Erinnerung als Waffe
Die Geschichtspolitik des Putin-Regimes
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Abstract
Die Geschichtspolitik ist zu einer Waffe des Putin-Regimes geworden. Seine Repräsentanten setzen sie zunehmend offensiv und aggressiv in der Innen- und der Außenpolitik ein. Sie dient zur Mobilisierung der Bevölkerung, zur Herrschaftsstabilisierung und zur Konsolidierung des Bildes von Russland als belagerte Festung. Die Themen sind bekannt: der Zweite Weltkrieg, Stalin und die 1990er Jahre. Die Formen des geschichtspolitischen Kampfs haben sich geändert: Erinnerungsorte werden zum Verschwinden gebracht, Opferkonkurrenzen konstruiert, negative Ereignisse zu positiven umgedeutet. Daraus erwachsen Geschichtsmythen und Propaganda. Sie erschweren es Russland, seine schwierige Vergangenheit zu bewältigen.
(Osteuropa 6/2020, S. 328)
Volltext
Im Jahr 2020 dominiert die Geschichte die politische Debatte in Russland. Der Kreml hat diese rund um den 75. Jahrestag des Siegs der Sowjetunion im Großen Vaterländischen Krieg zu einem innen- und außenpolitischen Instrument gemacht und eine eigene „Geschichtsindustrie“ entwickelt.
Auf alle politischen und gesellschaftlichen Debatten fällt ein immer länger werdender Schatten der Vergangenheit. Eine offiziöse Version der kollektiven Erinnerung wird gegen westliche, „falsche“ oder auch nur differenziertere Interpretationen der Geschichte in Stellung gebracht, die angeblich die Größe Russlands schmälern und seine Einheit gefährden. Dies kennt man in Russland bereits seit den 1990er Jahren. Eine solche Geschichtspolitik betreibt im Grunde jeder Staat, der seine Geschichte an der aktuellen politischen Konjunktur ausrichtet und um die Schaffung eines Heldenepos bemüht ist. Doch selten wird Geschichte so politisiert und mythologisiert und mit solcher Aggressivität instrumentalisiert, wie es das herrschende Regime in Russland gegenwärtig tut.
Die Themen sind seit über 20 Jahren die gleichen: der Zweite Weltkrieg, die Stalinzeit und die 1990er Jahre. Doch im „Kampf um die Erinnerung“ werden neue Waffen eingesetzt und alte noch rigoroser zur Anwendung gebracht. Erinnerungsorte werden zum Verschwinden gebracht, Opferkonkurrenzen konstruiert und historische Ereignisse umgewertet: Beschämende, negative Ereignisse, die man einst eher dem Vergessen anheimgeben wollte, werden positiv umgedeutet. Das schlagende Beispiel ist die offizielle Haltung zum Hitler-Stalin-Pakt.
Geschichte dient der politischen Mobilisierung, sie ist ein Mittel, um die gesellschaftliche Unterstützung für das Putin-Regime zu vergrößern. Die polittechnologische Umsetzung dieses Ziels ist einfach. Die wichtigste Quelle allen historischen Wissens ist der „Chefhistoriker“ des Landes – der Präsident persönlich. An ihm orientiert sich ein großer Teil der Bevölkerung.
Die Militärparade zum „Tag des Sieges“ über Hitlerdeutschland am 9. Mai spielte eine zentrale Rolle in der Mobilisierungsstrategie des Kreml. Doch wegen der Sars-CoV-2-Pandemie sah sich Putin im April 2020 gezwungen, die Parade zu verschieben. Sie wurde sechs Wochen später nachgeholt. Zudem wurde der offizielle Tag des Gedenkens an das Ende des Zweiten Weltkriegs per Parlamentsbeschluss vom 2. auf den 3. September verlegt, also auf das Datum, an dem der Gedenktag auch in der Sowjetunion begangen wurde.[1]
Die Kenntnisse breiter Kreise der Bevölkerung über die Geschichte Russlands und der Sowjetunion werden zunehmend diffus. Das eigentliche Problem besteht aber darin, dass Geschichtskenntnisse durch vereinfachte, plakative propagandistische Mythen ersetzt werden. Altbekannte politische Klischees aus stalinistischer Zeit kommen wieder in Umlauf. So wird etwa der Mythos wiederbelebt, dass für die Erschießung Tausender Polen in Katyń das nationalsozialistische Deutschland verantwortlich gewesen wären und nicht etwa die sowjetische Geheimpolizei NKVD.
Die zwei Fronten des Krieges um die Erinnerung
Wie wichtig die Geschichtspolitik für Russlands Staatsführung ist, zeigt sich schon daran, dass in der Arbeitsgruppe, die Präsident Vladimir Putin im Februar 2020 mit der Erarbeitung von Verfassungsänderungen beauftragte, der Vorschlag aufkam, in Russlands Verfassung den Kampf gegen eine „Verfälschung der Geschichte“ festzuschreiben. Talija Chabrieva, Mitglied der Arbeitsgruppe und Direktorin des Instituts für Gesetzgebung und Rechtsvergleich, erklärte: „Dem Kampf gegen Geschichtsfälschung und der Bewahrung unseres historischen Gedächtnisses muss Verfassungsrang eingeräumt werden.“[2]
Putin zeigte sich mit dem Vorschlag des Duma-Abgeordneten Vjačeslav Nikonov einverstanden, in die Verfassung eine Bestimmung aufzunehmen, die eine verfälschende Darstellung der Geschichte für unzulässig erklärt:
"Was die Verhinderung von Geschichtsfälschung angeht, so habe ich mich dazu schon mehrfach geäußert. Wenn Sie es für unabdingbar und möglich halten, dies zu tun, dann denke ich, dass es völlig angebracht ist, das Augenmerk darauf zu lenken, also auf die historische Wahrheit, die Unzulässigkeit der Geschichtsfälschung und die Schmälerung der Bedeutung des heldenhaften Einsatzes unseres Volkes bei der Verteidigung des Vaterlandes […]. Es ist angebracht, dies in der Verfassung unseres Landes ganz klar zum Ausdruck zu bringen."[3]
Unter den Verfassungsänderungen findet sich auch eine Erweiterung von Artikel 67 über den föderativen Aufbau der Russländischen Föderation. Die entsprechenden Absätze sollen künftig lauten:
"Die Russländische Föderation, geeint durch ihre tausendjährige Geschichte, bewahrt die Erinnerung an die Vorfahren, die uns ihre Ideale und den Glauben an Gott weitergegeben haben, sowie die Kontinuität in der Entwicklung des russländischen Staates. Sie erkennt die historisch gewachsene staatliche Einheit an. […] Die Russländische Föderation ehrt das Andenken an die Verteidiger des Vaterlandes und trägt Sorge für eine Verteidigung der historischen Wahrheit. Die Herabsetzung der Bedeutung des heldenhaften Einsatzes des Volkes bei der Verteidigung des Vaterlandes ist unzulässig."[4]
Bis vor kurzem waren „Erinnerungskriege“ zwar ein wichtiger Gegenstand der historischen Forschung, doch blieb die Debatte auf einen engen Expertenkreis begrenzt. Nun sind sie Gegenstand der großen Politik. Das Putin-Regime führt diesen „Erinnerungskrieg“ an zwei Fronten: innenpolitisch gegen vermeintliche „Geschichtsfälscher“ und außenpolitisch. Hier stellt es jegliche „Geschichtsklitterung“ – sei sie real oder fiktiv – als Teil einer hybriden Kriegsführung des Westens gegen Russland dar.
In Russland richtet sich der Kampf um die Erinnerung in erster Linie gegen ein unabhängiges historisches Bewusstsein der Gesellschaft. So versucht der Staat etwa, Memorial, die für das Land wichtigste Organisation, die sich der Erinnerung an die politischen Repressionen des Stalinismus widmet, mit immer neuen Strafen in die Knie zu zwingen.[5] Und westlichen „falschen“ Darstellungen der Geschichte Russlands stellt er die offizielle historische „Wahrheit“ gegenüber. Die wichtigsten Felder, auf denen dieser „Erinnerungskrieg“ geführt wird, sind der Zweite Weltkrieg und die Stalin-Ära.
Geschichte ist ein wichtiges identitätsstiftendes Element der Menschen. Obwohl das private und familiäre Gedächtnis große Bedeutung haben, prägt die staatliche Erinnerungspolitik das historische Bewusstsein der breiten Bevölkerung. Das geschieht durch die offizielle Propaganda, Militärparaden, historische Reenactments, Gedenkrituale wie den „Tag der Erinnerung und der Trauer“ am 22. Juni oder das „Unsterbliche Regiment“ sowie die Massenkultur in Form „patriotischer“ und „militärhistorischer“ Kinofilme.[6] Symbolische Aktionen dienen dem Staat dazu, die emotionale Wahrnehmung von Geschichte zu stärken. So wurde der 295. Jahrestag der Überführung der Reliquien Aleksandr Nevskijs von Vladimir nach St. Petersburg 2019 mit einer großen religiösen Prozession in Petersburg begangen.[7] In Kubinka westlich von Moskau wurde im Juni 2020 die neue „Hauptkathedrale der Streitkräfte“ geweiht, deren Altarstufen aus dem Metall erbeuteter Waffen aus dem Großen Vaterländischen Krieg gegossen sind.[8]
Der herrschende Diskurs ist imperial, militaristisch, bedrohungszentriert. Die Propaganda unterstreicht den ausschließlich defensiven Charakter von Russlands militärischen Leistungen in seiner Geschichte. In der öffentlichen Meinung überwiegt weiterhin der Stolz auf die Eroberungen und territorialen Erwerbungen des Landes, zu denen sich in jüngster Zeit die Eingliederung der Krim hinzugesellt hat.[9] Und analog zum Umgang mit der Krim werden auch die anderen „defensiven Eroberungen“ als Wiederherstellung der historischen Gerechtigkeit dargestellt.
Der Anthropologe James Wertsch bemerkt, dass das „russländische nationale Gedächtnis in mancher Hinsicht […] von der narrativen Schablone der ‚Vertreibung eines ausländischen Feindes‘ geprägt“ sei.[10] Die Existenz eines Anderen, der als Eroberer und Angreifer auftritt, ist ein wichtiges Element der historischen negativen Identitätsbildung. Hier wirkt das defensiv-militaristische Bewusstsein weiter, auf das sich die sowjetische Macht in all den Jahrzehnten ihrer Existenz stützte.
