Aktive und Träge
Russlands Gesellschaft nach den Naval’nyj-Protesten
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Abstract
Trotz Verboten und Abschreckung gingen Ende Januar Hunderttausende, vor allem junge Menschen in Russland auf die Straße, um gegen die Verhaftung und Verurteilung von Aleksej Naval’nyj zu protestieren. Aus diesen Protesten erwachsen noch keine stabilen politischen Strukturen. Aber sie finden vor dem Hintergrund einer gewachsenen Unzufriedenheit statt. Das Regime reagiert mit Härte. Doch die Gesellschaft lässt sich nicht mehr in Winterstarre versetzen. Was gestern unvorstellbar schien, ist heute in den Bereich des Möglichen gerückt: Putin ist nicht mehr der Quell aller Legitimität, sondern wird zu einer Last, die das Establishment loswerden möchte.
(Osteuropa 12/2020, S. 918)
Volltext
Im Sommer 2010 lag eine ungewöhnliche Hitze über dem europäischen Teil Russlands. Im Umland von Moskau standen die Wälder in Brand. Der Feuerwehr und den Rettungsdiensten fehlte es an Personal und Ausrüstung zum Löschen der Brände und zur Versorgung der Verletzten.
Das Versagen der staatlichen Einsatzkräfte kam nicht unerwartet. Überraschend war, dass sich rasch eine große Zahl von Freiwilligen organisierte. Sie kamen vor allem aus Moskau und sammelten in kürzester Zeit Geld für Medikamente, Lebensmittel, Schläuche, Pumpen und andere Gerätschaften. Möglich wurde dies dank spezieller Internetplattformen, welche die Freiwilligen spontan eingerichtet hatten. Dies zeigte, dass in Russland zumindest ein Teil der Gesellschaft über den inneren Antrieb und die Erfahrung verfügt, die für zivilgesellschaftliche Selbstorganisation unerlässlich sind.
Anderthalb Jahre nach den Bränden trat dieser Habitus erneut hervor, das organisatorische Know-how kam wieder zum Einsatz. Doch dieses Mal ging es um Politik. Anlass waren die Proteste gegen die Fälschungen bei den Duma-Wahlen im Dezember 2011.
Die 2010er Jahre waren von einem stetigen Ausbau des Überwachungsstaats gekennzeichnet. Die Behörden gingen immer rigider gegen politisches Engagement und oft sogar gegen nahezu unpolitische zivilgesellschaftliche Organisationen vor. Doch die Bereitschaft der Gesellschaft, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, konnte das Regime nicht brechen. Diese ist vielmehr gewachsen. Russlands Gesellschaft hat eine soziale Modernisierung durchlaufen. Sie ist heute nicht nur zum kollektiven Handeln bereit, sondern auch dazu in der Lage. Sie kann mit vereinten Kräften auf ein selbstgestecktes Ziel hinarbeiten. Besonders wichtig sind altruistische Organisationen, die nicht nur die Interessen ihrer Mitglieder verteidigen, etwa wenn sie einen Neubau in der Nachbarschaft oder den Bau einer gefährlichen Produktionsanlage in einem nahegelegenen Wald verhindern wollen.
Die Zahl altruistischer NGOs ist heute in Russland unüberschaubar groß. Am einen Ende des Spektrums stehen unpolitische Wohltätigkeitsorganisationen, die Waisen, Invaliden, schwer erkrankte Kinder oder hochbetagte Menschen unterstützen. Dem Staat kommt es zupass, dass diese Organisationen Aufgaben übernehmen, die er selbst zu erfüllen nicht in der Lage oder nicht willens ist. Am anderen Ende des Spektrums stehen etwa nichtstaatliche Online-Medien, insbesondere jene, die häufig über Korruption und Machtmissbrauch berichten, aber auch zahlreiche Organisationen, die im Bereich der politischen Bildung tätig sind, etwa Memorial oder das Sacharov-Zentrum, wo öffentliche Diskussionen zu politischen Themen stattfinden. An vorderster Front arbeiten auch OVD-Info, eine Freiwilligenorganisation, die über Verhaftungen bei Protesten berichtet und den Betroffenen einen Anwalt vermittelt,[1] Apologija Protesta, eine Menschenrechtsinitiative, die ebenfalls willkürlich Festgenommenen und politischen Gefangenen juristische Hilfe zukommen lässt, und Mediazona, eine Internetplattform, die über Festnahmen, Verhaftungen und alle Formen der politischen Verfolgung berichtet.
