Titelbild Osteuropa 3-4/2020

Aus Osteuropa 3-4/2020

Rasche Reaktionen, autoritäre Reflexe
Pandemiebekämpfung im Südkaukasus

Stefan Meister

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Abstract in English

Abstract

Armenien, Aserbaidschan und Georgien haben die Corona-Krise bislang gut bewältigt. Die Regierungen haben schnell das öffentliche und wirtschaftliche Leben eingeschränkt, um eine Ausbreitung der Pandemie zu verhindern. Die Infektionszahlen sind relativ gering. Doch die Krise verstärkt strukturelle Probleme. Sie bedroht die ökonomischen Erfolge der letzten Jahre. Infolge der Bekämpfung der Pandemie wächst die Bedeutung des Staates. Und es zeichnet sich ab, dass sich die autoritären Tendenzen in der Regierungspraxis der drei Länder weiter verstärken.

(Osteuropa 3-4/2020, S. 123–132)

Volltext

Die drei Länder des Südkaukasus, Armenien, Aserbaidschan und Georgien, sind bisher vergleichsweise gut durch die Corona-Krise gekommen. Sie haben früh begonnen, Reisebeschränkungen einzuführen, staatliche Einrichtungen zu schließen und das öffentliche Leben herunterzufahren. Die Infektionszahlen sind nur langsam gestiegen, wobei aus Armenien und Aserbaidschan mehr Fälle bekannt sind als aus Georgien.[1] Den Regierungen der drei Staaten war von Anfang an bewusst, dass ihre Gesundheitssysteme einen schnellen Anstieg schwerer Infektionen nicht auffangen können. Diese Krise verstärkt die strukturellen Defizite und Trends, die in den drei Ländern bereits vor Corona vorhanden waren. Ökonomisch trifft es die einseitig entwickelten Volkswirtschaften mit schwachen Sozialsystemen besonders hart. Georgien leidet besonders unter dem Einbruch des Tourismus, Aserbaidschan steht durch die fallenden Rohstoffpreise ohnehin unter Druck. Politisch nutzt Präsident Ilham Aliyev die Pandemie, um die Repressionen gegen die Opposition zu verschärfen. In Armenien hat Premierminister Nikol Paschinjan zeitweise die Tätigkeit der Medien zu beschränken versucht, als er durchsetzen wollte, dass nur noch offiziell freigegebene Informationen verbreitet werden dürfen. Darin kommt der Konflikt des Premierministers mit den alten Eliten aus der Vorgängerregierung zum Ausdruck, welche die großen Medien des Landes kontrollieren und die demokratisch gewählte Regierung durch Desinformationskampagnen attackieren.

Schnelle Reaktionen und politischer Burgfrieden

Nachdem in Georgien Ende Februar die ersten Corona-Fälle bekannt geworden waren, schloss die georgische Regierung Anfang März sofort die Schulen und öffentliche Einrichtungen. Alle zur existenziellen Versorgung der Bevölkerung nicht notwendigen Geschäfte mussten schließen, Einreisebeschränkungen für Ausländer wurden erlassen und der öffentliche Verkehr im Lande faktisch eingestellt. Am 21. März wurde der Notstand ausgerufen. Damit ging die Verhängung weiterer Beschränkungen des öffentlichen Lebens einher. Nun wurden die Wochen- und Straßenmärkte geschlossen und strenge Abstandsregeln beim Einkauf in Lebensmittelläden verordnet. Ende März erließ die Regierung Ausgangssperren für die Nacht- und Morgenstunden.[2]

Bis zum Ausbruch der Pandemie hatte das Land in einem Konflikt zwischen Opposition und der Regierungspartei Georgischer Traum gesteckt. Im Kern ging es um die Reform des Wahlgesetzes für die nächste Parlamentswahl, die Ende Oktober 2020 ansteht. Eigentlich sollte diese Wahl bereits im Rahmen eines neuen Wahlgesetzes vollständig unter Verhältniswahlrecht stattfinden, was eine Koalitionsregierung sehr wahrscheinlich gemacht hätte. Unter dem bisherigen gemischten System wird die stärkste Partei bevorzugt, weshalb der „Georgische Traum“ nach schlechten Umfrageergebnissen der Reform nicht zugestimmt hatte.