Der Kampf gegen die „Geschichtsfälschung“ ist zu einem Mittel geworden, um eine offizielle Geschichtsmythologie zu konstruieren. Eine solche Geschichtspolitik kultiviert bewusst den Stolz auf die „weißgebleichten“ dunklen Seiten der eigenen Geschichte, auf die Härte und Grausamkeit der staatlichen Macht. Indem die Urheber dieses offiziösen historischen Diskurses die Staatsmacht sakralisieren, die Geschichte auf die Taten von Zaren, politischen Führern und Oberbefehlshabern reduzieren und das Volk als reines Verschleißmaterial der großen Geschichte betrachten, legitimieren sie die autoritären Praktiken des heutigen politischen Regimes.[11]
Sogar das private Gedächtnis muss sich dem vorgegebenen historischen Diskurs anpassen. Das ist keine Besonderheit der Geschichtspolitik Russlands. Jeder Staat erschafft sich sein eigenes Helden- und Opferpantheon, seine historischen Hierarchien und Erinnerungsorte. In vielen Ländern, in denen Geschichtspolitik einen besonderen politischen Stellenwert hat, gibt es Versuche, negative Vorstellungen von der Nation und ihrer Geschichte zu blockieren. In Polen etwa wurde 2018 ein Gesetz verabschiedet – und nach Protesten wieder entschärft –, das es unter Strafe stellte, dem polnischen Staat oder Volk die Verantwortung oder eine Mitverantwortung für Verbrechen des nationalsozialistischen Besatzungsregimes zuzuschreiben.[12] In Litauen wiederum löste Rūta Vanagaitė einen Skandal aus, als sie in ihrem Buch Mūsiškiai (Die Unsrigen, 2016) behauptete, die Litauer hätten viel stärker am Holocaust mitgewirkt als allgemein angenommen.[13] Das Selbstbild „Auch wir sind Opfer“ ist ein wichtiger Teil des historischen Gedächtnisses vieler Völker mit einer besonders schwierigen Geschichte. Das kollektive Gedächtnis lebt in dem „sozialen Rahmen“ (Maurice Halbwachs), den ihm der Staat vorgibt. Der Staat „okkupiert“ gleichsam das kollektive Gedächtnis, das sich jedoch auch von sich aus in das staatliche Narrativ einfügt.
Mag sich die Geschichtspolitik vieler Länder auch ähneln, so ist sie in Russland doch in zweierlei Hinsicht eine besondere. Zum einen weigert sich der Staat, über „schwierige Fragen der Geschichte“ zu diskutieren, zum anderen wird die Erinnerungspolitik zunehmend aggressiv und offensiv eingesetzt. Die zentralen Thesen, Argumente und Diskussionspunkte sind längst bekannt, aber Ende 2019, Anfang 2020 erreichte der Geschichtsdiskurs in seiner Härte und Offenheit einen neuen Höhepunkt, als sich die höchsten Repräsentanten des Staates äußerten und eine Lesart der Geschichte kraft ihrer Autorität kanonisierten. Einen Anlass, Stalin zu rechtfertigen und den Kampf gegen „Geschichtsfälscher“ zu führen, bot der 80. Jahrestag des Hitler-Stalin-Pakts. Noch 2009 hatte Vladimir Putin in der polnischen Tageszeitung Gazeta Wyborcza geschrieben: „Ohne jeden Zweifel kann man den Molotov-Ribbentrop-Pakt mit vollem Recht verurteilen.“[14] Nun lässt eine massive politische Kampagne erkennen, dass sich nicht nur die Tonlage verändert hat, sondern dass es zu einer Kehrtwende in Russlands Geschichtspolitik gekommen ist.
Antipolnische Kampagne
Am 22. August 2019 erschien in der Regierungszeitung Rossijskaja gazeta der Beitrag „Es gab keinen anderen Ausweg“ von Sergej Naryškin, dem Chef des Auslandsgeheimdienstes SVR und Vorsitzenden der Russländischen Historischen Gesellschaft (Rossijskoe istoričeskoe obščestvo, RIO). Die Kernthese lautete:
"Die weiteren Ereignisse bestätigten, dass eine Weigerung, auf Ribbentrops Vorschläge einzugehen, die militärische und politische Lage der Sowjetunion erheblich verschlechtert hätte."[15]
Einen Tag später wurde eine zweite Salve abgefeuert: In einem Beitrag mit dem Titel „Ein diplomatischer Triumph der UdSSR“ erklärte Kulturminister Vladimir Medinskij, bei der Verurteilung des Molotov-Ribbentrop-Pakts durch den Zweiten Kongress der Volksdeputierten der UdSSR im Jahr 1989 habe es sich um eine „hysterische Verteufelung“ gehandelt.[16]
Im September 2019 kam es zu einem Skandal: Polens Staatsführung lud Russlands Präsidenten nicht zu der Gedenkfeier zum 80. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkriegs nach Warschau ein. Diese Entscheidung war eine echte Fehlkalkulation. Sie provozierte nicht nur eine Welle antipolnischer Stimmungen unter Russlands politischen Eliten, sondern trug zur weiteren Verschärfung der russländischen Geschichtspolitik bei. Ein besseres Geschenk hätte Polen den Vertretern einer isolationistischen Linie in Russlands Establishment nicht machen können. Die Propagandisten einer aggressiven Geschichtspolitik hatten nun ein konkretes Objekt, und jene, die Russland ständig als „belagerte Festung“ in einem hybriden Krieg darstellen, hatten einen konkreten Feind. Duma-Sprecher Vjačeslav Volodin nannte Polen einen „Satellitenstaat“ – freilich nicht in Bezug auf NS-Deutschland, sondern auf die USA heute – und brachte damit zum Ausdruck, was er von Polens politischer Selbstständigkeit hält.[17] Und Sergej Ivanov, der ehemalige Verteidigungsminister und ein Putin-Vertrauter, behauptete, Ende der 1930er Jahre habe Polen agiert „wie eine Hyäne“ – eine Anspielung auf Churchills Bemerkung, Polen habe bei der Aufteilung der Tschechoslowakei „mit dem Appetit einer Hyäne“ mitgemacht.[18]
Symptomatisch ist, wie sich die Haltung des Kreml zum geheimen Zusatzprotokoll des Molotov-Ribbentrop-Pakts entwickelt hat. Darin spiegeln sich die verschiedenen Perioden der Geschichtspolitik wider. In der Sowjetunion wurde die bloße Existenz eines solchen Zusatzprotokolls verschwiegen. Noch Michail Gorbačev gab nicht sofort zu, dass diese „Leiche“ im Keller lag – im „streng geheimen“ Paket Nr. 34 des 6. Sektors der Allgemeinen Abteilung des ZK der KPdSU.[19] Diese Haltung war ein Schweigen aus Scham. Dann folgte die Periode der Enthüllung der Wahrheit. Damit ging die Ablehnung des Pakts und des Zusatzprotokolls einher. Der Kongress der Volksdeputierten der UdSSR erklärte am 24. Dezember 1989, das geheime Zusatzprotokoll und alle weiteren geheimen Abmachungen zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion seien „rechtlich haltlos und vom Moment ihrer Unterzeichnung an ungültig“.[20] Dann kam die Zeit, in der sich die Zeichen umkehrten: Nunmehr sind der Pakt und sein Zusatzprotokoll nicht nur gut, sondern sogar ein Sieg der Diplomatie und von Stalin persönlich.
In dieser angespannten Atmosphäre im Herbst 2019 hätte der nächste Schritt eine offizielle Rechtfertigung des Sowjetisch-Finnischen Krieges (Winterkrieges) sein können, dessen Beginn sich am 30. November 2019 ebenfalls zum 80. Male jährte. Das schien umso wahrscheinlicher, als Russlands Präsident das Handeln der sowjetischen Führung damals ohnehin schon öffentlich verteidigt hatte. Vor Mitgliedern der Militärhistorischen Gesellschaft hatte Putin im Jahr 2013 erklärt:
"Es wurde klar, dass man allein mit den Kräften des Militärbezirks Leningrad diesen Krieg nicht gewinnen konnte, und so begann man anders vorzugehen. Und schon bekam die gegnerische Seite die ganze Macht des russländischen, damals sowjetischen Staates zu spüren."[21]
Doch im Winter 2019 wurde der Beginn des Kriegs gegen Finnland nicht offiziell „gefeiert“: Die guten Beziehungen zu Finnland sprachen offensichtlich gegen den Versuch, aus diesem historischen Thema Kapital zu schlagen. Doch im Dezember 2019 heizte das Putin-Regime den Kampf an der Geschichtsfront nochmal kräftig an.
Die geschichtspolitische Dezemberrevolution
Zwischen dem 11. Dezember 2019 und dem 25. Dezember 2019 brachte Präsident Putin zu verschiedenen Anlässen, darunter auf seiner Jahrespressekonferenz, sechsmal kritisch die Rede auf die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 19.9.2019.[22] Das Europaparlament hatte darin betont, „dass der Zweite Weltkrieg […] als unmittelbare Folge“ des Hitler-Stalin-Paktes und seiner geheimen Zusatzprotokolle ausgebrochen sei, „in deren Rahmen die beiden gleichermaßen das Ziel der Welteroberung verfolgenden totalitären Regime Europa in zwei Einflussbereiche aufteilten“.[23] Nach der ausgebliebenen Einladung an Präsident Putin zur Gedenkfeier nach Warschau war diese Resolution der zweite Auslöser für eine Verschärfung der Moskauer Geschichtspolitik.
Nicht nur Russlands politische Klasse, sondern auch die Mehrheit der Bevölkerung, will nicht akzeptieren, dass es möglich ist, dass die Sowjetunion zwar den Nationalsozialismus im Großen Vaterländischen Krieg besiegt hat, diesen Krieg aber gemeinsam mit dem nationalsozialistischen Deutschland begonnen hat.
Bei seinen Auftritten im Dezember 2019 legte Putin seine Logik besonders deutlich dar. Seine Hauptargumente hatte er bereits 2009 in der Gazeta Wyborcza vorgebracht:
"Waren denn die Grenzen in Europa nicht weit früher als am 1. September 1939 ins Wanken geraten? Hatte es nicht den Anschluss Österreichs und die Zerschlagung der Tschechoslowakei gegeben, als nicht nur Deutschland, sondern auch Ungarn und letztlich auch Polen an der territorialen Neuaufteilung Europas mitwirkten? Noch am selben Tag, an dem das Münchner Abkommen unterzeichnet wurde, richtete Polen ein Ultimatum an die Tschechoslowakei und ließ seine Armee gleichzeitig mit den deutschen Truppen in das Gebiet um Teschen und Freistadt einrücken. […] Und schließlich, was war denn das militärisch-politische Echo auf das Komplott, das am 29. September 1938 in München geschmiedet wurde? Kam Hitler nicht schon damals endgültig zu dem Schluss, dass „alles erlaubt“ sei? […] Deutschlands Vorschlag eines Nichtangriffspakts abzulehnen – in einer Situation, in der die potenziellen Verbündeten der UdSSR im Westen bereits ähnliche Vereinbarungen mit dem Deutschen Reich getroffen hatten und nicht mit der Sowjetunion zusammenarbeiten wollten – und es im Alleingang mit der gewaltigen Kriegsmaschinerie des Nationalsozialismus aufzunehmen, dies hielt die sowjetische Diplomatie jener Zeit völlig zu Recht für mindestens unvernünftig."[24]
Von Putins jüngsten Äußerungen unterscheidet sich seine damalige Argumentation insofern, als er den Pakt „moralisch“ verurteilte und Polen mitfühlend als „hilflos ausgeliefert“ bezeichnete. Im selben Beitrag für die Gazeta Wyborcza findet sich eine Formulierung, in der Vorsicht mit gegenseitigen Vorwürfen mitschwingt:
"Es gibt kein Land, das nicht auch tragische Seiten, jähe Umbrüche und staatliche Entscheidungen kennen würde, die weit entfernt sind von hohen moralischen Prinzipien. […] Es ist jedoch höchst schädlich und unverantwortlich, aus der Erinnerung Kapital schlagen zu wollen und die Geschichte zu präparieren und in ihr einen Vorwand für gegenseitige Vorwürfe und Beleidigungen zu suchen."
