Editorial
Der Geist der Zeit
Abstract in English
(Osteuropa 7/2021, S. 34)
Volltext
Die innenpolitische Ordnung eines Staates und sein außenpolitisches Verhalten sind untrennbar miteinander verbunden. Das wissen wir seit Immanuel Kants Traktat „Zum Ewigen Frieden“. Darauf gründet eine Interpretation der internationalen Beziehungen. Sie lautet: Je autoritärer die Innenpolitik, desto militarisierter die Außenpolitik.
Die Probe aufs Exempel liefert zur Zeit Russland. Dort hat das Putin-System einen autoritären Polizeistaat errichtet. Repressionen treffen immer mehr unabhängige Medien, Journalisten, Strafverteidiger, Soziologen, Menschenrechtler, Korruptionsbekämpfer, Umweltschützer, Oppositionelle. Sie werden zu „ausländischen Agenten“ oder „extremistischen Organisationen“ erklärt und verboten, Mitglieder und Unterstützer werden kriminalisiert, inhaftiert oder ins Exil getrieben. Der Deutsch-Russische Austausch (DRA), der seit drei Jahrzehnten auch in Russland arbeitet und Begegnungen zwischen Zehntausenden Menschen der beiden Länder ermöglichte, wurde zur „unerwünschten Organisation“ erklärt. Russischen Partnern des DRA droht die strafrechtliche Verfolgung, wenn sie weiter an Projekten zur Begegnung und Verständigung arbeiten. Ende September 2021 wurde den „Soldatenmüttern“ per Erlass des Geheimdiensts FSB verboten, Informationen über Rechtsverstöße in der Armee zu sammeln und zu veröffentlichen. Die Repressionen sollen einschüchtern, Angst verbreiten und all jene Menschen brechen, die sich in Russland für Demokratie und Menschenrechte einsetzen.
Die zunehmend repressive innenpolitische Ordnung verheißt auch den Nachbarn wie der Ukraine und der EU nichts Gutes. Wer eine Vorstellung vom herrschenden außenpolitischen Denken gewinnen will, ist bei Sergej Karaganov gut aufgehoben. Grund genug, ihm im vorliegenden Heft Raum zu geben. Seit über vier Jahrzehnten bewegt sich Karaganov als učenyj-meždunarodnik, als Experte für internationale Politik, im Zentrum des außenpolitischen Establishments Moskaus. Er ist der Grandseigneur des „Rats für Außen- und Verteidigungspolitik“, Professor und Dekan der Fakultät für Weltpolitik und Weltwirtschaft an der „Higher School of Economics“. Vor allem bringt er zuverlässig den jeweiligen Geist der Zeit zum Ausdruck. In der Perestrojka war er ein Verfechter des Neuen Denkens, in den 1990er Jahren vertrat er liberale Ideen, plädierte für Multilateralismus und eine Annäherung Russlands an die EU und die USA; im vergangenen Jahrzehnt propagierte er die Achse Moskau-Peking. Und heute? Heute sieht er sich im Kalten Krieg mit dem Westen. Dank des Rückhalts von China, so seine These, könnte Russland ihn gewinnen, wenn es alle nationalen Kräfte anspanne. Anders als in der Sowjetunion seien sich im heutigen Russland das Volk und die Eliten darüber einig, moralisch auf der richtigen Seite des Konflikts zu stehen. Die liberalen Demokratien seien in der Krise und die westlichen Gesellschaften aufgrund ihrer Degeneration dem Untergang geweiht. Oswald Spengler hätte seine Freude an diesem Moskauer Denker gehabt.
Immerhin ist bei Sergej Karaganov davon auszugehen, dass er selbst die Feder zu seiner Mobilmachungsprosa führt. Das ist bei Vladimir Putins Einlassungen zur „Historischen Einheit der Russen und der Ukraine“, die wir ebenfalls in diesem Heft dokumentieren und diskutieren, höchstwahrscheinlich nicht der Fall. Denn Reden und Texte von Präsidenten sind ein Genre eigener Art. Diese Publikationen entstehen im Maschinenraum der Politik. Sie sind ein Gemeinschaftswerk von Referenten und Redenschreibern, Historikern und Polittechnologen. Nie macht ein Präsident Urheberrechte geltend. Aber die bloße Tatsache, dass der Präsident als Autor firmiert, verleiht dem Text ein besonderes Gewicht. Und es lohnt sich, diesen Text, den der Kreml im Sommer 2021 auf der Website des Präsidenten veröffentlichte, sorgfältig zu lesen. In Deutschland wurde er weitgehend ignoriert. Dies ist ein Fehler. Denn dieser Text bietet Einblick in die außenpolitische Gedankenwelt Vladimir Putins und seiner politischen Umgebung. Diesen Text durchweht ein imperialer Geist. Er ist eine Mischung aus russischem Ethnonationalismus und Sowjetpatriotismus. Vor allem aber ist er revisionistisch. Russlands Elite hat weder verstanden, dass es eine ukrainische Nation gibt, noch akzeptiert sie die nationale Souveränität der Ukraine. Das ist eine gefährliche Gemengelage.
Revisionismus, Drohungen und Einschüchterung. Das ist der außenpolitische Geist der Zeit in Moskau. Er spiegelt die Verhärtung in der Innenpolitik.
Berlin, im Oktober 2021
Manfred Sapper, Volker Weichsel