Das Auftauchen des Virus hat diesen Konflikt in den Hintergrund gedrängt und erstaunlicherweise auch die Form des Regierens verändert. Anders als es in der Regierungspartei Georgischer Traum zuvor üblich gewesen war, wurde das Management der Corona-Krise nicht einer Person anvertraut, die sich vor allem durch Loyalität gegenüber dem Milliardär und Gründer des Georgischen Traums, Bidzina Ivanishvili, auszeichnet, der das eigentliche Entscheidungszentrum der georgischen Politik ist. Vielmehr hört die Regierung unter dem bis dahin eher unbeliebten Premier Giorgi Gacharia von Anfang an auf die Experten des nationalen Zentrums für Krankheitskontrolle und öffentliche Gesundheit (NCDC) unter seinem Direktor Amiran Gamkrelidze.[3]

Die Regierung führte Anfang März die mehrsprachige Website <StopCov.ge> ein. Sie ist ein gutes Beispiel dafür, wie Bürger transparent über aktuelle Zahlen, Maßnahmen, Selbstschutz, aber auch Desinformation über die Pandemie informiert werden können.[4] Die Zustimmung in der Bevölkerung und die Disziplin bei der Einhaltung der Maßnahmen sind anhaltend hoch. Das könnte der Regierungspartei, deren Popularität sich bis zum Ausbruch der Corona-Krise im Sinkflug befand, bei den Wahlen im Oktober nutzen.[5] Die Opposition trägt bisher alle Maßnahmen mit. Sie hält offene Kritik für nicht opportun. Ungeachtet dessen wurden in den letzten Wochen wichtige Oppositionspolitiker wie der ehemalige Bürgermeister von Tiflis, Gigi Ugulava, zu drei Jahren Haft, und der Ex-Verteidigungsminister, Irakli Okruashvili, gar zu fünf Jahren Haft verurteilt, letzterer als Anführer der Proteste vom Juni 2019.[6] Während die Corona-Pandemie im Moment der Regierung zugutekommt, findet der Kampf um die Macht im Lande kaum mehr öffentliche Aufmerksamkeit, zumal die Opposition wegen der verhängten Einschränkungen keine öffentlichen Demonstrationen mehr durchführen kann.

Anders als die Politik hielt die einflussreiche orthodoxe Kirche unter dem 87-jährigen Patriarchen Ilia II. lange an den üblichen Prozeduren für die Messe fest. Bis in den April hinein wurde das Abendmahl mit ein und demselben Löffel an alle Gläubigen ausgegeben. Für manche Beobachter war die Ausrufung des Notstandes am 21. März auch eine Reaktion darauf, dass sich die Kirche nicht an Abstandsregeln gehalten hat.[7] Die Kirche reagierte darauf, indem sie darauf hinwies, dass die weltlichen Regeln des Notstandsregimes nicht für sie gelten würden. Dem widersprach die Regierung nur halbherzig. Dass sich die georgisch-orthodoxe Kirche über die Regeln hinwegsetzte, macht deutlich, dass sie sich nicht den Regeln des modernen, georgischen Staates unterwirft und sich als Parallelinstitution versteht, die jenseits der herrschenden Ordnung steht. Die Regierung befürchtete, dass die Abstandsregeln wegen dieser offenen Obstruktion auch beim orthodoxen Osterwochenende Mitte April nicht eingehalten würden, scheute sich aber wegen der hohen Autorität der Kirche vor einer direkten Konfrontation.

Möchte der Georgische Traum die Wahl im Herbst 2020 gewinnen, ist er auf die Unterstützung der Kirche angewiesen. Neben der Armee ist die Kirche die Institution im Land, die in der Bevölkerung die höchste Glaubwürdigkeit genießt. Während 85 Prozent der Georgier positiv gegenüber der Kirche eingestellt sind, sehen nur 37 Prozent die Regierung in einem guten Licht und nur 28 Prozent die Parteien.[8] Premier Gacharia wirkte fast hilflos, als er mit den Worten zitiert wurde, „als Christ folge ich all dem [der Ostermesse] von zu Hause“.[9] Die Georgische Orthodoxe Kirche, die COVID-19 als Folge von Homosexualität darstellt und für eine traditionelle Lebensweise steht, ist damit zum größten Risiko für die Verbreitung des Virus geworden. Letztlich hat die Regierung durch ein Fahrverbot von privaten Fahrzeugen und Taxis, der Schließung von Friedhöfen und durch massive Appelle an die Bevölkerung, dem Ostergottesdienst fernzubleiben, Massenansammlungen in den Kirchen am Osterwochenende verhindert.

