Die Ukraine gewinnt den Krieg …
Und der Westen will es nicht erkennen
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Abstract
Russland hat anders als von den meisten Beobachtern erwartet in der Ukraine keinen Blitzsieg errungen. Im Gegenteil: Russlands Truppen haben in wenigen Kriegswochen enorme Verluste erlitten, der Angriff auf Kiew ist gescheitert. Die ukrainische Armee ist hoch motiviert und gut geführt, sie agiert taktisch geschickt. Kampfgruppen der leichten Infanterie sind mit Panzerabwehrwaffen, Drohnen und Artilleriegeschützen ausstattet und haben mehrfach viel größere russländische Verbände besiegt. Das liegt an taktischen Fehlern der russländischen Armee, an Mängeln in der Logistik und Wartung sowie dem Fehlen eines kompetenten Unteroffizierskorps. Die Ukraine kann den Krieg gewinnen.
(Osteuropa 1-3/2022, S. 179183)
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Als ich im Jahr 2007 zur Zeit der US-Truppenverstärkung in den Irak reiste, stellte ich fest, dass die Lageeinschätzung in Washington in der Regel zwei bis vier Wochen hinter den Ereignissen vor Ort hinterherhinkte. Etwas Ähnliches ist heute zu beobachten. Beobachter und Kommentatoren geben mittlerweile widerwillig zu, dass Russlands Invasion in die Ukraine aufgehalten wurde und das Kriegsgeschehen ins Stocken geraten ist. Wahrscheinlicher ist etwas anderes: Die Ukraine gewinnt diesen Krieg.
Westlichen Beobachtern fällt es äußerst schwer, zu dieser Erkenntnis zu kommen. Die meisten Kenner der russländischen Armee hatten zunächst einen schnellen und umfassenden Sieg Russlands vorausgesagt. Dann argumentierten sie, dass Russlands Truppen eine Pause einlegen, aus ihren Fehlern lernen und sich neu formieren würden. Dann erklärten sie, dass Russland viel erfolgreicher gewesen wäre, wenn es seiner Doktrin gefolgt wäre. Jetzt heißt es, oft hinter vorgehaltener Hand, dass sich alles ändern kann, dass der Krieg noch nicht zu Ende ist und dass die Truppenstärke immer noch für Russland spricht. Das Versagen der professionellen Beobachter wird eines der Elemente dieses Krieges sein, die es nach seinem Ende zu untersuchen gilt.
Gleichzeitig gibt es nur wenige Spezialisten für die ukrainische Armee. Es ist ein eher esoterisches Fachgebiet. Daher hat der Westen meist die Fortschritte übersehen, die die Ukraine seit 2014 nach schmerzhaften Erfahrungen und dank einer umfassenden Ausbildung durch die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Kanada gemacht hat. Die ukrainische Armee ist nicht nur motiviert und gut geführt, sie agiert auch taktisch geschickt, indem sie Kampfgruppen der leichten Infanterie mit Panzerabwehrwaffen, Drohnen und Artilleriegeschützen ausstattet und so wiederholt viel größere russländische Verbände besiegt hat. Die Ukrainer verteidigen nicht nur ihre befestigten Stellungen in dicht besiedelten Gebieten, sondern agieren von dort aus und zwischen diesen Stellungen, getreu dem Clausewitzschen Diktum, dass die beste Verteidigung ein Schild aus gut gezielten Schlägen ist.
Die Zögerlichkeit, mit der westliche Wissenschaftler die aktuellen Beobachtungen in der Ukraine in ihre Analysen einfließen lassen, rührt zum Teil wohl daher, dass sie sich ihrem Gegenstand, der russländischen Armee, irgendwie verbunden fühlen – auch wenn sie deren Handeln aus moralischen Gründen verabscheuen. Wichtiger ist der starke Fokus auf moderne Waffen (da hat Russland einiges zu bieten), auf Truppenstärke (hier liegt Russland vorn, aber nur in Maßen) und auf das, was Militärstrategen behaupten. Militärtheoretiker bewundern allzu gerne das elegante taktische und operative Denken in der russländischen Armee, und übersehen dabei, wie es in der Praxis aussieht. Nun hat der Krieg die Aufmerksamkeit zwangsläufig auf die Truppe selbst gelenkt. So stützen sich zum Beispiel die meisten modernen Streitkräfte auf einen starken Kader von Unteroffizieren. Diese sorgen dafür, dass die Fahrzeuge gewartet werden, und übernehmen die Führung in kleinen Trupps. Die Zahl der Unteroffiziere in Russlands Armee ist gering, viele sind korrupt. Ohne fähige Unteroffiziere werden selbst hochentwickelte Kampffahrzeuge, die in großer Zahl nach einer überzeugenden Doktrin eingesetzt werden, zerschossen oder müssen aufgegeben werden, wenn die Truppen in Hinterhalte geraten oder unter Beschuss zusammenbrechen.
