Ukraine zu verneinen. Völkerrechtlich ist dies unhaltbar; bei einer frei gewählten Regierung ist keinerlei Ansatzpunkt dafür gegeben, dass ihre Legitimität und Vertretungsmacht in Zweifel zu ziehen seien. Dasselbe gilt mit Blick auf die Annahme, die Souveränität eines Nachbarstaats sei zu ignorieren, wenn man sich durch Gefahren bedroht fühle, die von dessen Territorium ausgingen. Die Souveränität eines anderen Landes ist in jedem Fall zu achten; gegen Beeinträchtigungen könnte man sich auf das Interventionsverbot berufen.[10] Die neue ukrainische Militärdoktrin, in der Putin eine Bedrohung sieht, da sie auf ausländische Unterstützung setzt, würde dafür aber nicht ausreichen; auch der Aufbau einer eigenen Sicherheitspolitik – einschließlich des Abschlusses von Bündnissen – ist Ausdruck nationaler Souveränität und völkerrechtlich nicht zu beanstanden.[11]

Im Übrigen ist Grundgedanke der UN-Charta – trotz der Vorrangstellung der fünf Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats – die Gleichheit aller Staaten.[12] Russland moniert ein Bedrohungsszenario. Würde dies aber nicht noch viel mehr auf die Nachbarstaaten Russlands zutreffen, auf die baltischen Staaten, Polen, Moldova, Georgien? Sie alle – und nicht nur sie – halten Putins Aussage, Russland könne sich nicht sicher fühlen, sich nicht entwickeln und existieren, weil vom Territorium des Nachbarstaats Ukraine eine permanente Bedrohung für Russland ausginge, für abwegig. Umgekehrt ist diese Bedrohung für diese Staaten bittere Realität. Aber wäre ein – subjektives – Bedrohungsgefühl ausreichend, um in anderen Staaten zu intervenieren, wäre ein Nebeneinander von Staaten, die unterschiedlichen Militärbündnissen angehören, nicht mehr möglich.

Die Ukraine ist aber nur vordergründiges Ziel der Aggression, in Wirklichkeit richtet sie sich gegen die USA. Putins Narrativ ist doppelbödig.

Konfrontation zwischen Russland und dem Westen

Fast ebenso viel Aufmerksamkeit wie der Ukraine widmet Putin in seinen Reden „dem Westen“. Hinter dem Kürzel der „Westen“ sieht er in guter Sowjettradition die USA und ihre „Satellitenstaaten“, die unterwürfig allen Vorgaben aus Washington gehorchten; auch die NATO ist für ihn ausschließlich ein Instrument der US-Außenpolitik. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion habe die USA eine hegemoniale Weltmachtordnung aufgebaut, der sich alle hätten unterordnen müssen; er spricht in diesem Zusammenhang von einem „neuen Absolutismus“.[13]

Die Freund-Feind-Stellung sei nicht notwendig gewesen, Russland habe sich geöffnet und sei auf den Westen zugegangen. Russland aber sei die Feindstellung von außen aufgezwungen worden:

„Diejenigen, die die Weltherrschaft für sich beanspruchen, erklären öffentlich, ungestraft und, ich betone das, vollkommen grundlos Russland, also uns, zu ihrem Feind.“[14]

Vor diesem Hintergrund entfaltet er das vielfach wiederholte Narrativ von der Osterweiterung der NATO, die er als Täuschung ansieht, die nicht nur gegen die Grundprinzipien der internationalen Beziehungen verstieße, sondern auch gegen die Normen von Moral und Ethik. Der Vorwurf von Lügen und Heuchelei zieht sich durch seine Reden. Wolfgang Friedmann hatte in seiner klassischen Studie The Changing Structure of International Law zum Status Quo des Völkerrechts terminologisch zwischen „Koexistenz“, „Kooperation“ und „Integration“ unterschieden.[15] Mit seiner These von der Unvermeidbarkeit der Konfrontation zwischen Russland und dem Westen stellt Putin sogar die grundlegende „Koexistenz“ in Frage, die im sowjetischen Denken als „friedliche Koexistenz“ während des Kalten Krieges immer Bestand hatte.

Konfrontation zwischen Russlands Werten und den Pseudowerten des Westens

Die Konfrontation zwischen Russland und dem Westen ist für Putin fundamental und unvermeidlich. Er argumentiert, auf der Seite Russlands stehe Gerechtigkeit und Wahrheit. Dem Westen wirft er vor, ein „Reich der Lügen“ zu sein. Besonders die Hybris des Westens prangert er an. Im Rückblick auf den Untergang der Sowjetunion bezeichnet er die Haltung des Westens als geprägt von Exzeptionalismus, Unfehlbarkeit und Straflosigkeit. In Wirklichkeit sei seine Hinterlassenschaft aber, wann immer er eine Ordnung zu schaffen versucht habe – die historischen Beispiele beziehen sich auf Libyen, Syrien und Irak – „klaffende, nicht verheilende Wunden, […] Schwären des internationalen Terrorismus und Extremismus“ gewesen.[16]

Dabei spricht Putin auch von Menschenrechten und Selbstbestimmungsrecht, wobei zumindest erstere eng mit der Aufklärung im Westen Europas verbunden sind, dreht aber die Konzepte um und baut auch hier eine Frontstellung auf. Wörtlich heißt es an einer Stelle der Rede am Tage des Kriegsbeginns:

„Die Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs und die Opfer, die unser Volk für den Sieg über den Nazismus gebracht hat, sind uns heilig. Gleichzeitig achten wir die hohen Werte der Freiheits- und Menschenrechte, auf der Basis jener Realität, die sich in den Jahrzehnten seit dem Krieg entwickelt hat.“[17]