Zehn Jahre später ist von einer derartig vorsichtigen Herangehensweise an historische Probleme nichts mehr zu spüren, die es ermöglichte, sich auch über Fragen des historischen Gedächtnisses zu einigen – man denke nur an Putins Kniefall vor dem Denkmal für die in Katyń ermordeten Polen am 7. April 2010.[25] Je mehr sich Russlands politische Elite von dieser Position abwendete, desto schlechter wurden die Beziehungen zu Polen und desto härter wurde die eigene Geschichtspolitik. Dies fügt sich in den Trend ein, der seit einigen Jahren in Russland zu bemerken ist: die Restalinisierung der Darstellung der Geschichte. Die Rechtfertigung und Exkulpierung Stalins sind zunehmend zur sozialen Norm geworden.[26]
Der Hitler-Stalin-Pakt: Argumente und Gegenargumente
Zu den Argumenten, die Russlands Präsident anführt, lassen sich einige Gegenargumente vorbringen. Dies gilt etwa für seine Behauptung, andere Länder hätten schon früher als die Sowjetunion einen Nichtangriffspakt mit NS-Deutschland geschlossen. Das stimmt, aber diese Dokumente enthielten keine geheimen Zusatzprotokolle, die eine Aufteilung souveräner Staaten in Einflusssphären vorsahen. Zu unterscheiden sind zwei Logiken: Die erste bestand darin, den Kriegsbeginn hinauszuzögern, also Zeit zu gewinnen. Das war der politisch-diplomatische Sinn des Molotov-Ribbentrop-Pakts. Die zweite Logik war die einer territorialen Aufteilung des östlichen Europa. Sie fand ihren Ausdruck in den geheimen Zusatzprotokollen zum Molotov-Ribbentrop-Pakt und zum Deutsch-Sowjetischen Freundschaftsvertrag vom 28.9.1939. Eben deshalb sind die Kritik am Pakt und die negative rechtliche und politische Bewertung durch den Volksdeputiertenkongress 1989 völlig gerechtfertigt. In dessen Beschluss heißt es:
"[D]ie Abgrenzung von „Interessensphären“ der UdSSR und Deutschlands sowie die anderen [in den geheimen sowjetisch-deutschen Abmachungen verabredeten] Schritte standen juristisch in Widerspruch zur Souveränität und Unabhängigkeit einer Reihe von Drittstaaten. […] [D]ie Entscheidung, sie [die Geheimprotokolle] zu unterzeichnen, war inhaltlich und formal ein Akt persönlicher Macht und spiegelte in keiner Weise den Willen des sowjetischen Volkes wider, das für diese geheime Absprache [Stalins und Molotovs] keine Verantwortung trägt."[27]
Was Polen angeht, so darf man nicht den heiklen Kontext der Teilung des Landes 1939/1940 vergessen: die fast 22 000 polnischen Kriegsgefangenen, die 1940 vom NKVD exekutiert wurden. Was mögliche „gegenseitige Vorwürfe“ angeht, hätten die Polen noch so einiges vorzubringen. Sie könnten daran erinnern, dass die sowjetischen Truppen den Kämpfern des Warschauer Aufstandes nicht zu Hilfe kamen, oder an die spätere Sowjetisierung Polens. Putin behauptet, dass die UdSSR „Polen faktisch nichts weggenommen“ habe, dass Brest-Litovsk von den Deutschen eingenommen worden sei und diese die Stadt einfach der Roten Armee übergeben hätten – nebenbei bemerkt wurde dabei eine deutsch-sowjetische Parade abgehalten. Doch wer nahm damals die anderen Ostgebiete Polens ein? Mit wem lieferten sich die polnischen Gendarmen in Vilnius Feuergefechte? Und wie kommt es, dass die Rote Armee im Zuge ihres „Befreiungsfeldzugs“ ein Gebiet von etwa 196 000 Quadratkilometern besetzte? Das berüchtigte Judenpogrom von Jedwabne, das von polnischen Einwohnern dieses Örtchens verübt wurde, fand im Juni 1941 statt, als deutsche Truppen das Gebiet, das im September 1939 an die UdSSR gefallen war, einnahmen. Ganze Landstriche, die von Millionen Menschen in „Westweißrussland“ und der „Westukraine“ bewohnt waren, hatte die Sowjetunion Polen zuvor abgenommen. Die Beschleunigung des „Befreiungsfeldzugs der Roten Armee“ – auch dies gehört zur Wahrheit – war bedingt durch das schnelle Vorrücken der Wehrmacht von Westen her. Und dass die breite Masse der sowjetischen Bevölkerung die territorialen Eroberungen der Roten Armee als gerecht empfand, erklärt sich zu einem Gutteil daraus, dass faktisch die Grenzen der UdSSR und Polens entlang der Curzon-Linie wiederhergestellt wurden, wie sie vor dem Sowjetisch-Polnischen Krieg von 1920 bestanden hatten.[28]
In einer Note Molotovs an den polnischen Gesandten zu Beginn des sowjetischen Polenfeldzugs heißt es: „Der sowjetischen Regierung kann es auch nicht gleichgültig sein, dass die blutsverwandten Ukrainer und Weißrussen, die auf dem Territorium Polens leben und ihrem Schicksal überlassen sind, ohne Schutz bleiben.“ Genauso sahen es die Menschen in der UdSSR, die im strengen Glauben an den Kommunismus erzogen worden waren: als Botschaft, „seine Klassenbrüder unter seinen Schutz zu stellen“.[29] Diese „defensive“ Logik kam auch im November 1939 zum Tragen, als die UdSSR mittels einer fingierten „Provokation“ durch Finnland einen Krieg mit dem Nachbarn vom Zaun brach. Ein Propagandalied jener Zeit sandte eine klare Botschaft aus: „Weder Narren in Christo noch Schreiberlinge / Werden eure Herzen weiter verwirren. / Mehr als einmal haben sie euch eure Heimat geraubt – / Wir kommen, sie euch zurückzugeben.“[30] Dasselbe Motiv, „seine Bürger nicht im Stich zu lassen“, erklang übrigens, als Russland 2014 die Krim annektierte.[31]
Die These vom „unfreiwilligen“, „erzwungenen“ Charakter des Molotov-Ribbentrop-Paktes hält weder einer moralischen Kritik – es sei daran erinnert, dass Stalin Hitler die in sowjetischen Lagern befindlichen deutschen Antifaschisten „schenkte“ [32] – noch einer historischen Kritik stand: Die Aufteilung Europas nach dem Pakt stärkte die Verteidigungsfähigkeit der UdSSR nicht. Im Gegenteil: Sie erleichterte Hitlers Armee in den ersten Wochen und Monaten des Krieges den Vormarsch nach Osten.[33]
Stalin konnte Hitler eine Zeitlang durch das Angebot einer außerordentlich engen Partnerschaft aufhalten. Dank eines Handelsvertrags mit Deutschland erhielt das Hitler-Regime zwischen Dezember 1939 und Ende Mai 1941 von der UdSSR eine Million Tonnen Erdölprodukte, 1,6 Millionen t Getreide, 111 000 t Baumwolle, 10 000 t Flachs, 1800 t Nickel, 185 000 t Manganerz, 23 000 t Chromerz und 214 000 t Phosphate.[34] Am 28. September 1939 sondierte Reichsaußenminister Ribbentrop beim Abschluss des Deutsch-Sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrags die Möglichkeit, vom Stalin-Regime Militärhilfe zu erhalten. Darauf erwiderte Stalin laut dem deutschen Gesprächsprotokoll, sollte
"Deutschland […] wider Erwarten in eine schwierige Lage geraten, so könne es sicher sein, dass das Sowjetvolk Deutschland zu Hilfe kommen und nicht zulassen würde, dass man Deutschland erwürge".[35]
Der Präsident als Historiker und die Wiederbelebung stalinistischer Klischees
In Russlands stark personalisierter Politik spielt der Präsident die entscheidende Rolle. Er ist auch der Chefhistoriker und wichtigste Geschichtsinterpret des Landes. Putins Teilnahme an Gedenkritualen wie der Siegesparade am 9. Mai, dem Marsch des „Unsterblichen Regiments“, aber auch an Gesprächen mit regierungsfreundlichen Historikern – ist eine Hauptquelle für die Geschichtsinterpretation von oben.
Bereits früher wurde die Vorstellung über zentrale Epochen und Gestalten der vaterländischen Geschichte nicht selten von Personen an der Staatsspitze geformt. Aber auch der in der Schule vermittelte Geschichtskanon sowie Kunst, Literatur (Petr Pervyj von Aleksej Tolstoj) und Kino (Aleksandr Nevskij und Ivan Groznyj von Sergej Ėjzenštejn) trugen zur Herausbildung eines einheitlichen Geschichtsbildes mehrerer Generationen bei. Unter den heutigen Bedingungen ist das Bildungssystem nicht mehr in der Lage, der Bevölkerung ein einheitliches Geschichtsbild zu oktroyieren. Auch das „patriotische“ Kino erreicht nicht mehr das ganze Land. Das demonstrieren die jüngsten Beispiele, die Filme Sojuz spasenija (Bund der Rettung) über die Dekabristen als staatsfeindliches Komplott sowie Majdan, die beide floppten. So bleibt als Autorität, die eine einheitliche Vorstellung von der Geschichte vorgibt, nur der Präsident.
Der Skandal um Polen, das unvermittelt zum Kernland der „Achse des Bösen“ avancierte, war ein Symptom der Radikalisierung der offiziellen Geschichtspolitik. Dass sich Putin so stark auf die polnische Frage fokussierte, interpretierte Anne Applebaum so, dass er Polens Status untergraben wollte.[36] Doch tatsächlich hatte der Kreml bei dieser übermäßigen „Polonisierung“ der Geschichtsdebatte vor allem die eigene Bevölkerung im Blick, vor allem rund um die geplanten Feiern zum 75. Jahrestag des Sieges. Das Jubiläum sollte auf keinen Fall von einer allzu gründlichen Thematisierung von Stalins Verhalten in der Jahren, Monaten und Tagen vor Kriegsbeginn überschattet werden.