Armenien und Aserbaidschan

Armenien hatte bereits am 23. Februar die Grenze zum Nachbarland Iran geschlossen, aus dem der erste identifizierte Infizierte eingereist war. Mitte März rief die Regierung den Notstand aus. Dabei dient der Notstand den Regierungen vor allem dazu, bestimmte Maßnahmen ohne erneute Prüfung durch das Parlament direkt einzuführen und den Sicherheitsorganen mehr Kontrollmöglichkeiten zu geben. Die Maßnahmen können in ihrer konkreten Ausgestaltung variieren, jedoch dienen sie alle dazu, die Kontakte auf ein Minimum zu reduzieren. Die meisten Infizierten im Südkaukasus kamen aus dem Iran oder waren Rückkehrer aus Italien und Russland. Viele Menschen aus den drei Staaten arbeiten in den Nachbarländern oder im europäischen Ausland. Im Gegensatz zu Georgien war die armenische Regierung in der ersten März-Hälfte entspannter, was das öffentliche Leben und die Öffnungszeiten von Läden betrifft, reagierte jedoch ab Mitte März, als die Zahl der Infizierten in Armenien stieg, drastischer. Neben der Schließung öffentlicher Einrichtungen und aller Läden des nicht lebensnotwendigen Bedarfs, sind Veranstaltungen mit mehr als 20 Personen verboten. Die Einreise nach Armenien wurde für Personen, die keine Staatsbürger Armeniens sind, verboten. Armenier dürfen sich an ihrem Wohnort nur noch auf bestimmten Wegen bewegen und müssen einen Zettel bei sich tragen, auf dem alle wichtigen Angaben zur Person und ihrem Ziel stehen.[10] Arbeitgeber müssen ihren Mitarbeitern eine Bescheinigung ausstellen, in der sie bestätigen, dass es notwendig ist, zur Arbeitsstelle zu gehen.

Anders als die Regierungen in Georgien und Armenien hatte die aserbaidschanische Führung bis Ende April keinen Notstand ausgerufen, sondern strenge Quarantänemaßnahmen erlassen und diese bis Anfang Mai verlängert. Menschen im Alter von mehr als 65 Jahren ist es verboten, ihre Wohnung zu verlassen. Alle anderen Personen dürfen nur unter strengen Auflagen aus dem Haus gehen. Die Grenzen zum Iran wurden am 1. März und die georgisch-aserbaidschanische Grenze für den Personenverkehr am 14. März geschlossen. Staatsbürger, die aus dem Ausland einreisen, müssen in eine 14-tägige Quarantäne. Dabei sind 300 Arbeitsmigranten in Russland gestrandet, die nicht einreisen dürfen.[11] Bürger anderer Staaten ist die Einreise verboten. Jeder Bürger, der seine Wohnung verlassen möchte, muss im gesamten Land eine SMS an eine Regierungsnummer schicken, den Zweck und das Ziel seines Ausgangs sowie seine Ausweisnummer angeben. Mit einer Bestätigung können sie dann nur diesen Weg gehen und müssen bei einer Polizeikontrolle die Bescheinigung vorzeigen. Weiterhin gelten Reisebeschränkungen für die Einreise und das Verlassen des Wohnortes innerhalb des Landes und insbesondere für die Hauptstadt Baku.[12] Polizei und Armee werden eingesetzt, um diese Regeln durchzusetzen. Aserbaidschan hat später als die Nachbarländer seine Grenzen geschlossen und das öffentliche Leben heruntergefahren. Dabei war gerade Aserbaidschan das Einfallstor, über das sich das Virus verbreitete, als Infizierte aus dem Iran über Aserbaidschan nach Georgien und Belarus einreisten, oder aus dem Infizierte nach Russland, Kuweit und Israel ausreisten.[13]

Autoritäre Tendenzen

In seiner Ansprache an die Nation anlässlich der Feier zum Novruz-Neujahrsfest am 19.3.2020 griff der aserbaidschanische Präsident Ilham Aliyev Opposition direkt angreifen. Er drohte, es könne nötig werden, hart gegen die Opposition vorzugehen. Die Opposition würde in der Krise versuchen, durch Provokationen und Falschinformationen Unruhen und Panik im Land zu schüren. Aliyev spricht von Provokationen der Opposition in der Corona-Krise, der er vorwarf, eine „fünfte Kolonne“ und damit ein Sicherheitsrisiko zu sein, ohne dass er näher spezifiziert hätte, wessen „fünfte Kolonne“ die Opposition sein solle. In seiner Rede fragte Aliyev: "Wo kommen diese Provokationen her? Von der fünften Kolonne, von den Feinden, die unter uns sind, von den Elementen, die sich selbst Opposition nennen, von den Verrätern, die Geld aus dem Ausland erhalten."