Dies klingt, als würde er die Menschenrechte, so wie sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg auf universeller und regionaler Ebene herauskristallisiert haben, anerkennen. Dies widerlegt aber eine andere Passage der Rede. Dort spricht er – gegen den Westen gerichtet – davon, dass es Versuche gegeben habe,

„unsere traditionellen Werte zu zerstören und uns seine Pseudowerte aufzudrängen, die uns, unser Volk von innen zerfressen sollen, all diese Ideen, die er bei sich bereits aggressiv durchsetzt und die auf direktem Weg zu Verfall und Entartung führen, denn sie widersprechen der Natur des Menschen.“[18]

Es ist anzunehmen, dass Putin sich hier auf die menschenrechtliche Absicherung der LGBTQ-Bewegung bezieht und eine Opposition zwischen den „wahren russischen Werten“ und dem missgeleiteten Menschenrechtsverständnis des Westens aufbauen will.[19]

Welches Menschenrechtsverständnis er dem aber entgegenstellen will, bleibt offen – was könnte man auch garantieren, wenn man selbst das Recht auf Leben nicht zu achten bereit ist?

Pick and choose – selektiver Umgang mit der Völkerrechtsordnung

Die Völkerrechtsordnung ist ohne Zentrum; anders als im nationalen Recht gibt es keine gesetzgebende Instanz, die mit einer von einer konsistenten Verfassungsordnung abgeleiteten Legitimität Recht schaffen und verändern könnte. Das Völkerrecht entwickelt sich vielmehr dezentral auf der Grundlage von Verträgen und Gewohnheitsrecht.

Auf Verträge bezieht sich Putin in seiner Rede nur höchst selektiv und vage. Aufschlussreich ist insbesondere, welche Verträge er nicht nennt – all jene Verträge, mit denen Russland die Ukraine in ihren internationalen Grenzen anerkannt hat, so insbesondere das Budapester Memorandum von 1994,[20] mit dem sich Russland, die USA und Großbritannien im Gegenzug zum Atomwaffenverzicht der Ukraine – ebenso wie von Kasachstan und Belarus – verpflichteten, ihre Souveränität zu achten, und der russländisch-ukrainische Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und Partnerschaft von 1997.[21] In seiner zweiten Rede spricht Putin von Verträgen, die „faktisch entwertet“ worden seien, ohne darauf einzugehen, um welche Verträge es sich handele und was „faktische Entwertung“ bedeute.[22]

Losgelöst von vertraglichen Bindungen versichert Putin in seiner Kriegsrede vom 24. Februar 2022 zwar, die Souveränität aller postsowjetischen Staaten zu achten:

„Ich sage er nicht zum ersten Mal: Russland hat die neuen geopolitischen Realitäten nach dem Zerfall der Sowjetunion akzeptiert. Wir respektieren alle neu gegründeten Staaten im postsowjetischen Raum, und das wird auch so bleiben. Wir respektieren heute und in Zukunft ihre Souveränität …“[23]

Allerdings folgt dann das entscheidende „Aber“: Dies gelte nicht für die Ukraine.

Erkennbar bemüht sich Putin, sein Handeln in der UN-Charta zu verorten. Dem dient vor allem das Schreiben an den Sicherheitsrat, mit dem er die Ausübung des Selbstverteidigungsrechts kundtut.

Im Übrigen aber ist seine völkerrechtliche Argumentation darauf gerichtet, der „anderen Seite“, konkret den USA und dem Westen, Völkerrechtsbrüche vorzuwerfen, dann aber aus eben jenen Völkerrechtsbrüchen Regeln abzuleiten, nach denen Russland zu handeln befugt ist.[24] Dies gilt in erster Linie für den mantraartig wiederholten Hauptvorwurf, der Westen habe die von der UN-Charta aufgebaute Friedensordnung mit dem Bombardement der NATO im Kosovo-Krieg missachtet.[25] Der Einsatz von Gewalt war damals – ohne Billigung des Sicherheitsrats – damit begründet worden, es gelte ein Völkermordszenario wie in Srebrenica zu verhindern.[26] Dies hat Putin immer als fundamentalen Völkerrechtsverstoß interpretiert, zugleich aber als Grundlage genommen, um die Anwendung von Gewalt zu rechtfertigen, insbesondere im Georgienkrieg im August 2008[27], aber auch im Ukrainekrieg, die im Ergebnis zu Gebietsgewinnen, sei es durch Annexion oder durch Territorien für Militärbasen geführt haben. Dasselbe gilt für die Verurteilung der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo, die er als Blaupause für die Anerkennung der Unabhängigkeit von Südossetien, Abchasien, der Krim und der Donbassregionen Luhansʼk und Donecʼk genommen hat. Eine derartige Argumentation funktioniert aber im Völkerrecht nicht, denn für Rechtswandel sind Praxis (consuetudo) und Rechtsüberzeugung (opinio iuris) erforderlich. Kritisiert man eine Handlung als mit nichts zu rechtfertigenden Bruch des Völkerrechts, kann man nicht gleichzeitig die Auffassung vertreten, dies sei ein neues Recht, an das man sich halten wolle. Vielmehr muss man dann akzeptieren, dass schon die vorausgehende – kritisierte – Handlung Ausdruck einer neuen, von allen geteilten Rechtsauffassung sei, bei der sich aus bestimmten Voraussetzungen bestimmte Rechtsfolgen ergeben. Bildlich lässt sich die Haltung mit der idiomatischen Redewendung im Englischen beschreiben „You cannot have your cake and eat it.“ Kritik an einem Rechtsbruch und opinio iuris, es handele sich um geltendes Recht, sind miteinander unvereinbar, ganz abgesehen davon, dass es beim Gewaltverbot  wie auch beim Annexionsverbot um zwingendes und damit überhaupt nicht zur Disposition stehendes Völkerrecht geht. In Wirklichkeit scheint Putin hier von der Maxime „tu quoque“ geleitet zu sein. Er folgert aus den angeblichen – oder auch tatsächlichen – Rechtsbrüchen der anderen seinerseits das Recht zu Rechtsbrüchen, fordert eine Gleichbehandlung im Unrecht, dies aber ohne anzuerkennen, selbst unrechtmäßig zu handeln.