Von Putin durften wir im Übrigen erfahren, dass Stalin „sich nicht selbst die Finger schmutzig gemacht hat durch einen direkten Umgang mit Hitler“.[37] Letztendlich kommt eine Kritik am Molotov-Ribbentrop-Pakt einer Kritik am Sieg im Großen Vaterländischen Krieg gleich. Wer etwa die Umstände des Beginns des Zweiten Weltkriegs klären will, wird in Russlands gegenwärtiger Geschichtsdebatte bezichtigt, die Ergebnisse des Krieges einer „Revision“ unterziehen zu wollen.[38]
Die offizielle Erzählung verändert die Vorstellung der Bevölkerung über die eigene Geschichte radikal. Dieser Prozess vollzieht sich in zwei Phasen: Zunächst verschwindet das Wissen über das historische Ereignis. Nach Umfragen des Levada-Zentrums hatten 2005 31 Prozent der Befragten von dem geheimen Zusatzprotokoll zum Molotov-Ribbentrop-Pakt „noch nie gehört“; 2019 waren es bereits 40 Prozent. Im zweiten Stadium erhält das Gros der Bevölkerung Informationen über das Ereignis aus der offiziellen Propaganda. Für die Vorstellung über den Zweiten Weltkrieg bedeutet das, dass das stalinistische Klischee von 1939 wieder auf Zustimmung stößt: 53 Prozent der Befragten waren 2019 der Ansicht, dass „die Rote Armee im September 1939 einen Teil Ostpolens mit dem Ziel besetzte, den dort lebenden Ukrainern und Weißrussen Hilfe zu leisten“. Der Auffassung, dass Stalin und Hitler Polen aufteilen wollten, schlossen sich 16 Prozent an, während 31 (!) Prozent antworteten, „schwer zu sagen“.[39]
Ein weiteres Beispiel ist Katyń. An der Einweihung der Gedenkstätte nahe Smolensk im Jahr 2010 hatte Russlands Staatsspitze teilgenommen. Danach zeigte sich auch die Bevölkerung besser über das Verbrechen informiert. Doch nun hält die stalinistische Version, dass für die Massenerschießung polnischer Offiziere die Deutschen verantwortlich gewesen seien, wieder Einzug in semioffizielle Darstellungen etwa der staatlichen Nachrichtenagentur RIA Novosti.[40]
Die These vom „Überraschungsangriff“ Hitlers ist fester Bestandteil der offiziellen, propagandistischen Version der Geschichte. Sie wird mit Erfolg verbreitet. 2019 äußerten in der zitierten Umfrage des Levada-Zentrums 42 Prozent der Befragten die Ansicht, dass „der plötzliche Angriff für die Rote Armee vollkommen unerwartet“ gekommen sei. 36 Prozent waren der Meinung, die Sowjetunion habe sich „nicht auf den Krieg vorbereitet, um Deutschland nicht zu einem Angriff zu provozieren“. Nur 21 Prozent meinten, dass die Führung der Roten Armee infolge der stalinistischen Säuberungen ausgeblutet gewesen sei; im Jahr 2005 hatten dieser Aussage noch 40 Prozent zugestimmt.[41]
Derselbe Trend zur Umwertung ist bei der Einschätzung des Afghanistankriegs zu erkennen. 1991 stimmten nur drei Prozent der vom Levada-Zentrum Befragten der Aussage zu, dass der Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan im Jahr 1979 notwendig gewesen sei; 2019 waren 22 Prozent der Befragten dieser Ansicht. Als Fehler beurteilten 1991 den Einmarsch 88 Prozent der Befragten, 2019 nur noch 55 Prozent. 1999 hatten noch 58 Prozent der Befragten den Einmarsch als „politisches Abenteuer der Führung der UdSSR“ bewertet; im Jahr 2019 waren es nur noch 34 Prozent. Der Version, es sei damals um „den Schutz der geopolitischen Interessen“ der UdSSR gegangen, stimmten 1990 19 und 2019 33 Prozent zu, der Version, dass es sich um eine „internationalistische Pflicht“ gehandelt habe, 1990 zwölf und nun 21 Prozent.[42]
Offiziell wäscht der Staat Stalin noch nicht rein.[43] Doch niemand tritt einer inoffiziellen, „aus dem Volk kommenden“ Stalinisierung entgegen. Die Rechtfertigung der Logik und des Handelns Stalins ebnet den Weg für immer gewagtere Initiativen. So schlug der Duma-Abgeordnete Nikolaj Charitonov (KPRF) vor, zum Tag des Sieges ein großes Stalin-Porträt auf dem Roten Platz aufzuhängen. Parlamentssprecher Vjačeslav Volodin reagierte zurückhaltend, schloss diese Möglichkeit aber auch nicht aus: „Wir werden auf diese Frage zurückkommen und sie im Duma-Rat diskutieren.“[44] Und die sich seit Jahren vollziehende Stalinisierung des Bewusstseins trägt bereits giftige Früchte. In nur einem Jahr stieg die „Wertschätzung“ für Stalin nach Angaben des Levada-Zentrums um zwölf Prozent: von 29 Prozent 2018 auf 41 Prozent im Jahr 2019. Auch Stalins Rolle für das Land beurteilen immer mehr Menschen positiv. 2019 äußerten sich 70 Prozent der Befragten in diesem Sinne, während nur 19 Prozent ihm eine negative Rolle zuschrieben. 46 Prozent der Befragten waren der Meinung, dass die während des Stalinismus erzielten großen Erfolge des sowjetischen Volkes die erlittenen menschlichen Opfer rechtfertigten. Der gegenteiligen Ansicht waren 45 Prozent. Die Meinung von Russlands Bürgerinnen und Bürgern war in dieser Frage im Jahr 2019 also gespalten.[45]
Die verbreitete Sehnsucht nach einer „starken Hand“ und die Vorstellung, dass eine Politik stalinistischen Typs in der Lage sei, „Ordnung“ im Lande zu schaffen, wird „von oben“ durch eine Stalin gewogene Geschichtsinterpretation noch befördert. So erklärt sich auch der imposante Anstieg der Zahl von Menschen, die eine positive Einstellung zu Stalin haben. Ebenfalls bezeichnend ist, dass dank des propagandistischen Einsatzes des Staates immer mehr Menschen glauben, dass andere Länder Russland gegenüber feindselig eingestellt seien. Hatten 1994 nur 42 Prozent der Befragten dieser Aussage „voll“ oder „eher“ zugestimmt, waren es 2019 bereits 73 Prozent. Der Anteil jener, die dies nicht so sahen, sank im selben Zeitraum von 45 auf 25 Prozent.[46]
„Wiederherstellung“ des Russländischen Imperiums
Unter dem Motto „Wir sind die Sowjetunion“ versuchte Putin persönlich, die Führer der anderen Ex-Sowjetrepubliken auf eine geschichtspolitische Gefolgschaft zu verpflichten. Nicht zufällig hielt Putin am 20. Dezember 2019 auf einem informellen GUS-Gipfel in St. Petersburg seinen Amtskollegen eine „Vorlesung“ über die Geschichte des Zweiten Weltkriegs.[47] Russlands Initiative, eine gemeinsame Historikerkommission aller GUS-Staaten zu schaffen, zeugt von dem Streben, wenigstens in einem Teil des postsowjetischen Raumes ein einheitliches Geschichtsbild zu schaffen.[48]
Das Geschichtsbild des Durchschnittsbürgers ist nahezu identisch mit dem Geschichtsbewusstsein des Mannes an der Staatsspitze. Im Zentrum dieses Bildes steht Stalin, genauer gesagt, die Logik seines Handelns vor und im Krieg. Die Konzeption des Krieges ist im Kern eine sowjetische. Das sowjetische Imperium existiert zwar nicht mehr, aber seine Phantomschmerzen prägen maßgeblich das russländische kollektive Bewusstsein. Bis heute dominieren imperiale Vorstellungen. Mit Hilfe der Geschichte „stellt“ Russlands Staatsmacht das Imperium in imaginärer Form „wieder her“. Allerdings legt sie dabei jene Geschichtsversion zugrunde, die während des Großen Vaterländischen Krieges formuliert worden war, als die marxistisch-leninistische Erzählung nicht mehr ausreichte, um das sowjetische Volk moralisch und politisch zu einen, und der Akzent auf den Ruhm der militärischen Befreiung gelegt wurde.
Das heutige Pantheon historischer Helden besteht aus denselben Namen, die Stalin in seiner Rede bei der Parade der Roten Armee am 7. November 1941 nannte. Der russischen Geschichte kam damals buchstäblich eine mobilisierende Rolle zu:
"Möge Euch in diesem Krieg das heldenmütige Vorbild unserer großen Vorfahren Aleksandr Nevskij, Dmitrij Donskoj, Kuz’ma Minin, Dmitrij Požarskij, Aleksandr Suvorov und Michail Kutuzov beseelen!"[49]
Und Vjačeslav Molotov berief sich in seiner Rundfunkansprache am 22. Juni 1941 auf den Vaterländischen Krieg von 1812 als Vorbild für einen defensiven und gerechten Krieg:
"Nicht das erste Mal muss sich unser Volk eines Angriffs eines arroganten Feindes erwehren. Seinerzeit antwortete unser Volk auf Napoleons Invasion in Russland mit einem Vaterländischen Krieg, brachte ihm eine Niederlage bei und besiegelte seinen Untergang."[50]
Der Historiker Oleg Budnickij erinnert daran, dass der Terminus „Vaterländischer Krieg“ in der Sowjetunion bis zum Krieg nicht gebräuchlich war. Er galt als Ausdruck einer adelig-bourgeoisen Einstellung. 1941 jedoch musste der Marxismus-Leninismus diesem Terminus aus der nationalen Geschichte Platz machen. Schon am 23. Juni 1941 verlieh Emel’jan Jaroslavskij in der Pravda der patriotischen Formel „Großer Vaterländischer Krieg des sowjetischen Volkes“ Kontur.[51] Derartige verbale Konventionen, prägnante, über Jahrzehnte unveränderte Formeln, dienen dazu, ein einheitliches Geschichtsbewusstsein zu festigen.[52]
Wenn der Präsident ständig daran erinnert, dass die Russen und die Ukrainer ein Volk seien, dann nimmt er damit die traditionelle imperiale Vorstellung einer Dreieinigkeit von Russen, Ukrainern und Weißrussen wieder auf.[53] Traditionsgemäß werden das ukrainische und das weißrussische Volk dem polnischen gegenübergestellt. Und die Ukrainer und Weißrussen werden als Opfer der „polnischen Szlachta“ oder – in sowjetischer Terminologie – der „polnischen Gutsbesitzer“ gezeichnet. Implizit bedeutet das auch, dass die ukrainische und die belarussische Staatlichkeit von heute als nicht vollwertig gelten, da Ukrainer und Weißrussen früher Teil des russländischen Imperiums waren. Die Grenzen dieses imaginären imperialen Russland bildet die „Russische Welt“ (Russkij mir). Auch hier ist es wieder so, dass sich nach der Tradition, die unter Katharina der Großen ihren Ausgang nahm, die Grenzen der „Russischen Welt“ mit den Grenzen des russländischen Staates zu decken haben, denn schließlich ist die russische Nation eins mit dem russischen Staat.[54] Kiew ist nach dieser Vorstellung ein Schlüsselort in der Geschichte des russländischen Staates.[55] Nicht weniger wichtig für die Wiedererrichtung des Imperiums sind die Krim und Odessa. All diese Orte sind Teil der „Russischen Welt“.