Die neue Protestwelle und die Zivilgesellschaft
Trotz Verboten und massiver Abschreckung gingen am 23. und 31. Januar 2020 in vielen Städten Russlands zahlreiche Menschen auf die Straßen, um gegen die Verhaftung von Aleksej Naval’nyj und seine Verurteilung zu protestieren. Der Staat reagierte auf die Proteste mit Massenfestnahmen und brutaler Gewalt, verhängte Geldbußen und Arreststrafen. Betroffen waren auch viele Menschen, die sich während der Proteste rein zufällig auf der Straße aufgehalten hatten. In vielen Fällen wurden ihnen Vernehmungsprotokolle zur Unterschrift vorgelegt, in denen weder der Zeitpunkt noch der Ort ihrer Festnahme stimmten. Ohne den geringsten Beweis wurden ihnen Ordnungswidrigkeiten angehängt.[2]
Die Freiwilligen von OVD-Info und Mediazona dokumentierten diese Fälle. Andere Freiwillige brachten Lebensmittel und warme Kleidung in die Haftanstalten, die teils weit außerhalb Moskaus lagen und wo es weder Matratzen noch Decken gab. Stundenlang mussten die Verhafteten im Freien oder in ungeheizten Räumen warten und wurden nicht mit Essen versorgt. Mitunter bekamen sie nicht einmal Wasser. Die Freunde und Verwandten der Zellengenossen gründeten gemeinsame Telegramkanäle, um sich bei der Unterstützung der Festgenommenen zu koordinieren und jenen, die noch auf der Suche nach ihren verschwundenen Angehörigen oder Bekannten waren, Informationen geben zu können.
OVD-Info, Mediazona und der unabhängige Internetfernsehsender Dožd’, der ausführlich über die Proteste berichtet, verzeichneten einen massiven Anstieg von Besuchern auf ihren Internetseiten und erhielten zahlreiche Spenden.[3] „Zivilgesellschaft in Hochform: wechselseitige Hilfe, Solidarität, lebendiger Austausch“, schrieb die Moskauer Anwältin Maria Ėjsmont, die seit langem Opfern von Polizeiwillkür hilft, auf ihrer Facebook-Seite.[4]
Zweifellos ist Russlands Gesellschaft heute fähig, sich selbst zu organisieren. Doch was ist der politische Effekt dieser Errungenschaft?
„Same procedure as every year“?
Straßenproteste sind keine Seltenheit in Russland. Oft sind sie lokal und richten sich gegen Baupläne des Staats, der Kirche oder einflussreicher Wohnungsgesellschaften. Seit den großen Demonstrationen im Winter 2011/2012 sind jedoch immer wieder auch Proteste aufgeflammt, in denen es nicht um konkrete Interessen, sondern um die Willkür des Staates als solche ging: Kundgebungen zur Unterstützung der in politischen Prozessen, den sogenannten Bolotnaja-Prozessen, verurteilten Teilnehmer der Proteste von 2012, Demonstrationen gegen die Verurteilung von Aleksej Naval’nyj in dem Prozess wegen angeblicher Veruntreuung von Holz, in dem Naval’nyj 2013 zu einer Bewährungsstrafe verurteilt wurde,[5] die Proteste gegen den von Russland entfesselten Krieg im Donbass im Jahr 2014 und gegen das Verbot, Waisenkinder aus Russland zur Adoption ins Ausland zu vermitteln, die Kundgebungen nach dem Mord an Boris Nemcov im Februar 2015 und die Proteste gegen die groben Fälschungen bei den Wahlen zur Moskauer Stadtversammlung im Jahr 2019. Die Liste ist bei weitem nicht vollständig.