Rechtfertigungsversuche des nicht Rechtfertigbaren

Die Reden Putins bauen auf mehreren Argumenten auf, um die Anwendung von Gewalt zu rechtfertigen. Im Vordergrund steht das individuelle und kollektive Selbstverteidigungsrecht, das auch explizit mit Verweis auf Art. 51 UN-Charta aufgerufen wird. Da keine Autorisierung durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen vorliegt, ist dies auch die einzige in der Charta explizit vorgesehene Ausnahme zum Gewaltverbot. Daneben finden sich aber in Putins Rede weitere Begründungsansätze und Ziele. So solle es auch um „Entnazifizierung“ und Bestrafung der für den vermeintlichen „Genozid“ im Donbass Schuldigen gehen. Im Übrigen wird all jenen, die auf dem Gebiet der Ukraine leben, ein Wahlrecht angeboten, selbst zu entscheiden, wo sie leben wollen. Auch diese Argumente gilt es auf ihre völkerrechtliche Substanz zu prüfen.

Nachholendes Selbstbestimmungsrecht

In seiner zweiten Rede unmittelbar vor dem Angriff führt Putin aus, niemand habe die Menschen, die auf dem Gebiet der gegenwärtigen Ukraine leben, je gefragt, wie sie ihr Leben aufbauen wollten. Er beschwört eine „Politik der Freiheit“ und der „Wahlfreiheit“ und fordert, dass alle Menschen, die auf dem Territorium der Ukraine leben, dieses Recht haben sollten. Damit knüpft er an seine Ausführungen zur Geschichte an, nach denen es die Ukraine als „Nationalstaat“ nicht gäbe und sie lediglich von Lenins Gnaden geschaffen und durch nachfolgende Gebietsgeschenke konstituiert worden sei. Auch wenn er in diesem Zusammenhang nicht explizit vom Selbstbestimmungsrecht spricht, ist darin doch eine Art „nachholendes Selbstbestimmungsrecht“ zu sehen – was versäumt worden war, soll nunmehr nachgeholt werden.[28]

Das Selbstbestimmungsrecht war, wie bereits erwähnt, schon mehrfach das entscheidende Element in Putins völkerrechtlichen Argumentationen, so bei der Anerkennung von Abchasien und Südossetien als eigenständige Staaten[29] und bei der Annexion der Krim.[30] Allerdings ist – außerhalb des kolonialen Kontexts – allgemein anerkannt, dass das Selbstbestimmungsrecht nicht zu einer Abspaltung eines Gebiets von einem Gesamtstaat, sondern nur zu einem Recht auf adäquate Vertretung einer bestimmten Bevölkerungsgruppe im Gesamtstaat führt, es sei denn, es wäre tatsächlich ihre Auslöschung zu befürchten („remedial secession“).[31] Auf diese Ausnahme aber hat sich Putin in allen Fällen – modelliert nach dem Vorbild der Begründung der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo – berufen, allerdings ohne je Beweise für das Vorliegen der Voraussetzungen eines existenzauslöschenden Angriffs zu erbringen, die Anerkennung gefunden hätten. Dementsprechend ist es auch nur eine sehr kleine Zahl von Russland eng verbundenen Staaten, die Südossetien und Abchasien als unabhängige Staaten[32] oder die Krim als integralen Bestandteil der Russländischen Föderation[33] anerkannt haben, während die Unabhängigkeit des Kosovo mit 115 Anerkennungserklärungen weitaus größere Zustimmung gefunden hat.[34]

Ein „freies“ Selbstbestimmungsrecht all jener, die auf dem Territorium der Ukraine wohnen, aufgrund von Grenzverschiebungen aber in historischer Zeit zu anderen Staaten gehört haben, gibt es dagegen nicht im Völkerrecht; ein entsprechendes „Wahlrecht“ einräumen zu wollen, entbehrt jeder Grundlage; es würde die Stabilität der Staatenordnung insgesamt gefährden.

Und auch die mit der Rede vom 21.2.2022 erfolgte Anerkennung von Luhansʼk und Donecʼk als unabhängige Staaten ist ein klarer Verstoß gegen das Interventionsverbot und eine Missachtung bestehender Grenzen.[35] Dem Vortrag, die Anerkennung sei durch einen Genozid an der russischsprachigen Bevölkerung dieser Gebiete ausgelöst worden, widerspricht Russland selbst im von der Ukraine initiierten Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof.

Genozid-Vorwurf

Die Ukraine rief am 26.2.2022 den Internationalen Gerichtshof in Den Haag an, um die Frage zu klären, ob ein Genozid[36] an der russischsprachigen Bevölkerung von Donecʼk und Luhansʼk vorliege und Russland daraus rechtliche Konsequenzen – bis hin zum Einsatz bewaffneter Gewalt – ziehen dürfe.[37] Russland hielt die Beschwerde für unzulässig, da – anders als von Art. IX Völkermordkonvention gefordert – kein Streit über die Auslegung der Konvention vorliege. Es weigerte sich so, an dem Verfahren überhaupt teilzunehmen, legte seine Position aber in einem an den IGH gerichteten Schreiben dar.[38] Darin berief sich Russland darauf, dass Putin in seiner Rede vom 24.2.2022 zwar von „Genozid“ gesprochen habe, dass diese Referenzen aber nicht auf die Völkermordkonvention bezogen gewesen seien[39] und die Russländische Föderation daher auch nicht anerkenne, dass ein Streit über die Auslegung dieser Konvention vorliege. Damit falsifiziert aber Russland selbst die These von Putin, auf der das gesamte Argumentationsgebäude mit der Anerkennung der neuen Staaten Luhansʼk und Donecʼk beruht. Der Anspruch, ein Recht auf Unabhängigkeit aus dem Selbstbestimmungsrecht abzuleiten, fällt in sich zusammen; die nach 2014 andauernden Grenzscharmützel würden den Voraussetzungen von „truly exceptional circumstances“ nicht genügen.