Krieg der Archive und Denkmäler: Ausweitung der Kampfzone
Der Krieg um die Erinnerung nimmt teilweise erstaunliche Formen an. Sogar Denkmäler und Archivmaterial kommen als „Waffen“ zum Einsatz. Regelmäßig gibt es Meldungen über „vom Volk ausgehende“ Initiativen zur Errichtung von Stalin-Denkmälern. Sie stammen in der Regel von einzelnen Gebietskomitees der Kommunistischen Partei, etwa in Novosibirsk, Volgograd oder in Jakutien. Von den Behörden vor Ort hängt es ab, ob diese Ausdrucksformen des neuen „Stalinkults“ genehmigt werden oder nicht.[56]
Ein ganz anders gelagerter Fall, der aber ebenfalls gut illustriert, wie Denkmäler als Waffe eingesetzt werden, ist eine Episode, die in Tschechien spielt und im November 2019 ihren Anfang nahm: Der Bürgermeister des Prager Stadtteils Řeporyje, Pavel Novotný, kündigte an, den beim Prager Aufstand 1945 gefallenen Mitgliedern der Russischen Befreiungsarmee ein Denkmal zu setzen. Eine Division der Armee, die unter General Andrej Vlasov seit 1944 mit der Wehrmacht gegen die Sowjetunion kollaboriert hatte, schloss sich Anfang Mai 1945 den Aufständischen in Prag im Kampf gegen die deutschen Besatzer an und trug zur Befreiung der Stadt bei. Die Truppen der 1. Ukrainischen Front der Roten Armee unter Marschall Ivan Konev marschierten also in eine bereits befreite Stadt ein.
Von Novotnýs Initiative hätte kaum jemand Notiz genommen, wenn Russlands Botschaft in Tschechien keinen Skandal daraus gemacht und das Moskauer Außenministerium den Vorgang nicht zu einem neuerlichen Versuch erklärt hätte, die „Geschichte umzuschreiben“. Dank des Kampfs der russländischen Diplomatie um die „historische Wahrheit“ erlangte Pavel Novotný weltweite Bekanntheit und kam aus dem Interviewgeben nicht mehr heraus.[57] Der tschechisch-russländische Denkmalkampf umfasst eine weitere Episode. Am 3. April 2020 ließ die Verwaltung des Prager Stadtteils Bubeneč eine Statue Ivan Konevs demontieren: Zu widersprüchlich war die Figur des Marschalls. Seine Truppen waren 1956 an der Niederschlagung des Ungarischen Volksaufstands beteiligt; außerdem wirft man ihm vor, an den Vorbereitungen zur Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 beteiligt gewesen zu sein. Auch in diesem Fall wuchs sich eine ursprünglich rein lokale Debatte zu einer handfesten diplomatischen Krise aus, da Russland die Demontage der Statue nicht nur als Affront, sondern als Verbrechen verstand.[58]
Seit Vladimir Putin im Dezember 2019 begann, explizit auf Archivmaterial zum Zweiten Weltkrieg Bezug zu nehmen, von dessen Objektivität er a priori ausgeht, setzen die Machtorgane des Landes im Krieg um die Erinnerung vermehrt auf solches Material. In der Interpretation des Präsidenten klingt das so:
"Wir werden auf jeden Fall ein Zentrum für Archivdokumente, Film- und Fotomaterial aufbauen und denen den Mund stopfen, die versuchen, die Geschichte zu verdrehen, sie in falschem Licht erscheinen zu lassen und die Rolle unserer Väter, unserer Großväter und unserer Helden zu schmälern, die bei der Verteidigung ihrer Heimat und praktisch der ganzen Welt gegen die „braune Pest“, den Nationalsozialismus, umgekommen sind."[59]
Einen in dieser Hinsicht besonders charakteristischen Schritt im „Krieg der Archive“ unternahm das Moskauer Verteidigungsministerium. Am 17. Januar 2020, dem Jahrestag der Befreiung Warschaus, veröffentlichte es Geheimdokumente über den Warschauer Aufstand. Das Ministerium schaltete sich damit in den alten Streit darüber ein, inwieweit es gerechtfertigt war, dass die Rote Armee nicht auf der Seite der Aufständischen in den Kampf eingriff. Die sowjetischen Truppen hatten bekanntlich bereits den am anderen Weichselufer liegenden Warschauer Vorort Praga erreicht, unterließen es aber, der Armia Krajowa (Heimatarmee) zu Hilfe zu kommen. Russlands Verteidigungsministerium gab nicht nur die Dokumente frei, sondern versah die Publikation noch mit einem harschen Vorwort: Der Aufstand sei schlecht vorbereitet gewesen, die Rote Armee habe nur begrenzte Möglichkeiten gehabt. Diese hätten die Aufständischen ignoriert und so ihr Scheitern fast vorsätzlich herbeigeführt.[60] Das wiederum konnte von der polnischen Seite kaum anders aufgefasst werden denn als offene Beleidigung des Andenkens der gefallenen Aufständischen. Dieses Andenken aber bildet einen Grundpfeiler der polnischen nationalen Identität.
Moskau stellt die freigegebenen Dokumente als entscheidende Quelle für das Verständnis der Ereignisse dar. Dabei sind die Umstände des Aufstands längst anhand Dokumenten aus Archiven erforscht und beschrieben. Es gibt deutsche, polnische und russische Dokumentensammlungen. Erwähnt sei nur der umfangreiche Band Der Warschauer Aufstand von 1944 in Dokumenten aus den Archiven der Geheimdienste, der im Jahr 2007 als zweisprachige Ausgabe in Warschau und Moskau erschien. Er ist das Ergebnis der Zusammenarbeit von Behörden beider Länder einschließlich des FSB (vor anderthalb Jahrzehnten war dies noch möglich).[61] Nun wird aus ein paar Berichten, die ein allgemein bekanntes Bild nur vervollständigen, eine politisierte Position gezimmert und das Ganze als erstaunliche historiographische Entdeckung verkauft. Die Wahrheit im „Krieg der Archive“ ist, dass Russland einen Großteil der Akten zum „Fall Katyń“ weiter unter Verschluss hält.
Anfang 2020 gab es einen weiteren Jahrestag: Am 17. Januar jährte sich die Verhaftung Raoul Wallenbergs zum 75. Mal. Der schwedische Diplomat hatte während des Zweiten Weltkriegs in Ungarn Zehntausenden Juden das Leben gerettet und war auf Befehl Stalins als angeblicher „Spion“ in die Sowjetunion verschleppt worden, wo er in den Kellern des Geheimdienstes verschwand. Neben der Ehrung als „Gerechter unter den Völkern“ erfuhr Wallenberg weitere Ehrungen in vielen Städten der Welt, darunter in Warschau. An Russland ging der Jahrestag des tragischen Ereignisses spurlos vorüber. Wallenbergs Nachkommen versuchen seit Jahren, Einsicht in die sowjetischen Geheimdienstakten zu erhalten, stoßen dabei aber auf den geballten Widerstand von Russlands Staat und Justiz.[62]
Ausgelöschte Erinnerungsorte und Opferkonkurrenz
Eine Technik der russländischen Geschichtspolitik wurde noch nicht erwähnt: die Tilgung von Gedenkorten. Ende 2019 entbrannte in Tver’, dem ehemaligen Kalinin, ein Konflikt. Auslöser war eine Anordnung der Gebietsstaatsanwaltschaft Tver’, zwei Gedenktafeln am Gebäude der Medizinischen Universität zu entfernen. Die eine erinnerte an die über 6000 polnischen Kriegsgefangenen aus dem Lager Ostaškovo, die im März 1940 in dem Gebäude erschossen worden waren. Damals waren hier die Gebietsverwaltung des NKVD und das Gefängnis untergebracht. Die andere Tafel ist allgemein den Opfern des stalinistischen Terrors gewidmet, die an dem Ort gefoltert und ermordet wurden. „Plötzlich“ waren Zweifel daran aufgekommen, dass in dem Gebäude tatsächlich Erschießungen stattgefunden hatten. Angeblich, so war zu vernehmen, seien die Tafeln 1991–1992 widerrechtlich angebracht worden.[63]
Auch an anderen Gedenkorten gibt es Versuche, die Spuren der Geschichte zu tilgen. Wo dies nicht möglich ist, versucht man, unerwünschte Spuren der Vergangenheit wenigstens zu überlagern, indem man ihnen andere historische Sujets gegenüberstellt. Das Ergebnis ist eine Art Opferkonkurrenz.[64]
Auf dem Gedenkfriedhof für die Opfer des politischen Terrors der 1930er Jahre im karelischen Sandarmoch ließ die Militärhistorische Gesellschaft Ausgrabungen vornehmen, um die These zu belegen, dass sich dort auch die sterblichen Überreste von Rotarmisten fänden, die im Winterkrieg von Finnen gefangengenommen und erschossen worden seien. Theoretisch ist das sogar sehr wahrscheinlich.[65] Dieselbe Technik des Umlenkens der Erinnerung auf eine andere Opfergruppe ist auf dem Gelände der Gedenkstätte Mednoe im Gebiet Tver’ zu beobachten, wo der NKVD die Leichen der in Tver’ ermordeten polnischen Kriegsgefangenen ebenso wie viele andere Opfer der stalinistischen Repressionen verscharrt hatte. „Patriotische“ Organisationen haben dort Grabungen nach den Überresten von Rotarmisten in die Wege geleitet, die dort im Zweiten Weltkrieg in einem Militärkrankenhaus gestorben waren (dass Verwundete in örtlichen Durchgangslazaretten starben, war im Übrigen ebenfalls keine neue Erkenntnis).[66]
Doch was sollen solche Aktionen bringen? Davon abgesehen, dass Opferkonkurrenz ohnehin absurd ist, ist sie in diesem Falle auch nicht zu gewinnen. An die Zahl der bei den Massenerschießungen des NKVD ermordeten, wird die Zahl der umgekommenen sowjetischen Soldaten nicht heranreichen. Gleichwohl ist dieser Versuch einer der taktischen Manöver des Kreml in diesem Krieg der Erinnerung.
Verordnete Moral und Ausnutzung historischer Traumata
Im Krieg um die Erinnerung beansprucht der Staat die moralische Oberhoheit. Allein er bestimmt, was bei der Bewertung der Geschichte moralisch ist und welche Wahrheiten heilig sind. Es gilt als amoralisch, den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg, der die „Nation“ als „Kitt“ zusammenhält, zu hinterfragen oder die Frage nach dem Preis des Sieges aufzuwerfen. Und es ist auch amoralisch, Stalin zu kritisieren, den Hauptverantwortlichen und Regisseur des Triumphs der Sowjetunion in diesem großen Krieg. Dabei war der Generalissimus im Grunde bemüht, diesem Sieg keine übergroße Aufmerksamkeit zu schenken. Den siegreichen Generälen stand er außerordentlich negativ gegenüber. Unter ihm war der Tag des Sieges kein Feiertag. Erst unter Brežnev führte die UdSSR den Kult des Sieges ein, der als Mittel zur Legitimation des spätsowjetischen Regimes herhalten musste. Heute ist es ähnlich – nur dass das kollektive Trauern und Gedenken noch stärker ritualisiert ist.