Falls es zur Ausrufung des Notstands komme, so Aliyev, könnte „die Isolation von Vertretern der fünften Kolonne zu einer historischen Notwendigkeit werden“.[14] Kritiker argumentierten, dass die aserbaidschanische Regierung die Grenze zum Iran zu spät geschlossen habe und sich das Virus so habe ausbreiten können. Damit könne die Corona-Krise nun dem Regime in Aserbaidschan einen Anlass bieten, eine neue Welle der Repression gegen Oppositionelle zu initiieren. Und tatsächlich: Kurz nach der Rede des Präsidenten wurden Oppositionsvertreter verhaftet. Ihnen wurde zumeist vorgeworfen, die Quarantäne nicht eingehalten zu haben. Einzelne Personen wurden bis zu 30 Tage inhaftiert.[15] Auch kritische Journalisten, die regelmäßig über soziale Probleme berichtet hatten, wurden gemaßregelt und inhaftiert. Dieses Vorgehen zeigt eines: Das Aliyev-Regime ist höchst nervös.[16] Denn in Aserbaidschan bedroht nicht nur die Pandemie die Handlungsfähigkeit der Regierung. Auch die gefallenen Öl- und Gaspreise haben gravierende Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung des Landes. Obwohl der Preiskampf zwischen Russland und Saudi-Arabien beendet ist und sich die OPEC+-Staaten auf eine Reduzierung der Fördermengen geeinigt haben, ist der Ölpreis auf unter 20 US-Dollar pro Barrel gefallen.[17]

In Armenien wurde nach einer kontroversen Diskussion im Parlament ein Gesetz erlassen, das das Nachverfolgen von Handy- und damit Bewegungsdaten erlaubt, um eine weitere Ausbreitung des Virus zu verhindern.[18] Diese Regelung gilt zwar nur, solange der Notstand andauert, und angeblich sollen auch die Daten dann vernichtet werden. Jedoch gibt es Kritik an der Kommunikationspolitik der nach der Samtenen Revolution 2018 gewählten Regierung, die auch in diesem Zusammenhang angesprochen wurde. Die Regierung hatte restriktiv auf die Verbreitung von Falschnachrichten über das Corona-Virus reagiert. Sie untersagte Journalisten und Medien, offiziell nicht bestätigte Nachrichten zu verbreiten. Journalisten wurden von der Polizei aufgefordert, Beiträge über Verstöße gegen die Notstandsregeln oder über die zum Teil desolate Situation in Krankenhäusern zu löschen. Diese Einschränkungen trafen auch unabhängige, kritische Journalisten und Blogger, die Paschinjan während der Samtenen Revolution unterstützt hatten. Aufgrund des massiven öffentlichen Drucks hat die Regierung diese Beschränkungen für Medien wieder abgeschafft, obwohl sie den Notstand Mitte April bis zum 14. Mai verlängert hat.[19]

Problematisch erscheint, dass in Bergkarabach, einer umstrittenen Region zwischen Armenien und Aserbaidschan, am 31. März international nicht anerkannte Parlaments- und Präsidentschaftswahlen durchgeführt wurden. Bergkarabach, das nach einem Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien Anfang der 1990er Jahre von Armenien besetzt wurde, ist ökonomisch und sicherheitspolitisch von Armenien völlig abhängig. Kritisiert wurde, dass die Wahlbeobachtung massiv reduziert werden musste und der Urnengang das Risiko einer weiteren Ausbreitung des Virus deutlich erhöhte.[20] Im ersten Wahlgang verfehlte der ehemalige Premier Arajik Harutjunjan mit 49 Prozent knapp die absolute Mehrheit, der eher als ein Vertreter der korrupten alten Eliten gilt und nicht für einen politischen Wechsel steht. Indem sie diese Wahl zuließ, hat die demokratisch gewählte armenische Regierung nicht zuletzt an Ansehen in den Gruppen verloren, die für eine Demokratisierung des Landes eintreten. Zwar handelt es sich um die bisher freieste und kompetitivste Wahl in Bergkarabach, jedoch war sie alles andere als fair und wurde von einer Vielzahl von Verstößen begleitet.[21] Aus der zweiten Runde der Wahlen am 14. April 2020 ging Haratjunjan unter umfangreichen Hygienemaßnahmen mit 88 Prozent der Stimmen als Sieger hervor.