Dasselbe gilt für die Rechtfertigung der Gewaltanwendung mit der humanitären Intervention, die Putin nicht explizit erwähnt, die er aber mit den Verweisen auf die Parallelen zum Kosovo implizit aufruft.

Entnazifizierung

Mit dem Kriegsziel der „Entnazifizierung“ versucht Putin an das Narrativ des Zweiten Weltkriegs anzuknüpfen. Richtig ist, dass mit der ukrainischen Unabhängigkeitsbewegung immer auch nationalistische Elemente verbunden waren und die Freiheitskämpfern wie Stepan Bandera und Symon Petljura zugedachte Heldenrolle kontrovers und problematisch ist.[40] Die Regierung von Volodymyr Zelensʼkyj, der selbst jüdischen Glaubens ist und eine differenzierte Geschichtspolitik verfolgt, als „Nazi-Regierung“ zu bezeichnen, ist aber schlichtweg absurd. Im Übrigen sind Heldenverehrung ebenso wie Regierungswahl „innere Angelegenheiten“ im Sinne von Art. 2 Abs. 7 UN-Charta und Ausdruck der Souveränität eines Volkes – jede Form des Eingriffs, und sei es unter dem Signum der „Entnazifizierung“, unterfällt völkerrechtlich dem Interventionsverbot.

Selbstverteidigungsrecht

Ausweislich dem an den Internationalen Gerichtshof gerichteten Schreiben Russlands ist das entscheidende Argument zur Rechtfertigung des Einsatzes von Gewalt das von Art. 51 UN-Charta garantierte Selbstverteidigungsrecht.[41]

Putins Argumentation bricht hier allerdings mehrfach. Er setzt das Selbstverteidigungsrecht in unmittelbaren Zusammenhang mit dem militärischen Eingreifen Russlands in vorausgehenden militärischen Konflikten, angefangen vom Tschetschenienkrieg, bei dem man gegen „Terroristen im Kaukasus“ habe vorgehen müssen. „Wir haben […] die Integrität unseres Staates verteidigt, wir haben Russland gerettet.“ Putin zieht von dort eine Linie zur Krim und zum Syrienkrieg, „um dem Eindringen von Terroristen aus Syrien nach Russland einen verlässlichen Riegel vorzuschieben.“[42] Man habe keine andere Möglichkeit gehabt, sich selbst zu verteidigen. Darin anschließend heißt es wörtlich:

„Heute geschieht wieder dasselbe. Man lässt uns, Ihnen und mir schlicht keine andere Möglichkeit, Russland und unsere Leute zu verteidigen. Es bleibt nur der Schritt, zu dem wir uns heute gezwungen sehen. Die Umstände verlangen entschlossenes und rasches Handeln. Die Volksrepubliken im Donbass haben ein Hilfegesuch an Russland gerichtet.“[43]

Damit aber vermischt er zwei rechtliche Begründungen, das individuelle Selbstverteidigungsrecht Russlands gegen einen ihm unmittelbar geltenden bewaffneten Angriff und das kollektive Selbstverteidigungsrecht, wenn es einen anderen Staat, der von seinem Selbstverteidigungsrecht Gebrauch macht, zu unterstützen gilt. Das „Sich-selbst-Verteidigen“ und das „Um-Hilfe-gebeten-Sein“ stehen unverbunden nebeneinander.

Aus der Sicht des Völkerrechts ist auch hier die Argumentation so haltlos, dass man kaum von einer „Argumentation“ sprechen kann. Zur Begründung des individuellen Selbstverteidigungsrechts wird keinerlei Nachweis für einen „gegenwärtigen bewaffneten Angriff“ auf Russland geliefert.[44] An einer Stelle der Rede vom 24.2.2022, nach einer Aufzählung von gegen die NATO gerichteten Vorwürfen, heißt es, die nationalistischen Gruppen und Neonazis „fordern jetzt auch noch eigene Nuklearwaffen“.[45] An anderer Stelle wird davon gesprochen, die Militarisierung der Grenzregionen sei nicht tolerierbar. Außerdem bestünde die Gefahr, dass die Krim und Sevastopolʼ zurückerobert würden. All diese Anschuldigungen beinhalten aber nicht mehr als Verweise auf mögliche Pläne und Absichten. Dies reicht aber nicht für die Annahme eines „bewaffneten Angriffs“ auf Russland aus, dieser müsste entweder bereits erfolgen oder unmittelbar bevorstehen. Einen konkreten Angriff nachzuweisen macht Putin aber keinen Versuch.

So bezieht er sich im entscheidenden Teil seiner Rede vom 24.2.2022 auf das kollektive Selbstverteidigungsrecht und auf die mit der Volksrepublik Donezk und der Volksrepublik Lugansk geschlossenen Verträge über Freundschaft und gegenseitigen Beistand. Aber auch diese Argumentation kann vor dem Völkerrecht nicht bestehen. Zum einen ist, wie bereits ausgeführt, die Anerkennung dieser „Volksrepubliken“ selbst ein gegen das Interventionsverbot verstoßender Akt, da es sich um Teile des international anerkannten ukrainischen Territoriums handelt. Zudem hätte eine derartige Form der kollektiven Selbstverteidigung aufgrund des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auch nie Bombenangriffe auf die gesamte Ukraine in einem das Land in seiner Existenz bedrohenden Ausmaß rechtfertigen können.