So wird der Krieg zu einem kollektiven Trauma, das die Nation vereint. Das private Gedenken an den Krieg in seinen Nuancen und Widersprüchen tritt in den Hintergrund. Das Gros der Bevölkerung ist nicht geneigt, sich auf Einzelheiten einzulassen. Die dadurch entstehenden Leerstellen füllt die offizielle Propaganda, indem sie das kollektive Trauma als Teil der kanonisierten Geschichte darstellt. Das Trauma ist in diesem Falle ein Wesensmerkmal des „defensiven“ und „gerechten“ Krieges. Was den Beginn des Großen Vaterländischen Krieges betrifft, entspricht es sogar der Wahrheit. Was den Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939 angeht, wird es schon schwieriger, denn da trat die stalinistische UdSSR in der Rolle des Aggressors auf, wenn wir an den Sowjetisch-Finnischen Krieg, die Eingliederung des Baltikums und Bessarabiens in die Sowjetunion und die Teilung Polens infolge des Hitler-Stalin-Pakts denken. Für die heutige offizielle Propaganda in Putins Russland ist es – insbesondere da es gilt, sich gegen „den Westen zur Wehr zu setzen“ – jedoch wichtig, bei der Beurteilung schwieriger Fragen in Bezug auf den Beginn des Zweiten Weltkriegs im Allgemeinen und auf die Beziehungen zu Polen im Besonderen den rein defensiven Charakter der Sowjetunion zu betonen. In der Logik des „Whataboutism“ ist das Polen der 1930er Jahre kein Opfer, sondern ein Aggressor, der mit Deutschland unter einer Decke steckte und sich an der Zerschlagung der Tschechoslowakei beteiligte. Nach dieser Logik ist auch das Jahr 1939 Teil des Traumas von 1941. Das aber gilt es erst einmal zu zeigen, weshalb sich alle propagandistischen Anstrengungen des Kreml darauf konzentrieren.
Je stärker die Propaganda den defensiven Charakter der sowjetischen Handlungen in den Vorkriegsjahren betont, desto mehr tritt die andere Lesart in den Hintergrund, die in der sowjetischen Ideologie so wichtig war: dass der Große Vaterländische Krieg der Befreiung diente. Im Beschluss des ZK der KPdSU vom 31. Mai 1984 „Zum 40. Jahrestag des Sieges des sowjetischen Volkes im Großen Vaterländischen Krieg 1941–1945“ etwa heißt es:
"Der Sieg […] wurde vom sowjetischen Volk im Namen des Friedens und Lebens auf der Erde errungen. Für ihre Errettung vor der drohenden Gefahr einer faschistischen Unterjochung und die Rettung ihrer Freiheit ist die Menschheit in gewaltigem Maße dem führenden sozialistischen Staat der Welt zu Dank verpflichtet."[67]
Diese These ist heute nur noch selten zu vernehmen.
Ein anderes Thema, das Russlands offizielle Propaganda für ihre Zwecke nutzt, ist der Holocaust. Bis vor kurzem war das Thema nicht sonderlich populär, doch auf einmal steht es im Zentrum des Krieges um die Erinnerung. Ein Beispiel dafür ist Vladimir Putins Rede auf dem Welt-Holocaust-Forum in Jerusalem am 23. Januar 2020 zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz.
Bei Außenstehenden, insbesondere beim Publikum in Russland musste der Eindruck hängenbleiben, in dieser Runde des „alten innerslawischen Streits“ habe Putin Polens Präsidenten Andrzej Duda ausgeknockt. In seiner Rede deutete Putin kaum verhohlen an, dass er Ukrainer, Litauer, Letten und Polen für „Mittäter“ und „Komplizen“ der Nationalsozialisten halte.[68] Den 47-jährigen Duda kann man schwerlich als „Mittäter“ bezeichnen, aber vor dem Hintergrund der Debatten, in die Russlands Präsident die Polen und die eigene Bevölkerung in den Monaten zuvor verstrickt hatte, war das ein Wink mit dem Zaunpfahl.
Putin hatte gut lachen: Die israelischen Offiziellen, darunter Außenminister Israel Katz, dankten ihm für die Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee. Die israelische Tageszeitung Haaretz kommentierte ironisch, fast habe man meinen können, Russlands Präsident persönlich hätte die Tore des Konzentrationslagers geöffnet.[69] Es war genau das, was Putin im Vorfeld des 75. Jahrestags des Kriegsendes brauchte, schließlich ging es ihm darum, die Bevölkerung in Zusammenhang mit der geplanten Verfassungsänderung hinter sich zu bringen und die eigenen Umfragewerte auch durch den Kampf gegen „Geschichtsfälscher“ in die Höhe zu treiben.
Russland Geschichtspolitik nutzt die Opfer des Krieges, deren geheiligtes Andenken die Nation oder – im Falle des Holocaust – gar mehr als eine Nation eint, als eine Art „lebendes Schutzschild“. Das erklärt auch, weshalb Putin in seiner Jerusalemer Rede die Leningrader Blockade in einem Atemzug mit dem Holocaust nannte. Eine derartige Gleichsetzung hatte es im sowjetischen Geschichtsdiskurs nie gegeben. Die wunden Punkte rund um die Blockade sind hinlänglich bekannt.[70] Der Staat ermuntert niemanden, tiefer in die Details der Geschichte der Blockade zu gehen. Die Geschichte der Blockade verändert sich aus einer im menschlichen Sinne sakrosankten in eine politisch simplifizierte und sakralisierte. Der Regisseur Andrej Zvjagincev konnte für seinen geplanten Film über die Blockade keinen Produzenten finden – zu sehr fürchteten einschlägige Stellen offenbar einen Konflikt mit staatlichen Stellen. Der Film Prazdnik (Feiertag, 2019) des Regisseurs Aleksej Krasovskij über die privilegierte Versorgung hoher Funktionäre während der Blockade wurde als „blasphemisch“ gebrandmarkt.
Gegen die Schriftstellerin Elena Čižova, Autorin des bemerkenswerten Buches Gorod, narisovannyj po pamjati (Eine Stadt, gezeichnet aus der Gedächtnis, 2019) über das durch die Blockade traumatisierte Bewusstsein der Leningrader, das von Generation zu Generation weitergegeben wird, wurde beim Ermittlungskomitee der Russländischen Föderation Anzeige erstattet. Gegenstand war Čižovas Essay „Das doppelt verriegelte Gedächtnis“, den sie in der Schweiz publizierte.[71] Abgeordnete der Duma bewarfen sie mit Schmutz, da sie Stalin kritisiert hatte. Wer Stalin kritisierst, kritisierst unseren Sieg – das ist es, was bei Putins Geschichtspolitik unter dem Strich herauskommt. Čižova nannte zwei Gründe, die es schwer machten, über die Tragödie Leningrads zu sprechen:
"Heute weiß ich, dass das Blockadegedächtnis meiner Familie doppelt verriegelt war, von innen und von außen. Von innen, weil die Blockade ein Schmerz ist, über den zu erzählen schwer und schrecklich ist; von außen, weil man ständig von der Furcht geplagt war, man könnte „zu viel“ sagen. Noch während des Krieges nämlich wurde das Thema der Blockade mit Zensur belegt – der sowjetische Staat tat alles, um die Wahrheit zu verheimlichen."[72]
Es gibt die reale Blockade, und es gibt eine offiziell anerkannte und erwünschte Art der Darstellung. Es gibt den wirklichen Holocaust, und es gibt den Holocaust, der als Instrument zur Lösung politisch-propagandistischer Aufgaben dient. Und es gibt eine Ordnung der Erinnerungen: An das eine darf man voller Pathos und Trauer erinnern, an das andere nicht. Die Stufenleiter des Frevels und die moralischen Grenzen legt nicht die Gesellschaft fest, sondern der Staat mit Hilfe seiner Medien, seiner Strukturen und Repräsentanten. Im Kampf um die Reinheit der Geschichte markiert der Staat seine Feinde. Einer ist die Gesellschaft Memorial, die das Putin-Regime mit immer neuen Strafen zu ruinieren versucht. Das Zusammentragen von Erinnerungen und die Bewahrung der Erinnerung an die Repressionen – das ist eine Zone, die der Staat vorläufig nicht zu monopolisieren und zu säubern imstande ist, aus der er aber unabhängige Akteure herausdrängt.
Kommen wir zu einem weiteren Muster für ein Trauma, wenn auch ein in hohem Maße eingebildetes, das aber nicht weniger der Legitimation des politischen Regimes dient und der Logik folgt: Früher war alles schlecht, jetzt ist alles gut; früher wurden wir erniedrigt, aber nun haben wir zu alter Größe zurückgefunden. Die Rede ist vom „Zerfall der UdSSR“ und den „chaotischen 1990ern“. Die Bruchlinie im historischen Bewusstsein der Russen verläuft eben dort. Ein wichtiges Motiv im Putinschen Geschichtsdiskurs ist die Vorstellung, die 1990er Jahre seien eine Zeit des totalen Chaos und der Demütigung gewesen, aus der Putin persönlich die Bevölkerung Russlands herausgeführt habe. Die Kontrastierung dieser Epoche des „Chaos“ und der „Zerrüttung“ mit dem Bild des heutigen Russland, in dem wieder Wohlstand und Ordnung herrschen, ist ein wichtiges Ideologem, auf dem Putins politisches Image beruht.
Indem die Manipulatoren des Bewusstseins die 1990er Jahre als Trauma auch für jene darstellen, die aufgrund ihres Alters keine persönliche Erinnerung daran haben, zwingen sie einer Unmenge von Menschen auf, dieses Trauma zu durchleben. Tatsächlich aber verbinden bei weitem nicht alle Menschen diese Periode mit einer kollektiven und persönlichen Trauer, wie es charakteristisch für den Zweiten Weltkrieg ist, der die Grundlage des Selbstverständnisses der russländischen Bevölkerung bildet.[73]
Das Zerrbild der 1990er Jahre als Zeit der Demütigung und des Niedergangs hat sich tief ins kollektive Unterbewusstsein gegraben. Die vermeintlichen Charakteristika dieser Epoche wurden in Formeln wie die „wilden Neunziger“ oder das „Jahrzehnt der Banditen“ gegossen. Die junge Generation nimmt den Mythos dieses kollektiven Traumas als etwas Gegebenes hin. Gegenüber Putin umschrieb es eine Studentin mit den Worten: „Wenn man den Eltern glauben darf, war es in den 1990er Jahren so, dass man Angst hatte, auf die Straße zu gehen.“[74] Der Präsident dachte gar nicht daran, darüber zu diskutieren, obwohl er doch selbst ein politisches Produkt der 1990er Jahre, ja sogar die personifizierte Krönung ihrer Geschichte ist, wenn man darunter die Entwicklung eines russländischen Staatskapitalismus versteht. Ganz zu schweigen davon, dass es zu jener Zeit absolut kein Problem war, „auf die Straße zu gehen“.