Am meisten steht der Erkenntnis, dass ein Sieg der Ukraine greifbar ist, allerdings dies im Weg: Der Westen hat sich in den vergangenen 20 Jahren daran gewöhnt, sich als schlaff, ineffektiv oder inkompetent zu betrachten. Es ist an der Zeit, diese Haltung zu überwinden und auf die Fakten zu schauen.
Die militärische Lage
Es gibt zahlreiche Hinweise, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnen wird. Man muss sich nur die verfügbaren Informationen genau ansehen. Zunächst ist da die offensichtliche Tatsache, dass Russlands Truppen nicht mehr vorankommen. Sie wird dadurch verschleiert, dass die aktuellen Karten über die militärische Lage in der Ukraine so viele große rote Flächen zeigen. Anders als die Karten suggerieren, sind dies nicht Gebiete, die Russland kontrolliert, sondern lediglich solche, durch die ihr Vormarsch führte.
Hinzu kommt, dass fast alle Luftangriffe auf die ukrainische Armee gescheitert sind. Es ist Russland nicht gelungen, die ukrainische Luftwaffe und das Luftabwehrsystem zu zerstören. Bezeichnend war auch, dass die 60 Kilometer lange Nachschubkolonne mehr als zwei Wochen nördlich von Kiew feststeckte. Russlands Verluste sind erschütternd – je nach Quelle zwischen 7000 und 14 000 tote Soldaten. Nach einer Faustregel bedeutet dies, dass mindestens weitere 30 000 Soldaten durch Verwundung, Gefangennahme oder Fahnenflucht verlorengegangen sind. Das hieße, dass mittlerweile mindestens 15 Prozent der gesamten Invasionsstreitkräfte ausgefallen sind. Damit wären zahlreiche Einheiten kampfunfähig. Und es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass die täglichen Verluste zurückgehen. Westliche Nachrichtendienste berichten von horrenden Opferzahlen – um die 1000 Soldaten pro Tag.[1]
Hinzu kommen die wiederholten taktischen Fehler, die selbst für Laien auf den Videos aus der Ukraine zu erkennen sind: Eng aneinander stehende Fahrzeuge, keine Infanterie, welche die Flanken deckt, kein koordiniertes Artilleriefeuer, keine Unterstützung aus der Luft durch Hubschrauber, stattdessen Panik, sobald ein Konvoi in einen Hinterhalt gerät. Auf jedes zerstörte Fahrzeug kommt ein weiteres, das erbeutet oder aufgegeben wurde.[2] Dies zeugt von einer Armee, die nicht bereit ist zu kämpfen. Es fällt auf, dass Russland nicht in der Lage ist, seine Kräfte auf eine oder zwei Angriffsachsen zu konzentrieren oder eine Großstadt einzunehmen. Das Gleiche gilt für die massiven Probleme bei der Logistik und der Wartung, die Beobachter mit dem entsprechenden Sachwissen sorgfältig dokumentiert haben.[3]
Russland hat weit mehr als die Hälfte seiner Kampftruppen in die Ukraine geschickt. Dahinter steht nicht mehr viel. Die russländischen Reservisten haben keine nennenswerte Ausbildung (im Gegensatz zur amerikanischen Nationalgarde oder zu den israelischen oder finnischen Reservisten[4]), und Putin hat geschworen, dass die Wehrpflichtigen des Jahrgangs 2022 nicht in die Ukraine geschickt werden, wenngleich es unwahrscheinlich ist, dass er sich daran halten wird. Die prahlerischen tschetschenischen Hilfstruppen wurden schwer getroffen und haben eindeutig keine Erfahrung mit Operationen verbundener Kräfte oder können für solche nicht eingesetzt werden.[5] Die Unzufriedenheit in Russland wird unterdrückt, aber sie flammt immer wieder auf, wenn mutige Menschen zu Einzelprotesten auf die Straße gehen. Hunderttausende gut ausgebildeter junger Menschen, nicht zuletzt aus dem IT-Bereich, haben das Land verlassen.[6]
Falls Russland bereits einen Cyberkrieg führt, so ist es damit nicht besonders erfolgreich. Die ukrainische Kommunikation ist nicht lahmgelegt. Ein halbes Dutzend russländischer Generäle ist entweder deswegen umgekommen, weil ihr Funksignal schlecht gesichert war, oder weil sie sich zur Rettung der Situation an die vorderste Front begeben mussten.