Das bedeutet, dass Putin zwar die von Art. 51 UN-Charta geforderten Formalitäten – die offizielle Information des Sicherheitsrats – einhält, der Versuch einer Rechtfertigung des bewaffneten Angriffs aber scheitert; was immer – andeutungsweise – vorgebracht wird, ist inhaltlich ohne jede Substanz.[46]

Der bewaffnete Angriff gegen die Ukraine stellt sich somit als Bruch zwingenden Völkerrechts (ius cogens) dar.

Damit könnten sich andere Staaten auf das kollektive Selbstverteidigungsrecht nach Art. 51 UN-Charta berufen; unterstützten sie die Ukraine, würden sie völkerrechtskonform handeln.[47] Aber nicht alles, was man völkerrechtlich „darf“, „will“ man auch – der Westen greift nicht ein, weil er die Konsequenzen fürchtet. Dies würde sogar dann gelten, wenn sich nachweisen lässt, dass Russland seinerseits bei seinen Angriffen und bei der Belagerung ukrainischer Städte gegen das Völkermordverbot verstößt – dies ist der Vortrag der Ukraine vor dem Internationalen Gerichtshof. Zwar wird für diesen Fall auf der Grundlage der sogenannten „Responsibility to protect“ ein Recht zum Eingreifen völkerrechtlich gefordert.[48] Allerdings gilt dies nur auf der Grundlage einer Zustimmung des Sicherheitsrats – die gegen Russland nicht zu erlangen ist. Zudem bestünde auch dann nur ein Recht, nicht aber eine Pflicht einzugreifen.

Sind aber die Staaten zur Unterstützung der Ukraine nicht rechtlich verpflichtet, bleibt es bei einem Appell an das moralische Gewissen der Menschheit. Dass bei der Entscheidung über ein Eingreifen die Gefahr eines dritten Weltkriegs zu berücksichtigen ist, zeigt die Tragik und das Dilemma der Situation. Putins Aussage dazu in seiner Kriegsrede vom 24.2.2022 war klar:

„Und jetzt einige wichtige, sehr wichtige Worte an alle, die versucht sein könnten, sich von außen in den Gang der Ereignisse einzumischen. Wer immer sich uns in den Weg stellt oder gar unser Land, unser Volk bedroht, muss wissen, dass Russlands Antwort augenblicklich erfolgen wird, und sie wird Folgen für Sie haben, wie Sie sie in ihrer Geschichte noch nicht erlebt haben. Wir sind auf alle Entwicklungen vorbereitet. Alle notwendigen Entscheidungen sind getroffen. Ich hoffe, meine Worte werden gehört.“[49]

Worte und Waffen: rechtliche Verpflichtungen zur Beendigung der Gewalt

Der Bruch zwingenden Völkerrechts ist offenkundig. Dementsprechend wurden auch alle zur Verfügung stehenden rechtlichen Mechanismen eingesetzt, um eine Beendigung der Gewaltausübung zu erreichen – allerdings bisher ohne Erfolg.

Die einstweiligen Anordnungen des EGMR

Eine der ersten Anlaufstellen für die Ukraine war der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, der unmittelbar mit dem Erlass von einstweiligen Anordnungen reagierte. So verfügte er auf Antrag der Ukraine am 4.3.2022, Russland müsse,

„von militärischen Angriffen auf Zivilisten und zivile Objekte, einschließlich Wohnhäusern, Einsatzfahrzeugen und anderen besonders geschützten zivilen Objekten wie Schulen und Krankenhäusern, absehen und unverzüglich die Sicherheit der medizinischen Einrichtungen, des Personals und der Einsatzfahrzeuge in dem von den russischen Truppen angegriffenen oder belagerten Gebiet gewährleisten.“[50]

Zu diesem Zeitpunkt hatte der Europarat, die Mutterorganisation des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der Russländischen Föderation aber bereits die Repräsentationsrechte entzogen.[51] Um einem Ausschluss zuvorzukommen, erklärte der Außenminister der Russländischen Föderation Sergej Lavrov mit Schreiben vom 15. März 2022 den Austritt Russlands aus dem Europarat und kündigte zugleich die Europäische Menschenrechtskonvention, und dies nicht mit diplomatischer Sachlichkeit und Knappheit, sondern mit Vorwürfen und Unterstellungen – der Europarat habe diskriminierende Entscheidungen gegen Russland getroffen und sich für geopolitische Ziele instrumentalisieren lassen. Aufgrund des „beispiellosen Drucks der Sanktionen“ behalte man sich einen Austritt „zu den eigenen Konditionen“ vor.[52] Mit einer Resolution vom 16. März stellte daraufhin das Ministerkomitee des Europarats die sofortige Beendigung der Mitgliedschaft fest;[53] der Gerichtshof beschloss noch am selben Tag, die Behandlung aller noch anhängigen russischen Beschwerden zu suspendieren,[54] entschied aber wenige Tage später, am 22.3.2022, die Arbeit an den gegen Russland gerichteten Fällen wieder aufzunehmen und erklärte sich für neu eingehende Beschwerden für weitere sechs Monate bis zum 16.9.2022 für zuständig.[55] Wie die weitere praktische Arbeit in dieser Zeit aussieht, ist allerdings offen. Es ist weder zu erwarten, dass die russländische Regierung die erforderlichen „government observations“ schickt, noch dass der Gerichtshof überhaupt die Beschwerdeführer über den Ausgang der Verfahren informieren kann. Die einstweiligen Anordnungen des Gerichtshofs mögen damit theoretisch weiterhin verbindlich sein, da sie in der Zeit der Mitgliedschaft Russlands im Konventionssystem getroffen wurden. Eine Umsetzung zu erwarten wäre allerdings weltfremd.