Die gegenwärtigen Proteste finden vor dem Hintergrund einer generell gewachsenen Unzufriedenheit in der Gesellschaft statt. Zu dieser hat etwa die Rentenreform von 2018 beigetragen. Nach besseren Umfragewerten für das Regime im Jahr 2019 sanken diese im Jahr 2020 wegen der Corona-Pandemie und der Einschränkung des öffentlichen Lebens wieder. Vor allem aber sind die Reallöhne gesunken, nach offiziellen Angaben im Jahr 2020 um 3,5 Prozent. Im Vergleich zum Jahr 2013 beträgt der Rückgang gar zehn Prozent. Die Zahl der Menschen, die nach der amtlichen Definition in Armut leben, ist im Jahr 2020 um 400 000 auf 19,6 Millionen oder 13,3 Prozent der Bevölkerung gewachsen.[6]
Hinzu kommt die Unzufriedenheit mit der Verfassungsänderung und dem Verfassungsreferendum vom Juli 2020, das mitten in Pandemiezeiten stattfand und selbst nach russländischen Maßstäben mit himmelschreienden Manipulationen einherging.[7] Bei einer Umfrage des Levada-Zentrums zeigten sich zum Zeitpunkt der Verabschiedung der neuen Verfassung, die Putin weitere Amtszeiten über das Jahr 2024 hinaus ermöglicht, 48 Prozent der Respondenten einverstanden mit der „Reform“, 47 sprachen sich dagegen aus.[8] Das offizielle Ergebnis des Referendums lautete: 78 Prozent Zustimmung.
Ein Großteil der Gegner der Verfassungsänderungen ignorierte die Abstimmung schlicht. Ebenso ignorierte der Kreml diesen Teil der Gesellschaft. Putins Pressesprecher Dmitrij Peskov sprach von einem „triumphalen Sieg des Vertrauens in den Präsidenten“.[9] Der Ärger über diese Behauptung spielt sicher eine Rolle bei der sinkenden Zufriedenheit der Bürger.[10]
Auffällig ist, dass die Kluft zwischen der „Generation Internet“ und der „Generation Fernseher“ weiter wächst. Es ist die Altersgruppe der über 60-Jährigen, die loyal zu dem Regime im Kreml stehen und dies bei Wahlen zum Ausdruck bringen. Der Gegensatz zwischen Jung und Alt hatte sich bereits Ende der 2000er Jahre und besonders deutlich während der Proteste im Winter 2011/2012 gezeigt. Die Annexion der Krim hat jedoch die Fronten eingeebnet, die gesamte Nation stand hinter Putin. Eine sehr große Mehrheit der Menschen in Russland sah in ihr eine Wiederherstellung historischer Gerechtigkeit und war stolz, dass Russland nach eigenem Gutdünken und nicht mehr nach dem Taktstock des Westens handelt. Mit dieser nationalen Einheit ist es vorbei, die Spaltung der Gesellschaft ist heute tiefer als 2011/2012. Nicht mehr nur die Ansichten und Werte der jungen Generation unterscheiden sich von jenen der Älteren, sondern auch die konkrete Beurteilung der politischen Lage. In der Altersgruppe der 18- bis 24-Jährigen ist heute eine Mehrheit der Ansicht, das Land bewege sich in die falsche Richtung.[11]
Ein wichtiger Unterschied zu den Protesten 2011/2012 ist die gewachsene technische Versiertheit der Demonstranten: „Die Zahl der Tools, die eine schnelle Reaktion ermöglichen, Live-Schaltungen, Nachrichtenticker, stundenlange Streams, all das hat sich vervielfältigt. Diese Kanäle informieren nicht nur über die laufenden Ereignisse, sie sind ein Medium neuer sozialer Praktiken: der Teilhabe, des Benachrichtigens, der Unterstützung und der Hilfe.“[12]
Der Faktor Naval’nyj
Aleksej Naval’nyj hat sich von den unmissverständlichen Drohungen des Regimes nicht einschüchtern lassen. Seine Rückkehr nach Russland am 17. Januar 2021, seine sofortige Verhaftung am Flughafen und das nur zwei Tage später veröffentlichte Video „Palast für Putin“ mobilisierten all jene, die die Macht im Kreml skeptisch betrachten. Die Zahl der Betrachter explodierte. Schon nach kurzem war der Film zehn Millionen Mal aufgerufen worden, dann 20 Millionen Mal, dann 30. Unterdessen haben ihn über 112 Millionen Menschen gesehen.[13]
An den Protesten am 23. Januar beteiligten sich nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen 160 000 und 250 000 Menschen in weit über 100 – nach manchen Berichten sogar über 200 – Städten. Anders als 2011/2012 waren im Januar 2021 die Losungen der Demonstranten im ganzen Land die gleichen: „Freiheit für Naval’nyj!“ und, noch häufiger, „Putin ist ein Dieb“.
Das Regime brauchte lange, ehe es sich zu einer Reaktion auf das Video entschloss. Erst einige Tage nach der Veröffentlichung traten im Staatsfernsehen Kommentatoren mit hilflosen Erklärungen auf, was die Welle der Wut und des Sarkasmus in den sozialen Netzwerken nur weiter anschwellen ließ. Selbst unter jenen Internetnutzern, die sich früher von Politik ferngehalten hatten, stieg das Interesse an der politischen Entwicklung.