Zu den schlechten Nachrichten über die eigene Lage kommen die Informationen über die Situation beim Gegner: keine Kapitulation auf ukrainischer Seite, keine nennenswerten Panikausbrüche, kein größerer Zusammenbruch von Einheiten und nur wenige lokale Quislinge. Die größeren Fische im prorussländischen politischen Teich wie Viktor Medvedčuk wissen, warum sie schweigen – wenn sie nicht bereits die Ukraine verlassen haben. Mittlerweile gibt es auch Berichte über lokale ukrainische Gegenangriffe, die zu einem Rückzug der russländischen Truppen geführt haben.
Die westliche Berichterstattung über den Krieg hat diese Entwicklungen nicht in den Fokus gerückt. Phillips P. O’Brien (University of St. Andrews) hat zu Recht bemerkt, dass die Bilder von zerstörten Krankenhäusern, toten Kindern und ausgebombten Wohnblocks zwar den Schrecken und die Brutalität dieses Krieges zeigen, nicht aber seine militärische Seite. Um es auf den Punkt zu bringen: Wenn Russlands Armee eine Stadt dem Erdboden gleichmacht und die Zivilisten umbringt, hat sie mit großer Wahrscheinlichkeit die Verteidiger nicht getroffen. Diese werden aus den Trümmern heraus Rache an den Angreifern verüben. Genau dies haben die Russen vor 80 Jahren in ihren Städten mit den Deutschen gemacht. Nüchterner Journalismus – das Wall Street Journal hat sich hier hervorgetan – ist analytisch und bringt detaillierte Berichte über wichtige Schlachten, etwa die Vernichtung einer russländischen Bataillonsgruppe in Voznesens’k.[7]
Die meisten Beobachter haben diesen Krieg unter einem zu engen Blickwinkel betrachtet und ihn ausschließlich als einen Konflikt zwischen Russland und der Ukraine dargestellt. Wie die meisten Kriege wird jedoch auch dieser von zwei Koalitionen geführt. Im Kampf stehen hauptsächlich, aber nicht ausschließlich, russländische und ukrainische Verbände. Auf der Seite Russlands kämpfen einige tschetschenische Hilfstruppen, die nicht Teil der russländischen Streitkräfte sind. Bislang haben sie sich nicht als nützlich erwiesen und rasch ihren Kommandeur verloren. Möglicherweise werden einige Syrer eingesetzt, die noch schlechter in die russländischen Verbände integriert werden können. Schließlich hat Russland mit Belarus einen äußerst halbherzigen Verbündeten. Bürger des Landes haben bereits Eisenbahnverbindungen in die Ukraine sabotiert. Sollte die Armee den Befehl zum Einmarsch in die Ukraine erhalten, ist eine Meuterei nicht ausgeschlossen.
Auch die Ukraine hat ihre Hilfstruppen, etwa 15 000 ausländische Freiwillige. Einige bringen wahrscheinlich wenig Nutzen oder stellen sogar eine Gefahr dar, andere aber leisten wertvolle Dienste: Scharfschützen, Sanitätsoffiziere und andere Spezialisten, die in westlichen Armeen gekämpft haben. Noch wichtiger ist, dass die Ukraine die Rüstungsindustrie von Ländern wie den USA, Schweden, der Türkei und der Tschechischen Republik im Rücken hat. Jeden Tag strömen Tausende moderner Waffen in die Ukraine: die besten Panzer- und Flugabwehrraketen der Welt, Drohnen, Scharfschützengewehre, die gesamte Palette der Kriegsausrüstung. Auch waren die USA nicht nur über Russlands Truppenaufmarsch vor dem Krieg und über die Absichten Moskaus exzellent informiert. Sie wissen auch heute über die tatsächlichen Operationen genau Bescheid. Die Leute aus dem Umfeld der US-Geheimdienste wären dumm, würden sie diese Informationen, einschließlich Echtzeitaufklärung, nicht mit den Ukrainern teilen. Betrachtet man die geschickte Platzierung der ukrainischen Luftabwehr und der ukrainischen Truppen, kann man davon ausgehen, dass sie nicht dumm sind.