Sozioökonomische Nothilfe

Alle drei Länder des Südkaukasus haben schwache Sozialsysteme. Viele Menschen sind als Händler, Taxifahrer oder in der Baubranche in einer Grauzone tätig, ohne versichert zu sein. Vor allem junge Menschen arbeiten in prekären Jobs im Dienstleistungssektor, Tourismus und der Landwirtschaft und sind zumeist mit der Schließung von Läden oder Hotels ohne finanziellen Ausgleich nach Hause geschickt worden. Zur Arbeitslosigkeit gibt es hohe Dunkelziffern: Die Weltbank, die für das Jahr 2019 von 18 Prozent Arbeitslosigkeit in Armenien und 11,6 Prozent in Georgien sprach, trifft mit diesen Zahlen nicht mehr die heutige Lage in diesen Ländern. Denn zu den Arbeitslosen hinzugekommen sind jene Menschen, die offiziell überhaupt nicht als Arbeitskräfte gemeldet waren oder sich mit Subsistenzwirtschaft über Wasser halten. Das gilt teilweise auch für Aserbaidschan, das jedoch aufgrund seiner Erlöse aus dem Öl- und Gasverkauf ökonomisch viel besser dasteht und mit 5,4 Prozent Arbeitslosigkeit die niedrigste offizielle Quote aufweist.[22] Keines der Länder hat es geschafft, nach dem Ende der Sowjetunion eine wettbewerbsfähige Industrie oder Landwirtschaft aufzubauen. In Georgien halten vor allem der Tourismus und der Zufluss von ausländischem Kapital die Volkswirtschaft am Laufen. In Armenien sind es Gelder, die armenische Arbeitsmigranten vor allem aus Russland in ihr Heimatland schicken. Diese Einnahmen brechen nun weg und fehlen nicht nur den Familien, sondern auch beim Binnenkonsum. Aserbaidschan hat zwar durch seine Öl- und Gasvorkommen ganz andere Budgetmittel in der Krise zur Verfügung, leidet aber seit Jahren unter den fallenden Rohstoffpreisen und der weiterhin hohen Korruption.[23]

Die georgische Regierung führte am 13. März 2020 einen Antikrisenplan ein, der vor allem auf die Unterstützung des wichtigsten volkswirtschaftlichen Sektors zielte, der Tourismusindustrie. Dazu zählen staatliche Unterstützungen für kleine Hotels durch Lohnrückzahlung für sechs Monate, Verdoppelung der Steuerrückzahlungen, spätere Zahlung von Einkommens- und Eigentumssteuer für tourismusnahe Branchen sowie eine Umschuldung für alle Firmen.[24] Die Ausgaben für den Gesundheitssektor wurden um 350 Millionen Lari (ca. 100 Millionen Euro) erhöht. Die Rechnungen des ärmsten Teils der Bevölkerung für Strom, Gas und Wasser werden vorübergehend für einen bestimmten Zeitraum von der Regierung übernommen. Georgien ist von Kapitalzufluss aus dem Ausland abhängig, die meisten Kredite werden in ausländischen Währungen, vor allem in US-Dollar, ausgegeben, weshalb die georgische Regierung am Anfang der Krise hohe Summen verwendet hat, um den Lari zu stützen.

Nachdem die armenische Regierung Anfang März die Wirtschaft komplett heruntergefahren hatte, hat die Regierung Mitte April einige Schlüsselbereiche wie die Textilbranche und den Minen-, Tabak- und Bausektor wieder geöffnet. Diese Ankündigung kam, nachdem der Gesundheitsminister Arsen Torosjan kurz zuvor davor gewarnt hatte, dass es wahrscheinlich für ein bis zwei Jahre unmöglich sein könnte, zu einem normalen Leben zurückzukehren.[25] Die Weltbank hatte in ihrem Frühjahrsreport angekündigt, dass unter dem eher positiven Szenario einer langsamen Erholung die Wirtschaft im dritten Quartal ein Wachstum von 1,7 Prozent 2020 gegenüber 7,6 Prozent im letzten Jahr haben könnte. Dabei besteht das größte Risiko darin, dass die Rohstoffpreise auf dem Weltmarkt fallen könnten. Davon wäre Armenien stark betroffen, denn der kleinste der südkaukasischen Staaten fördert u.a. Molybdän, Kupfer und Gold. Prekär ist auch die hohe Abhängigkeit der armenischen Volkswirtschaft von Rückzahlungen von Arbeitsmigranten aus Russland, die 2018 zwölf Prozent des Bruttoinlandsprodukts betrugen.[26] Seit der Ausrufung des Notstandes am 16. März 2020 hat die Regierung zwölf Programme zur Unterstützung von Familien und Unternehmen erlassen. Dazu zählen Einmalzahlungen für Eltern mit kleinen Kindern, die Subventionierung von Nebenkosten und Krediten, Steuerrückzahlungen, zinsfreie Kredite für kleine Unternehmen und fortlaufende Zahlungen im Falle von Arbeitslosigkeit.[27]