Bei den Protesten am 31. Januar war die Zahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer etwas geringer als bei den ersten Demos. Nun gingen die Einsatzkräfte noch härter gegen die Demonstranten vor. Sie setzten erstmals Tränengas und Elektroschocker ein. Am 2. Februar, dem Tag des Urteilsspruchs gegen Naval’nyj wegen Verletzung der Bewährungsauflagen, sperrte die Polizei das Gerichtsgebäude weiträumig ab. Insgesamt wurden an drei Protesttagen, dem 23. und dem 31. Januar sowie am 2. Februar 2021 – mehr als 12 000 Menschen festgenommen. Solche Massenfestnahmen hat Russland noch nie erlebt.
Aleksej Naval’nyj ist Russlands wichtigster Oppositionspolitiker. Ungeachtet aller Knüppel, die das Regime ihm zwischen die Beine wirft, hat er es geschafft, in ganz Russland – und mittlerweile auch weltweit – zu Bekanntheit zu gelangen. Er begegnet Putin auf Augenhöhe und hat diesen dazu gebracht, den gesamten Polizeiapparat in Bewegung zu setzen. Für das Regime war nicht mehr länger möglich, Naval’nyj zu ignorieren. Gleichwohl ist Naval’nyj nicht zum unumstrittenen Führer der Nation geworden. Selbst unter jenen, die unzufrieden mit dem Regime sind, sind die Ansichten zu Naval’nyj gespalten. Es ist weniger die Zustimmung zu Naval’nyj als vielmehr die Ablehnung Putins, die diese Gruppe vereint.
Nach den Protesten
Polizeigewalt gegen Demonstranten kann eine Protestbewegung unabhängig vom ursprünglichen Anlass stark anschwellen lassen und zu einem politischen Umbruch führen. So geschehen 2013/2014 in der Ukraine. Dort wurde eine kleine Gruppe junger Leute, die auf die Straße gegangen waren, nachdem Präsident Janukovyč die Unterzeichnung des über viele Jahre ausgehandelten Assoziationsabkommens mit der Europäischen Union abgesagt hatte, von Einsatzkräften brutal auseinandergetrieben. Unmittelbar danach gingen Menschenmassen auf die Straße, die entschlossen waren nicht zuzulassen, dass das Regime „unsere Kinder verprügelt“. Wenige Wochen später floh der Präsident aus dem Land, nachdem er die Unterstützung der Einsatzkräfte verloren hatte. Ähnliches zeichnete sich auch in Belarus im August 2020 zunächst ab. Doch bislang kann sich der dortige Machthaber Lukašenka noch auf die Loyalität des Gewaltapparats verlassen.
Empörung über Polizeigewalt veranlasst auch in Russland Menschen zum Handeln. Doch es bleibt bei der erwähnten Hilfe für die Festgenommenen. Ein echtes Anschwellen der Protestbewegung ist nicht zu beobachten. Die Wut bleibt weitgehend auf die Gruppe der jüngeren Menschen beschränkt, die sich in sozialen Netzwerken und auf Telegram-Kanälen bewegen.[14]
Ungeachtet einiger Unterschiede zu den Protesten früherer Jahre spricht alles dafür, dass es sich nur um eine neue Welle handelte, die kam und wie alle vorherigen nun wieder abflaut. Erneut zeichnet sich ab, dass keine Organisationsstrukturen entstehen, insbesondere keine Parteien. Das Wort „Opposition“, mit dem die Unzufriedenen in Russland oft bezeichnet werden, ist irreführend. Es gibt in Russland keine Opposition, keine politische Kraft, die durch ein gemeinsames Ziel vereint ist. Die Bewegung hat keinen Führer.
In Umfragen äußern sich heute nicht mehr Menschen positiv über Naval’nyj, als dies vor einem Jahr der Fall war. Im Januar 2020 waren es 20 Prozent und im Januar 2021 19 Prozent.[15] Unter den jüngeren Gruppen der Bevölkerung ist die Zahl erheblich höher als unter den älteren. Aber das Vertrauen in Naval’nyj stieg um einen Punkt, von vier Prozent auf fünf.