Ein Patt?
Die Rede von einer Pattsituation verdeckt die Dynamik des Kriegs. Je erfolgreicher man ist, desto wahrscheinlicher sind weitere Erfolge; je öfter man scheitert, desto eher steht weiteres Scheitern bevor. Es gibt keine öffentlich zugänglichen verlässlichen Hinweise darauf, dass Russland in der Lage ist, die Truppen neu zu gruppieren und in großem Umfang Nachschub zu liefern; es gibt jedoch Hinweise auf das Gegenteil. Wenn die Ukraine weiterhin Schlachten gewinnt, könnte der Zusammenbruch einzelner russländischer Einheiten deutlicher vor Augen treten, vielleicht kommt es auch zu Kapitulation und Fahnenflucht in großem Stil. Leider wird sich Russlands Armee bis dahin und auch dann auf das konzentrieren, was sie am besten kann: Städte bombardieren und Zivilisten töten.
Die Ukrainer tun, was sie können. Jetzt ist es an der Zeit, sie schnell und umfänglich mit dem auszustatten, was sie an Waffen benötigen. Teilweise geschieht dies bereits. Russlands Volkswirtschaft muss erdrosselt, der Druck auf die Elite erhöht werden.[8] Diese hält im Großen und Ganzen nichts von Vladimir Putins bizarrer Opferideologie und dem paranoiden großrussischen Nationalismus. Wir müssen offizielle und inoffizielle Stellen mobilisieren, um den Kokon zu durchdringen, in den das Putin-Regime die Menschen in Russland einspinnen will. Sie müssen erfahren, dass Tausende junge Männer verstümmelt, in Särgen oder überhaupt nicht aus einem irrsinnigen und schlecht geführten Angriffskrieg heimkehren werden, der gegen ein Volk geführt wird, das sie von nun an für immer hassen wird. Wir sollten damit beginnen, Kriegsverbrecherprozesse vorzubereiten und die Angeklagten zu benennen, wie wir es auch während des Zweiten Weltkriegs hätten tun sollen. Vor allem müssen wir einen Marshallplan zum Wiederaufbau der ukrainischen Wirtschaft ankündigen. Nichts wird das Selbstvertrauen der Ukrainer so sehr stärken wie das Wissen, dass wir an ihren Sieg glauben und ihnen helfen werden, eine erstrebenswerte Zukunft zu erschaffen für ein Volk, das so entschlossen für seine Freiheit gekämpft hat.
Was die Tage bis zum Schachmatt betrifft, so sollte man im Bewusstsein handeln, dass Putin zwar in der Tat zu sehr schlimmen Dingen in der Lage ist, aber keine Schüchternheit kennt. Wenn er einen Ausweg sucht, wird er es uns wissen lassen. Solange dies nicht der Fall ist, verringern wir das menschliche Leid dadurch, dass wir den Druck auf ihn erhöhen.
Aus dem amerikanischen Englischen von Volker Weichsel, Berlin
[1] Russia’s war for Ukraine could be headed toward stalemate. The Washington Post, 20.3.2022.
[2] Attack On Europe: Documenting Equipment Losses During The 2022 Russian Invasion Of Ukraine. <www.oryxspioenkop.com/2022/02/attack-on-europe-documenting-equipment.html>.
[3] So Trent Telenko in mehreren Twitter-Threads, zuletzt hier: <https://twitter.com/TrentTelenko/status/1505370275273183239>.
[4] How the Finns Deter Russian Invasion. The Atlantic, 2.3.2022.
[5] Als Operation verbundener Kräfte wird ein Konzept der Gefechtsführung bezeichnet, bei dem unterschiedliche Teilstreitkräfte mit ihren verschiedenen Truppen und Waffengattungen gemeinsam eingesetzt werden – Übers.
[6] Russia faces brain drain as thousands flee abroad. bbc.com, 13.3.2022.
[7] A Ukrainian Town Deals Russia One of the War’s Most Decisive Routs. Wall Street Journal, 16.3.2022.
[8] Brook Harrington: The Russian Elite Can’t Stand the Sanctions. The Atlantic, 5.3.2022.
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