Als Krisenmaßnahmen hat die aserbaidschanische Regierung 8,3 Millionen Manat (ca. 4,15 Millionen Euro) zusätzlich für das Gesundheitssystem zur Verfügung gestellt und einen COVID-19-Fonds mit 20 Millionen Manat (ca. zehn Millionen Euro) eingerichtet, in den auch öffentliche und private Geber einzahlen können. Weiterhin wurde angekündigt, betroffene Unternehmen mit bis zu 2,5 Milliarden Manat (ca. 1,35 Milliarden Euro, rund 3,5 Prozent des BIP) zu unterstützen.[28] Inzwischen wurden durch verschiedene Geber mehr als 112 Millionen Manat (80 Millionen Euro; Stand: 20.4.2020)[29] in den Fonds eingezahlt, der laut Präsident Aliyev vor allem die Solidarität unter den Aserbaidschanern zeigen sollte. So hat die Pasha Holding, ein Unternehmen, das vom Aliyev-Clan geführt wird, drei Millionen Euro und zwei Millionen Manat gespendet. Beobachter gehen davon aus, dass die Regierung mit diesem Fonds weniger auf die Corona-Krise reagiert, als vielmehr eine Art zusätzlichen Stabilitätsfonds schafft und sich damit auf einen dauerhaft niedrigen Ölpreis vorbereitet.[30]

In Aserbaidschan ist die Wirtschaft vor allem von den Einnahmen aus dem Öl- und Gasgeschäft abhängig – das Land hat als Folge der globalen Wirtschaftskrise sowie des Preiskampfes zwischen Russland und Saudi-Arabien deshalb mit sinkenden Ölpreisen zu kämpfen. 90 Prozent der Exporte des Landes sind Öl oder Ölprodukte. Im Gegensatz zu anderen rohstoffexportierenden Staaten wie Russland oder Kasachstan hat die aserbaidschanische Regierung ihre Währung nicht abgewertet, sondern im ersten Quartal 2020 allein 1,1 Milliarden US-Dollar aus dem staatlichen Ölfonds zur Stabilisierung des Wechselkurses des Manat gegenüber dem Dollar ausgegeben.[31] Diese Politik soll der Bevölkerung ein Gefühl von Stabilität geben, das Geld wird jedoch fehlen, wenn die Wirtschaftskrise länger andauert.

Strukturelle Defizite

All diese Maßnahmen dienen dazu, die kurzfristigen Folgen der Pandemie abzufangen. Jedoch helfen sie nicht, die mittel- bis langfristigen Probleme der drei Volkswirtschaften zu lösen, die sich durch das Herunterfahren der Wirtschaft und des öffentlichen Lebens sowie die anhaltenden Einschränkungen für viele Branchen weiter verschärfen werden. Diese Maßnahmen sollen Unruhen verhindern und schlimmste soziale Verwerfungen mildern, sie lösen aber nicht die sich verschärfenden sozialen Probleme. Das Gesundheitssystem ist wie viele andere öffentliche Bereiche entweder privatisiert worden (Georgien) oder massiv unterfinanziert (Armenien). Selbst wenn es Sozialleistungen gibt, können viele Menschen sie offiziell nicht beanspruchen, da sie bislang in informellen Sektoren arbeiten, was die Regierungen toleriert haben. Das trifft neben älteren Menschen, die Renten unter dem Existenzminimum beziehen, vor allem junge Menschen, die fast alle ihre Jobs im Dienstleistungssektor verloren haben. Nun rächt sich, dass sich Georgien in seiner Wirtschaftsstruktur einseitig auf Tourismus und Dienstleistungen konzentriert hat.

In Armenien ist die Armutsrate (1,90 US-Dollar am Tag) von 2016 bis 2019 von 29,8 Prozent auf 22,2 Prozent gefallen;[32] in Georgien von 2016 bis 2018 von 22 Prozent auf 20 Prozent.[33] In Georgien leben 50 Prozent der Bevölkerung an der Armutsgrenze.[34] Armut ist in diesen Ländern nicht nur am verfügbaren Einkommen zu messen. Ein Großteil der Bevölkerung leidet auch an nichtmateriellem Mangel, der in keiner Statistik internationaler Finanzinstitute auftaucht. Dazu zählen Armut an Gesundheit, Bildung, sozialer Integration und Sicherheit über die eigene Zukunft. Extreme Unterschiede zwischen der Hauptstadt und dem Rest des Landes, gravierende Ungerechtigkeit zwischen den Geschlechtern und begrenzter Zugang zu öffentlichen Gütern für ethnische Minderheiten und Binnenflüchtlinge prägen die drei Länder.