Die einstweilige Anordnung des Internationalen Gerichtshofs

Eine einstweilige Anordnung hat auch der Internationale Gerichtshof in Den Haag auf der Grundlage des Verfahrens zur Interpretation der Völkermordkonvention erlassen.[56] Darin heißt es, die Russländische Föderation müsse die von ihr im Hoheitsgebiet der Ukraine begonnenen militärischen Operationen unverzüglich einstellen; nur der russische Richter und die chinesische Richterin votierten dagegen, die dreizehn anderen Richterinnen und Richter stimmten dafür. Der Sprecher von Präsident Putin, Dmitrij Peskov, argumentierte allerdings, die Entscheidung könne nicht berücksichtigt werden, da internationale Gerichtsbarkeit auf Konsens beruhen müsse, es hier aber keinen Konsens gebe.[57]

Die Resolution der Generalversammlung

Last but not least hat die UN-Vollversammlung in unerwarteter Klarheit den bewaffneten Angriff Russlands auf die Ukraine verurteilt, mit 141 gegen fünf Stimmen bei 34 Enthaltungen; mit Russland gestimmt haben lediglich Belarus, Nordkorea, Eritrea und Syrien.[58] Aber, anders als die Resolutionen des Sicherheitsrats, sind die Resolutionen der UN-Vollversammlung nicht bindend.[59] Und selbst wenn sie es wären – Russland hat längst unter Beweis gestellt, dass es in diesem Konflikt das Recht nicht zu achten bereit ist. Ob die Existenz des Atomwaffenarsenals letztlich dafür ausreicht, dass Recht auf Dauer und nicht nur vorübergehend der Macht weichen muss, ist zur Schicksalsfrage nicht nur für Europa geworden.

 


[1]   Vladimir Putin: Rede vom 21.2.2022, abrufbar unter <http://en.kremlin.ru/events/president/news/67828>. Die deutsche Übersetzung ist dokumentiert in diesem Band S. 119–135.

[2]   Vladimir Putin: Rede vom 24.2.2022, abrufbar unter http://en.kremlin.ru/events/president/news/67843, Dokument S/2022/154 des Sicherheitsrats. Die deutsche Übersetzung ist dokumentiert in diesem Band S. 141–148.

[3]   Art. 51 S. 2 UN-Charta: „Maßnahmen, die ein Mitglied in Ausübung dieses Selbstverteidigungsrechts trifft, sind dem Sicherheitsrat sofort anzuzeigen …“

[4]   Putin, Rede vom 24.2.2022 [Fn. 2], S. 145.

[5]   Putin, Rede vom 21.2.2022 [Fn. 1], S. 124.

[6]   Ebd.

[7]   Zur innenpolitischen Entwicklung in Russland Angelika Nußberger: Von Gorbatschow zu Orwell. FAZ, 10.3.2022, S. 6.

[8]   Putin, Rede vom 21.2.2022 [Fn. 1], S. 124.

[9]   Ebd., S. 126.

[10] Nach der Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen 2625 vom 24.10.1970 (The Declaration on Principles of International Law concerning Friendly Relations and Co-operation among States) können alle Völker frei, ohne Einmischung von außen, ihren politischen Status bestimmen und ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung verfolgen. Explizit festgehalten wird die Pflicht der Staaten, „to refrain in their international relations from military, political, economic or any other form of coercion aimed against the political independence or territorial integrity of any State.“ Dies gilt in jedem Fall für Russland. Dagegen ist bei einem angeblichen Bedrohungsszenario Russlands durch die Ukraine zu bedenken, dass in Wirklichkeit Russland die territoriale Souveränität der Ukraine mit der Annexion der Krim bereits 2014 verletzt hat und die Ukraine daher grundsätzlich zur Gegenwehr berechtigt ist; in politischen Aussagen, die Krim zurückgewinnen zu wollen, wäre so kein völkerrechtswidriges Bedrohungsszenarium zu sehen.

[11] Grundlegend mit historischer und theoretischer Herleitung Samantha Besson: „Sovereignty“, in: Max Planck Encyclopedia for International Law (MPIL), <https://opil.ouplaw. com/ view/ 10.1093/law:epil/9780199231690/law-9780199231690-e1472?prd=EPIL>.

[12] „Sovereign equality“ wird prominent in der „Friendly Relation Declaration“ zum Ausdruck gebracht: „Reaffirming, in accordance with the Charter, the basic importance of sovereign equality and stressing that the purposes of the United Nations can be implemented only if States enjoy sovereign equality and comply fully with the requirements of this principle in their international relations.“

[13] Putin, Rede vom 24.2.2022 [Fn. 2], S. 142.

[14] Ebd., S. 144.

[15] Wolfgang Friedmann: The Changing Structure of International Law. London 1964.

[16] Putin, Rede vom 24.2.2022 [Fn. 2], S. 143.

[17] Ebd., S. 146.

[18] Ebd., S. 143.