„Cliotherapie“: Was die Historiker sagen
Wie sehen Russlands professionelle Historiker zur staatlichen Geschichtspolitik? Einige tun so, als gäbe es diese nicht und kapseln sich von der Realität ab. Doch diese Haltung ist eher die Ausnahme. Dies legt eine Studie der Freien Historischen Gesellschaft (Vol’noe istoričeskoe obščestvo) und des Levada-Zentrums nahe, die unter der Ägide des Komitees für Bürgerinitiativen (Komitet graždanskich iniciativ) durchgeführt wurde. Die Ergebnisse der Studie, für die Historiker im ganzen Land befragt wurden, wurden im Februar 2020 vorgestellt.[75]
Mit den Fragen „Wie sähe in Ihren Augen eine optimale staatliche Geschichtspolitik aus?“ und „Warum denken Sie, dass der Staat Geschichtspolitik betreiben oder nicht betreiben sollte?“ taten sich die befragten Historiker am schwersten. Russlands Historiker sehen sich nicht als eine Kraft, die das Geschichtsbewusstsein der Gesellschaft in stärkerem Maße beeinflussen könnte. Dies ist ein Eingeständnis, dass das Geschichtsbewusstsein vom Staat geformt wird. 68 Prozent der Befragten halten ihren eigenen Einfluss für schwach. Als eines der größten Probleme ihrer Zunft betrachten 43 Prozent das politische Engagement von Kollegen.
Was Fragen des gesellschaftlichen Geschichtsdiskurses und die staatliche Geschichtspolitik angeht, so stimmt die Hälfte der Befragten der Aussage zu, dass „Gesellschaft und Staat für gewöhnlich die Lehren der Geschichte nicht genügend berücksichtigen“; 44 Prozent beklagen, dass sie „aus den Lehren der Geschichte falsche Schlüsse ziehen“. Eine knappe Mehrheit (51 Prozent) ist der Ansicht, dass es einen „systematischen“ staatlichen Auftrag gebe, „für die Lösung aktueller politischer Aufgaben historische Argumente zu liefern“. Die Merkmale der staatlichen Geschichtspolitik bewerten sie so:
„Sie ist darauf ausgerichtet, die Vorstellung eines russländischen Sonderwegs zu entwickeln.“ (61 Prozent)
„Sie ist darauf ausgerichtet, die aktuelle Innen- und Außenpolitik argumentativ zu untermauern.“ (59 Prozent)
„Sie ist auf die Entwicklung eines isolationistischen Bewusstseins ausgerichtet.“ (56 Prozent)
Einer der befragten Historiker nannte die Geschichtspolitik des Staates ironisch „Clio-therapie“ („klioterapia“). Auf die Frage „Sollte der Staat Geschichtspolitik betreiben?“ antworteten 38 Prozent mit Ja, 44 Prozent mit Nein und 18 Prozent mit „schwer zu sagen“. Dabei geht es einem Teil der Historiker nicht so sehr um die manipulative Rolle der Geschichtspolitik als vielmehr um ihre wie auch immer geartete Erziehungs- und Bildungsfunktion. Unter den Antworten finden sich auch solche wie „Ich finde, der Staat sollte keine Geschichtspolitik betreiben, da dies die Etablierung einer Staatsideologie nach sich zieht, was die Verfassung der Russländischen Föderation explizit verbietet“ oder „Es sollte prinzipiell keine staatliche Geschichtspolitik geben“. Aber ein Fazit lässt sich ziehen: Historiker aller Altersgruppen sind unzufrieden mit der staatlichen Geschichtspolitik.
Mit dem Rücken zur Zukunft
Russlands historisches Selbstverständnis ist ein negatives. Wenn man den Zusammenbruch der Sowjetunion als größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts begreift, so ist die aus ihren Trümmern entstandene Russländische Föderation eine Art Nicht-Staat. Genau als solcher wird das Russland der 1990er Jahre gezeichnet. Das echte Russland, wird es erst wieder geben, wenn es wieder groß ist – „great again“ – also der Sowjetunion ähnlich, mit all ihren historischen Mythen.
So kommt es, dass dem historischen Bewusstsein des heutigen Russland ein durch Propaganda anerzogenes und weithin geteiltes Vergessen spezifischer Aspekte des Zweiten Weltkriegs, des Stalinismus, der spätsowjetischen Periode zugrunde liegt. Auch der Stolz auf das eigene Land hat ein negatives, „defensives“ Fundament, nämlich das kollektive Durchleben der Traumata des Großen Vaterländischen Krieges und der 1990er Jahre: Man hat uns überfallen und überfällt uns auch jetzt wieder; man hat uns gedemütigt und versucht uns auch jetzt zu demütigen, doch trotz alledem sind wir wieder stark geworden und werden unsere Eigenständigkeit und Souveränität bewahren. Und sollte sich die Geschichte wiederholen, werden wir auch dieses Mal siegen – dies ist die monströse Formel, in die jenes kollektive Vergessen der Einzelheiten und Schrecken des großen Krieges mündet.[76]
Das Gros der Bevölkerung braucht ideologische „Krücken“ für Fragen wie: Was sollen wir denken, wie sollen wir die Geschichte interpretieren, woran sollen wir uns erinnern und was vergessen? Dort, wo das Gedächtnis sein sollte, befindet sich im kollektiven Bewusstsein eine vom Staat kostenlos verpasste Prothese. Dem Kollektivmenschen fällt es so leichter, sich sozial und politisch zu orientieren. Aber Vergessen und Trauma sind prekäre Entwicklungsperspektiven. Der Traum von einer Rückkehr zu alter Größe, die Frontstellung mit dem Fremden und Anderen, dem man die eigenen Traditionen entgegenhält, die Einteilung von Nationen in reine, welche die mythologisierte Geschichte anerkennen, und unreine, die sie „verfälschen“ oder „umschreiben“ – all das sind Merkmale einer Politik, die der Zukunft den Rücken kehrt.
Russland braucht keine mythologisch propagandistische Geschichtspolitik, sondern eine Politik zur Bewältigung seiner schwierigen Vergangenheit. Es bedarf in Jürgen Habermas’ Worten nicht nur einer „anamnetischen Solidarität“ mit den Opfern, sondern einer kontinuierlichen Aufarbeitung und konsequenten Verteidigung der Freiheit, schwierige Fragen der Geschichte zu erforschen und sich dazu zu äußern.[77]
Aus dem Russischen von Andrea Huterer, Minsk
[1] Gosduma perenesla Den’ okončanija Vtoroj mirovoj vojny. RIA Novosti, 14.4.2020.
[2] Klišas rasskazal o neožidannom predloženii po izmeneniju Konstitucii. Interfaks, 23.1.2020.
[3] Putin sčel umestnym „akkuratno otrazit’“ v Konstitucii zapret na fal’sifikaciju istorii. Interfaks, 26.2.2020.
[4] Polnyj tekst popravok v Konstituciju. Za čto my golosuem? Gosudarstvennaja Duma Federal’nogo Sobranija Rossijskoj Federacii, <http://duma.gov.ru/news/48045/>.
[5] Irina Ščerbakova: Memorial unter Druck. Techniken des repressiven Staates in Russland, in: Osteuropa, 3–4/2020, S. 215–228. – Zu Memorial: Evgenija Lezina: Memorial und seine Geschichte. Russlands historisches Gedächtnis, in: Osteuropa, 11–12/2014, S. 165–176. –Streiflichter. Der Terror, die Wahrheit und das Recht. Osteuropa, 11–12/2017.
[6] Ursprünglich war das „Unsterbliche Regiment“ eine Initiative kritischer Journalisten aus Tomsk zur Erinnerung an die im Zweiten Weltkrieg umgekommenen Familienangehörigen. Sie wurde staatlich vereinnahmt. Julie Fedor: Russlands „Unsterbliches Regiment. Der Staat. Die Gesellschaft und die Mobilisierung der Toten“, in: Osteuropa, 5/2017, S. 61–85.
[7] Andrej Kolesnikov: Šestvie golych korolej. Novoe Vremja, 16.9.2019.
[8] Pavel Aptekar’: Kak ne prevratit’ pamjat’ o Pobede v pošlost’ i durnovkusie. Vedomosti, 25.12.2018.
[9] Andrej Kolesnikov: A Past That Divides. Russia’s New Official History. 5.10.2017.
[10] Džejms V. Verč: Chirosima v optike nacional’noj pamjati. Rossija vs SŠA, in: Istoričeskaja ėkspertiza, 3/2019, S. 9–16, hier S. 9.
[11] Kakoe prošloe nužno buduščemu Rossii. 2017, <https://komitetgi.ru/analytics/3076/#2>.
[12] Klaus Bachmann: Viel Feind, viel Ehr. Geschichtspolitik und Außenpolitik in Polen, in: Osteuropa, 3–5/2018, S. 413–434, hier S. 428.
[13] Masha Gessen: How a Single Remark Stole a Lithuanian Writer’s Livelihood. The New Yorker, 15.12.2017. Diese Debatte hatte Weiterungen. Siehe dazu die vier Beiträge: Erinnerungskonflikte in Litauen, in: Osteuropa, 6/2018, S. 83–126.
[14] Władimir Putin: Karty historii – powód do wzajemnych pretensji, czy podstawa pojednania i partnerstwa? Gazeta Wyborcza, 31.8.2009. – Russisch: Vladimir Putin: Stranicy istorii – povod dlja vzaimnych pretenzij ili osnova dlja primirenija i partnerstva? InoSMI.ru, 31.8.2009.
[15] Sergej Naryškin: Inogo vychoda ne bylo. Rossijskaja gazeta, 22.8.2019, <https://rg.ru/2019 /08/22/reshenie-sssr-zakliuchit-pakt-o-nenapadenii-s-germaniej-osnovyvalos-na-razvedke.html>. Die RIO war nach Putins Rückkehr auf den Präsidentenposten 2012 gegründet worden.
[16] Vladimir Medinskij: Diplomatičeskij triumf SSSR. RIA Novosti, 23.8.2019.
[17] Volodin nazval dejstvija vlastej Pol’ši oskorbljajuščimi pamjat’ sovetskich soldat. Interfaks, 1.9.2019.
[18] Ivanov napomnil, kak Čerčill’ sravnil Pol’šu v načale vojny s gienoj. RIA Novosti, 16.9.2019. – The War Memoirs of Winston Churchill. The Gathering Storm. Part III. Life, 3.5.1948, S. 75.
[19] Andrej Kolesnikov: Skelet iz škafa. Novoe vremja, 24.8.2009. – Tatjana Timofeeva: „Ob gut, ob schlecht, das ist Geschichte“. Russlands Umgang mit dem Molotov-Ribbentrop-Pakt, in: Osteuropa, 7–8/2009, S. 257–271, hier S. 260.