Die ökonomischen Erfolge der letzten Jahre werden durch die Pandemie in Frage gestellt, betrifft sie doch Länder, in denen die jeweilige Gesellschaft sozio-ökonomisch verletzlich ist und ein geringes Vertrauen in staatliche Institutionen hat. Die Privatisierung und Kommerzialisierung fast aller Bereiche des öffentlichen Lebens führt zu einer schwachen Widerstandsfähigkeit von Staat und Gesellschaft in Krisenzeiten. Durch die Bekämpfung der Pandemie und ihrer Folgen wird die Rolle des Staates wachsen, den in Aserbaidschan ein autoritäres Regime und in Armenien und Georgien hybride demokratisch-autoritäre Regime führen. In Armenien waren nach der Samtenen Revolution Ansätze zu beobachten, dass Partizipation, Demokratie und soziale Gerechtigkeit gestärkt werden könnten. In Georgien waren bereits im Vorfeld der Parlamentswahlen im Herbst 2020 wachsende autoritäre Tendenzen im Regierungslager zu beobachten. Die aserbaidschanische Führung verbindet mit der aktuellen Krise ihr Vorgehen gegen die Opposition. Die georgische Regierung hat besonnen und schnell auf den Ausbruch der Pandemie reagiert und doch wird die bestehende Polarisierung in Politik und Gesellschaft Georgiens gerade nach der akuten Krise wieder stärker hervortreten. Somit bleibt zu hoffen, dass die Zivilgesellschaft, die in der Krise in allen drei Ländern die Lücken geschlossen hat, die der Staat hinterlässt, auch nach der akuten Krise den Druck auf die politischen Führungen aufrechterhält, um strukturelle Reformen durchzuführen.[35]

Manuskript abgeschlossen am 22.4.2020

 


[1]   Aktuelle Zahlen für alle drei Länder: Coronavirus live updates. OC-Media, <https://oc-media.org/coronavirus-live-updates-1-april/>.

[2]   Georgia gets rare plaudits for coronavirus response. Eurasianet, 20.3.2020, <https://eurasianet.org/georgia-gets-rare-plaudits-for-coronavirus-response>.

[3]   The four musketeers at frontline of Georgia’s fight against pandemic. civil.ge, 15.4.2020, <https://civil.ge/archives/346979>.

[4]   Prevention of Corona Virus spread in Georgia, <https://stopcov.ge/en>.

[5]   Nach einer Umfrage des International Republican Institute vom November 2019 unterstützen nur noch 23 Prozent der Befragten den „Georgischen Traum“. Das wäre auch unter dem alten Wahlgesetz nicht ausreichend, um ohne einen Koalitionspartner zu regieren. International Republican Institute. Public opinion survey residence of Georgia, 18.11.2019, S. 56, <www.iri.org/sites/default/files/wysiwyg/georgia_poll_11.18.2019_final.pdf>. Eine aktuelle Umfrage unter Experten zeigt, dass deren Zustimmung zum Krisenmanagement der Regierung hoch ist. Georgian Institute of Politics. Expert Polls, March 22, <http://gip.ge/wp-content/uploads/2020/03/Expert-Polls-11-2.pdf>.

[6]   Former Georgian defense minister Irakli Okruashvili given 5 years for 20 June violence. OC-Media, 14.4.2020, <https://oc-media.org/former-georgian-defence-minister-irakli-okruashvili-given-5-years-for-20-june-violence/>.

[7]   Georgia declares state of emergency. OC-Media, 21.3.2020, <https://oc-media.org/georgia-declares-state-of-emergency/>.

[8]   IRI, Public opinion survey [Fn. 5], S. 29.

[9]   Georgian Orthodox Church remains unyielding as Easter celebrations approach. OC-Media, 9.4.2020, <https://oc-media.org/georgian-orthodokh-church-remains-unyielding-as-easter-celebrations-approach/>.

[10] Coronavirus: Armenia steps up state of emergency measures. Civilnet, 24.3.2020, <www.civilnet. am/news/2020/03/24/Coronavirus-Armenia-Steps-Up-State-of-Emergency-Measures/379669>.

[11] About 300 Azerbaijanis stuck on border from Russian side. Turan, 14.4.2020, <www.turan.az/ext/news/2020/4/free/Social/en/123181.htm>.

[12] U.S. Embassy in Azerbaijan, COVID-19 information for Azerbaijan, <https://az.usembassy.gov/covid-19-information-for-azerbaijan/>.