[19] Vgl. dazu auch die von Sergej Karaganov betonte Opposition der „wahren russischen Werte“, die einem dekadenten Selbstverständnis des Westens gegenüberstehen: „Derzeit sehen wir – aufgrund objektiver kultureller Gründe sowie teils auch einer bewussten Politik der an Einfluss verlierenden transnationalen (liberalen) herrschenden Kreise der USA und vieler europäischer Länder – eine Erosion der grundlegenden menschlichen Werte. Hierher rühren all diese Erscheinungen wie LGBtismus, Multisexualität, Ultrafeminismus, die Verleugnung der Geschichte und der eigenen Wurzeln, des Glaubens, die Unterstützung des schwarzen Rassismus einschließlich seiner antichristlichen Elemente und seines Antisemitismus. In dieselbe Reihe gehört auch die Stilisierung der Demokratie zu einer Religion. Die Liste ließe sich fortsetzen.“ Sergej Karaganov: Vom Dritten Kalten Krieg, in: Osteuropa, 7/2021, S. 15–27.

[20] Der amtliche Titel des Budapester Memorandums lautet: Memorandum on security assurances in connection with Ukraine’s accession to the Treaty on the Non-Proliferation of Nuclear Weapons, 5.12.1994, No. 52241, Vol. 3007, I-52241, <https://treaties.un.org/doc/Publication/ UNTS/Volume%203007/Part/volume-3007-I-52241.pdf>.

[21] Treaty on Friendship, Cooperation, and Partnership between Ukraine and the Russian Federation, übersetzt ins Englische von Andrew D. Sorokowski, Harvard Ukrainian Studies (1996), S. 319–329, <www.jstor.org/stable/pdf/41036701.pdf?refreqid=excelsior%3Adcf39ad95500 7576b92b119727f863d1&ab_segments=&origin=>.

[22] Putin, Rede vom 24.2.2022, S. 141: „Dies hat dazu geführt, dass die geschlossenen Verträge und Abkommen heute faktisch außer Kraft sind.“

[23] Ebd., S. 145.

[24] Zur russischen Völkerrechtsdoktrin und -praxis ausführlich: Lauri Mälksoo: Russian Approaches to International Law. Oxford 2017. – Anna Melikov: Die Interpretation des völkerrechtlichen Gewaltverbots und möglicher Ausnahmen. Russische Doktrin und Praxis. Berlin 2021.

[25] Eine kritische Sicht ist auch in der Forschungsliteratur dominant: Aaron Schwabach: The Legality of the NATO Bombing Operation in the Federal Republic of Yugoslavia, in: Pace International Law Review 1999, 405–418. – Michael Mandelbaum: A perfect Failure. NATOʼs War Against Yugoslavia, in: Foreign Affairs, September/October 1999, S. 2–8. – Christine Chinkin: The legality of NATO’s action in the former republic of Yugoslavia (FRY) under international law, in: International and comparative law quarterly, 4/2000, S. 910–925.

[26] Zu den Unterschieden zwischen den Konflikten Michael Martens: Kosovo 1999 und Ukraine 2022. FAZ, 16.3.2022, S. 8. – Ludger Volmer im Gespräch mit Peter Kapern: „Vergleich mit Kosovo unzulässig“. Deutschlandfunk, 19.3.2022.

[27] Angelika Nußberger: Völkerrecht im Kaukasus. Postsowjetische Konflikte in Russland und Georgien, in: Europäische Grundrechte Zeitschrift (EuGRZ) 2008, S. 457–466. – Angelika Nußberger: Der „Fünf-Tage-Krieg“ vor Gericht. Russland, Georgien und das Völkerrecht, in: Osteuropa, 11/2008, S. 19–40.

[28] Wörtlich heißt es: „Wir halten es für äußerst wichtig, dass dieses Recht, das Recht auf Entscheidungsfreiheit, von allen Völkern in Anspruch genommen werden kann, die auf dem Gebiet der heutigen Ukraine leben, von allen, die dies wünschen.“ Putin, Rede vom 24.2.2022, S. 146.

[29] Nußberger, Völkerrecht im Kaukasus [Fn. 27], S. 461. – Nußberger, Der „Fünf-Tage-Krieg“ [Fn. 27], S. 29.

[30] Marko Milanovic: Crimea, Kosovo, Hobgoblins and Hypocrisy. EJIL:Talk! Blog of the Journal of International Law, 20.3.2014, <www.ejiltalk.org/crimea-kosovo-hobgoblins-and-hypocrisy/>.

[31] Diesen Punkt und die engen Grenzen für die Ausnahmen einer „remedial secession“ hat auch Russland in seiner Stellungnahme beim Gutachten-Verfahren zum Kosovo vor dem IGH akzeptiert. So wird ausdrücklich auf „truly exceptional circumstances“ verwiesen, „such as an outright armed attack by the parent State, threatening the very existence of the people in question“. Written Statement by the Russian Federation, para. 88, <www.icj-cij.org/public/files/case-related/141/15628.pdf>. – Dazu Milanovic, Crimea, Kosovo [Fn. 30].

[32] Anerkennung durch Nicaragua, Syrien, Venezuela und Nauru. Andreas Heinemann-Grüder: Postsowjetische De-facto-Regime, in: Russland-Analysen, 394/2020, S. 2–6.

[33] Anerkennung durch Afghanistan, Nicaragua, Kuba und Venezuela Michael Bothe: Verantwortung aller Staaten. Süddeutsche Zeitung, 2.12.2014.

[34] Zur völkerrechtlichen Beurteilung der Unabhängigkeit des Kosovo vgl. Accordance with the international law of the unilateral declaration of independence in respect of Kosovo, Gutachten des IGH vom 22.7.2010, <www.icj-cij.org/en/case/141>. – Generalversammlung der Vereinten Nationen, Resolution 64/298 vom 9.9.2010. – Robert Howse, Ruti Teitel: Delphic Dictum: How Has the ICJ Contributed to the Global Rule of Law by its Ruling on Kosovo?, in: German Law Journal, 7–8/2010, S. 843–845. – Anne Peters: Das Kosovogutachten und die Kunst des Nichtssagens, in: JuristenZeitung (JZ), 23/2010, S. 1168–1170.