[20] Postanovlenie S”ezda narodnych deputatov SSSR o pakte Molotova–Ribbentropa ot 24.9.1989 goda, <http://doc20vek.ru/node/3261>.
[21] Putin: SSSR v vojne s Finljandiej chotel ispravit’ ošibki 1917 goda. RIA Novosti, 14.3.2013.
[22] Bol’šaja press-konferencija Vladimira Putina 19 dekabrja 2019 goda, <http://kremlin.ru/events/president/news/62366>.
[23] Entschließung des Europäischen Parlaments vom 19. September 2019 zur Bedeutung des europäischen Geschichtsbewusstseins für die Zukunft Europas (2019/2819(RSP)), <www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2019-0021_DE.html>.
[24] Putin, Stranicy istorii [Fn. 14].
[25] Katyn: Vladimir Putin i Donal’d Tusk počtili pamjat’ pogibšich. Golos Ameriki, 7.4.2010.
[26] Andrej Kolesnikov: Putin Welcomes Stalin Back to the Pantheon. Foreign Affairs, 1.10.2019. – Ders.: Ten’ Stalina nakryvaet stranu. Novoe Vremja, 23.12.2019.
[27] Postanovlenie S”ezda [Fn. 20].
[28] Dieses Gefühl beschreibt der Schriftsteller und Kriegsberichterstatter Konstantin Simonov: Istorii tjaželaja voda. Moskva 2005, S. 332–333.
[29] Yuri Slezkine: The House of Government. A Saga of the Russian Revolution. Princeton 2017.
[30] Zum Text des Liedes „Prinimaj nas, Suomi-krasavica“: <www.sovmusic.ru/text.php?fname=suomi2>.
[31] Obraščenie Prezidenta Rossijskoj Federacii, 18.3.2014, <http://kremlin.ru/events/ president/news/20603>.
[32] Dmitrij Volček: Gestapo + NKVD. Sovmestnye predprijatija čekistov i nacistov: Radio Svoboda, 12.1.2019.
[33] Oleg Budnickij: Komu pomog pakt Molotova-Ribbentropa. Vedomosti, 22.8.2019.
[34] Dmitrij Volček: Rezident NKVD v carstve Gitlera. Radio Svoboda, 23.8.2019.
[35] Ingeborg Fleischhauer: Der deutsch-sowjetische Grenz- und Freundschaftsvertrag vom 28. September 1939. Die deutschen Aufzeichnungen über die Verhandlungen zwischen Stalin, Molotow und Ribbentrop in Moskau, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 3/1991, S. 447–470, hier S. 458.
[36] Anne Applebaum: Putin’s Big Lie. The Atlantic, 5.1.2020.
[37] Putin: Stalin ne zapjatnal sebja prjamym obščeniem s Gitlerom. RIA Novosti, 24.12.2019.
[38] Repräsentativ dafür sind die Äußerungen der Sprecherin des Außenministeriums Marija Zacharova: Očerednaja prestupnaja popytka perepisat’ istoriju Vtoroj mirovoj. Ėcho Moskvy, 22.1.2020.
[39] Analitičeskij centr Jurija Levady: Obščestvennoe mnenie 2019. Ežegodnik. Moskva 2019, S. 166, <www.levada.ru/cp/wp-content/uploads/2020/02/OM-2019.pdf>.
[40] Raskrutku Katyni odobril Gitler. Kto na samom dele ubival poljakov. RIA Novosti, 5.3.2020.
[41] Obščestvennoe mnenie 2019 [Fn. 40], S. 167.
[42] Ebd., S. 169.
[43] Wie sich die Haltung zu Stalin verändert hat, lässt sich am Wandel der Art und Weise ablesen, wie Jubiläen des Tyrannen begangen werden. Gennadij Bordjugov: Stalin. Kul’t jubileev v prostranstva pamjati i vlasti. Moskva 2019.
[44] N.M. Charitonov v Gosdume predložil v Den’ Pobedy vyvesit’ na Krasnoj ploščadi bol’šoj portret Stalina. kprf.ru, 14.1.2020.
[45] Obščestvennoe mnenie 2019 [Fn. 43], S. 174.
[46] Ebd., S. 148.
[47] Neformal’nyj sammit CNG 20 dekabrja 2019 goda, <http://kremlin.ru/events/president/news/62376>.
[48] Buduščee SNG usmotreli w prošlom. Kommersant”, 11.10.2019.
[49] Reč’ I.V. Stalina na parade 7 nojabrja 1941 goda, <www.youtube.com/watch?v=TcNcRCBpCUY>.
[50] V.M. Molotov: Obraščenie po radio 22 ijunja 1941 g., <www.youtube.com/watch?v=4rkOJZwmQVo>.
[51] Oleg V. Budnickij: Izobretaja Otečestvo. Istorija vojny s Napoleonom v sovetskoj propagande 1941–1945, in: Rossijskaja istorija, 6/2012, S. 157–169. – Oleg V. Budnickij, Ljudmila G. Novikova (Hg.): Garvardskij proekt. Rassekrečennye svidetel’stva o Velikoj Otečestvennoj vojne. Moskva 2018, S. 331.
[52] Julija A. Safronova: Istoričeskaja pamjat’. Vvedenie. S.-Peterburg 2019, S. 42.
[53] Serhii Plokhy: Lost Kingdom. The Quest for Empire and the Making of the Russian Nation. From 1470 to the Present. New York 2017, S. 125.
[54] Ebd., S. 69.
[55] Ebd., S. 41.
[56] Exemplarisch: V Novosibirske ustanovili pamjatnik Stalinu. Kommersant”, 8.5.2019.
[57] Andrej Kolesnikov: Battl pamjatnikov. Novoe vremja, 2.12.2019. Im Dezember 2019 stimmte die Gemeindeversammlung von Prag-Řeporyje für ein solches Denkmal. Umstrittenes Denkmal für die Wlassow-Armee. Radio Prague International, 11.12.2019.
[58] Streit um einen Helden. Prag entfernt die Statue des sowjetischen Marschalls Konew, Moskau ist empört. Süddeutsche Zeitung, 23.4.2020.
[59] Vstreča s veteranami Velikoj Otečestvennoj vojny i predstaviteljami patriotičeskich ob”edinenij, 18.1.2020, <http://kremlin.ru/events/president/news/62609>.
[60] Minoborony Rossii opublikovalo rassekrečennye dokumenty k 75-letiju osvoboždenija stolicy Pol’ši Varšavy ot nemecko-fašistskich okkupantov, 17.1.2020, <https://function.mil.ru/news_page/country/more.htm?id=12271113@egNews>.
[61] Varšavskoe vosstanie 1944 v dokumentach iz archivov specslužb. Varšava, Moskva 2007.
[62] Andrej Kolesnikov: Telo Vallenberga. Lubjanka zaščiščaet svoj „suverenitet“. Moskovskij Komsomolec, 27.9.2017.
[63] Konstantin Konopljanko: Dokumenty o pamjati otsutstvyjut. Novaja gazeta, 1.12.2019. – Matthew Luxmoore: In Removal of Plaques Marking Katyn Massacre. Critics See Russian Campaign To Rewrite History. RFE/RL, 22.12.2019.
[64] „Kak ponjat’ složnoe ustrojstvo mnemoniki“. Interv’ju s Majklom Rotbergom, in: Istoričeskaja ėkspertiza, 3/2019, S. 17–26, hier S. 18.
[65] Ekaterina Makhotina: Sandarmoch, Dekoder, 3.8.2018.
[66] Irina Tomakova: Ėto vragi naroda, pravil’no ich rasstreljali. Novaja gazeta, 20.12.2019. – Luxmoore, In Removal of Plaques [Fn. 64].
[67] Aleksej D. Popov: Prazdnovanie 40-letija Pobedy i tendencii razvitija istoričeskoj pamjati o Velikoj Otečestvennoj vojne v poslednee sovetskoe desjatiletie, in: Rossijskie regiony. Vzgljad v buduščee, 2/2018, S. 15–34, hier S. 17–18.
[68] „Sochranjaem pamjat’ o Cholokoste, boremsja s antisemitizmom“, 23.1.2020, <http://kremlin.ru/events/president/transcripts/62646>.
[69] Ofer Aderet: Israel Sold the Memory of the Holocaust to the Interests of Foreign Nations. Haaretz, 24.1.2020.
[70] Manfred Sapper, Volker Weichsel (Hg.): Die Leningrader Blockade. Der Krieg, die Stadt und der Tod. Berlin 2011 [= Osteuropa, 8–9/2011].
[71] Elena Chizhova: Das doppelt verriegelte Gedächtnis – die Wahrheit über die Blockade Leningrads war in Russland lange ein strikt gehütetes Tabu. Neue Zürcher Zeitung, 6.5.2019. Für ihr Buch Vremja ženščin erhielt Čižova 2009 den Russischen Booker-Preis.
[72] Ebd. – „Moja blokadnaja pamjat’“. Ėsse Eleny Čižovej, publikacija kotorogo dovela do zajavlenija v Sledstvennyj komitet. Novaja gazeta, 13.5.2019.
[73] Zum Verhältnis von Trauer und Trauma: Alexander Etkind: Warped Mourning. Stories of the Undead in the Land of the Unburied. Stanford 2013.
[74] Vstreča so studentami veduščich vuzov, škol’nikami, prepodavateljami i nastavnikami, 22.1.2020, <http://kremlin.ru/events/president/news/62636>.
[75] Ėkspertizy KGI podveli itogi issledovanija soobščestva rossijskich istorikov: Komitetgi.ru, 27.2.2020. – Die Studie „Istoriki v sovremennoj Rossii. Struktura i samoopredelenie soobščestva“. Moskva 2020 ist einsehbar unter: <https://drive.google.com/file/d/1U8_ FFeBZRwsXJ4N5oWDHlYogtmeMu5t5/view>.
[76] Auf die Rückseite eines Denkmals auf dem Bahnhofsvorplatz des Örtchens Prochorovka, wo 1943 eine große Panzerschlacht stattgefunden hatte, hat jemand die Worte geschmiert: „Hänse und Fritzen [Hansy i Fricy]! Das werdet ihr nie vergessen! Und wenn es sein muss, kommen wir noch mal“. Minnoe pole. Na meste sraženija pod Prochorovkoj razvoračivaetsja ešče odna bitva meždu mifami i pravdoj davno zakončivšejsja vojny. Novaja gazeta, 11.9.2019.
[77] Dar’ja Chlevnjuk und Grigorij Judin erinnern daran, wann Vergangenheitsbewältigung erfolgreich ist: „Im Wesentlichen gelten […] solche Fälle als Erfolg, in denen sich Staaten mit dieser Frage befassen und Geschichtspolitik darauf abzielt, die Erinnerung an die Opfer zu verewigen und ähnlichen Ereignissen vorzubeugen.“ Dar’ja Chlevnjuk, Grigorij Judin: Moral’nye dilemmy XX veka. Moskva 2019, <https://drive.google.com/file/d/1nFWoFuCg224I3VxA308wN0uZ6fCJXe-7/view>.
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