[13] To fight coronavirus, Azerbaijan passes the hat. Eurasianet, 25.3.2020, <https://eurasianet.org/to-fight-coronavirus-azerbaijan-passes-the-hat>.

[14] President of the Republic of Azerbaijan, Message of congratulation of President Ilham Aliyev to the people of Azerbaijan on the occasion of Novruz holiday, 19.3.2020, <https://en.president.az/articles/36212>.

[15] Six more opposition activists arrested in Azerbaijan. OC-Media, 11.4.2020, <https://oc-media.org/sikh-more-opposition-activists-arrested-in-azerbaijan/>.

[16] Azerbaijan arrests journalists for „violating quarantine“. OC-Media, 16.4.2020, <https://oc-media.org/azerbaijan-arrests-journalists-for-violating-guarantine/>.

[17] Nick Cunningham: Coronavirus has wiped out a decade of oil demand growth. Oilprice.com, 15.4.2020, <https://oilprice.com/Energy/Crude-Oil/Coronavirus-Has-Wiped-Out-A-Decade-Of-Oil-Demand-Growth.html>. – Dazu auch Roland Götz: Sečins Ölkrieg. Die OPEC+ und Russland, in diesem Band S. 3–14.

[18] Armenia adopts controversial data collection bill to fight coronavirus. Civilnet, 30.3.2020, <www.civilnet.am/news/2020/03/30/Armenia-Adopts-Controversial-Data-Collection-Bill-to-Fight-Coronavirus/380432>.

[19] Armenia: Coronavirus vs. free speech. Jam-news, 7.4.2020, <https://jam-news.net/armenia_coronavirus-media-freespeech/>.

[20] Elections in Karabakh to go ahead in spite of coronavirus. Eurasianet, 26.3.2020, <https://eurasianet.org/elections-in-karabakh-to-go-ahead-in-spite-of-coronavirus>.

[21] Armenia vexed by contested vote in Karabakh. Eurasianet, 6.4.2020, <https://eurasianet.org/armenia-vexed-by-contested-vote-in-karabakh>.

[22] World Bank Group, Europa and Central Asia Economic Update, Fighting COVID-19, 8.4.2020, S. 39, 41, 51, <https://openknowledge.worldbank.org/bitstream/handle/10986/ 33476/9781464815645.pdf>.

[23] Transparency International führt Aserbaischan 2019 auf Platz 126 von 180 Staaten. Transparency International, Corruption Perception Index 2019, <www.transparency.org/cpi2019>.

[24] Government of Georgia, Premier Ministers presents plan for concrete economic stimulus measures, 13.3.2020, <http://gov.ge/index.php?lang_id=ENG&sec_id=547&info_id=75564>.

[25] As it attempts to reopen economy, Armenia juggles stimulus plan. Eurasianet, 15.4.2020, <https://eurasianet.org/as-it-attempts-to-reopen-economy-armenia-juggles-stimulus-plans>.

[26] World Bank Group, Europa and Central Asia Economic Update, Fighting COVID-19, 8.4.2020, S. 40, <https://openknowledge.worldbank.org/bitstream/handle/ 10986/33476/9781464815645.pdf>.

[27] The Government of the Republic of Armenia, Programs to address the economic impact of COVID-19, <www.gov.am/en/covid19./>.

[28] International Monetary Fund, Policy responses to COVID-19, Azerbaijan, <www.imf.org/en/Topics/imf-and-covid19/Policy-Responses-to-COVID-19>.

[29] The Corona Response Fund, <http://covid19fund.gov.az/en/>.

[30] To fight coronavirus [Fn. 12].

[31] Perspectives Azerbaijan’s exchange-rate fix. Eurasianet, 21.4.2020, <https://eurasianet.org/perspectives-azerbaijans-exchange-rate-fix>.

[32] UNDP Armenia, Poverty reduction, <www.am.undp.org/content/armenia/en/home/sustainable-development.html>.

[33] National statistics office of Georgia, Living conditions, <www.geostat.ge/en/modules/categories/192/living-conditions>.

[34] World Bank Group, Georgia from Reformer to Performer, 27.4.2018, S. 17–18, <https://openknowledge.worldbank.org/bitstream/handle/10986/29790/GEO-SCD-04-24-04272018.pdf?sequence=1&isAllowed=y>.

[35] Perspective: Eurasia’s citizens-led response to the coronavirus crisis. Eurasianet, 14.4.2020, <https://eurasianet.org/perspectives-eurasias-citizen-led-response-to-the-coronavirus-crisis>.

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