[35] Explizit ablehnend das Committee on the Use of Force der International Law Association: <www.justsecurity.org/80454/statement-by-members-of-the-international-law-association-committee-on-the-use-of-force/>: „… their recognition by the Russian Federation is a flagrant violation of Ukraine’s territorial integrity, and as such without legal effect.“ – Ebenso Júlia Miklasová: Russia’s Recognition of the DPR and LPR as Illegal Acts under International Law. Völkerrechtsblog, 24.2.2022.

[36] Zur Auslegung des Genozid-Tatbestands William A. Schabas: „Genocide“ in: Max Planck Encyclopdia for International Law (MPIL), <https://opil.ouplaw.com/view/10.1093/law:epil/ 9780199231690/law-9780199231690-e804>.

[37] IGH Entscheidung vom 16.3.2022, Allegations of Genocide under the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime Genocide (Ukraine v. Russian Federation), <www.icj-cij.org/public/files/case-related/182/182-20220316-ORD-01-00-EN.pdf>.

[38] Russische Föderation, Einreichung an den IGH vom 28.2.2022, Para. 8ff., <www.icj-cij.org/public/files/case-related/182/182-20220307-OTH-01-00-EN.pdf>.

[39] Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Internationales Recht (DGIR) zu Russlands Angriff auf die Ukraine: „Wir halten fest, dass die Sprache des Völkerrechts von Russland missbraucht wird, um juristisch nicht haltbare Rechtsbehauptungen vorzubringen.“ <https://dgfir.de/>.

[40] Jens Bisky: Wessen Blut auf wessen Boden. Süddeutsche Zeitung, 31.3.2014. – Wilfried Jilge: Geschichtspolitik auf dem Majdan. Politische Emanzipation und nationale Selbstvergewisserung, in: Osteuropa, 5–6/2014, S. 239–258.

[41] IGH Urteil vom 16.3.2022, para. 32f.

[42] Putin, Rede vom 24.2.2022 [Fn. 2], S. 146.

[43] Ebd.

[44] Zur Interpretation eines „bewaffneten Angriff“ vgl. Nicaragua II (IGH 1986), I.C.J. Reports Ziffer 196. – Zur zweifachen Funktion der Schwellenklausel Claus Kress: Die Aktivierung der Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs für das Verbrechen der Aggression. Archiv des Völkerrechts (AVR), 3/2018, S. 269–288, 274ff.

[45] Putin, Rede vom 24.2.2022 [Fn. 2], S. 145.

[46] Im Ergebnis ebenso die Beurteilung des Committee on the Use of Force der International Law Association: <www.justsecurity.org/80454/statement-by-members-of-the-international-law-association-committee-on-the-use-of-force/>.

[47] Zum kollektiven Selbstverteidigungsrecht Stefan Talmon: Waffenlieferungen an die Ukraine als Ausdruck eines wertebasierten Völkerrechts. Verfassungsblog, 9.3.2022, <https://verfassungsblog.de/waffenlieferungen-an-die-ukraine-als-ausdruck-eines-wertebasierten-volkerrechts/>. – Christian Lentföhr: Recht in Russlands Krieg gegen die Ukraine: Kiews bewaffnete Zivilisten. Lawblog, 4.3.2022, <www.law-blog.de/2968/ukraine-krieg-humanitaeres-voelkerrecht-schutz-zivilbevoelkerung-bewaffnete-zivilisten-kiew/>. – Kai Ambos: Wird Deutschland durch Waffenlieferungen an die Ukraine zur Konfliktpartei? Verfassungsblog, 28.2.2022, <https://verfassungsblog.de/wird-deutschland-durch-waffenlieferungen-an-die-ukraine-zur-konfliktpartei/>.

[48] UN RES/60/1, Para. 138ff. – International Commission on Intervention and State Sovereignty (ICISS), Report: The responsibility to protect, International Development Research Center Ottawa. – Francis Deng, Roberta Cohen: Normative Framework of Sovereignty, in: Francis Deng, Sadikiel Kimaro, Terrence Lyons, Donald Rothschild, William Zartman (Hg.): Sovereignty as responsility. Conflict Management in Africa. Washington, D.C. 1996, S. 1–33. – Ukraine: the UN’s „responsibility to protect“ doctrine is a hollow promise for civilians under fire. The Conversation, 7.3.2022.

[49] Putin, Rede vom 24.2.2022 [Fn. 2], S. 147.

[50] ECHR 073 (2022) 4.3.2022.

[51] Europarat, Beschluss vom 25.2.2022, CM/Del/Dec(2022)1426ter/2.3.

[52] „Na sobstvennych uslovijach“. Kakova cena vychoda Rossii iz Soveta Evropy. BBC Russia, 15.3.2022.

[53] Europarat, Beschluss vom 16.3.2022, CM/Del/Dec(2022)1426ter/2.8.

[54] ECHR 092(2022), 16.3.2022.

[55]   Resolution des Gerichtshofs vom 22.3.2022, <www.coe.int/de/web/portal/-/russia-ceases-to-be-a-party-to-the-european-convention-of-human-rights-on-16-september-2022>.

[56] IGH Urteil vom 16.3.2022 [Fn. 41].

[57] Peskov: RF ne možet prinjat’ vo vnimanie rešenie Meždunarodnogo suda OON po Ukraine Tass, 17.3.2022.

[58] UN, A/RES/ES-11/1.

[59] Zum Hintergrund der Uniting-for-Peace-Resolutionen: Christian Tomuschat: „Uniting for Peace“ – Ein Rückblick nach 50 Jahren, in: Die Friedenswarte, 2011, S. 289–303.

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