Siebzehn Prozent der Befragten erklärten in einer Umfrage, ihre Meinung über das Staatsoberhaupt habe sich nach dem Betrachten des Videos über Putins Palast verschlechtert.[16] Doch dies sagen offensichtlich jene, die ohnehin negativ zu Putin eingestellt waren. Die Umfragewerte des Präsidenten sind seit Ende vergangenen Jahres nicht gesunken. Im Januar 2021 lag die Zustimmung bei 64 Prozent. Das Vertrauen in Putin ist von 34 Prozent auf 29 Prozent zurückgegangen.[17]
Verbreitet ist auch eine skeptische Haltung zu den Protesten.[18] Die Sympathie für die Protestbewegung in Chabarovsk, wo die Menschen im Sommer 2020 mehrere Monate gegen die Absetzung und Verhaftung des Gouverneurs Sergej Furgal demonstrierten, war weitaus größer. Letzten Endes möchte eine Mehrheit der Menschen in Russland immer noch den Status quo bewahren. Sie sind nicht zufrieden mit der Lage der Dinge, aber sie fürchten, es könne noch viel schlechter kommen. Daher ist die Unterstützung für jene, die zu einem Wandel aufrufen, so gering. Denis Volkov formuliert es so:
„Wer in Russland substantielle Reformen erreichen will, stößt nicht nur auf den Widerstand der Staatsmacht, sondern auch auf eine nahezu unüberwindbare Trägheit der Bevölkerung.“[19]
Reaktion und Repression
Das Regime ist indes zum Gegenangriff übergegangen. Während es Naval’nyj früher ignorierte und sein Name niemals aus offiziellem Munde zu hören war, hat es nun eine aggressive Diskreditierungskampagne gestartet. Der Propagandaapparat stellt ihn als Staatsfeind dar, als Agent des Westens, der im Auftrag der Geheimdienste handele, um Russland zu zerstören. Schon wird ein weiterer Prozess gegen Naval’nyj angestrengt. Er habe einen Veteranen des Zweiten Weltkriegs beleidigt. Das Schauspiel ist an Absurdität nicht zu überbieten und doch liefert das Staatsfernsehen immer neue Zitate, die den Zuschauern zeigen sollen, dass Naval’nyj das Allerheiligste der Nation in den Schmutz zieht: die Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg. Die Propaganda ist nicht weniger aufgeheizt als zu Beginn des Kriegs im Donbass 2014. Diese Kampagne hat natürlich keine Auswirkungen auf Naval’nyjs Anhänger und andere Gegner Putins. Aber sie festigt die Wählerbasis des Regimes, erinnert die Zweifelnden und Gleichgültigen daran, wer die Macht im Lande hat, und gibt den Eliten den richtigen Ton vor.
Das Regime geht immer härter vor, um Protest und Unzufriedenheit zu unterdrücken. Neue Strafprozesse sind zu erwarten, die mit langjährigen Freiheitsstrafen enden werden. Der Staat wird den Druck auf die Zivilgesellschaft weiter erhöhen. Zum Valentinstag hatte das Team von Aleksej Naval’nyj die Menschen in Russland dazu aufgerufen, ein Zeichen zu setzen, indem sie vor die Haustür treten und ihr Mobiltelefon mit eingeschalteter Taschenlampe in die Höhe halten. Das Regime reagierte mit massiven Drohungen und der Warnung vor erfundenen Gefahren.[20] Internetseiten, die auf die Aktion aufmerksam machten, wurden angewiesen, den Hinweis zu entfernen und nicht darüber zu berichten. Verhaftungen gab es allerdings keine.[21]
Der Unterdrückungsapparat und die Propagandamaschine stehen auf Seiten des Kreml, die Eliten sind loyal und die Regierung verfügt über die finanziellen Ressourcen, um im richtigen Moment den Menschen im Land zu demonstrieren, wie großzügig der Staat ist. Dieses Instrument könnte vor den Wahlen am 19. September 2021 zum Einsatz kommen.[22]
Naval’nyj hat bislang lediglich erreicht, dass der Kreml sich mit ihm beschäftigen musste. Er hat dem Regime die Tagesordnung durcheinandergebracht. Statt dass die Regierung unter Michail Mišustin sich für eine erfolgreiche Pandemiebekämpfung loben und wirtschaftliche Aufbauprogramme ankündigen konnte, musste das Regime sich mit Naval’nyj auseinandersetzen. Die alljährliche Rede Putins vor der Föderalversammlung, die zunächst Anfang des Jahres und dann Mitte Februar hatte stattfinden sollen, ist auf einen unbekannten Zeitpunkt verschoben.[23]
Auch wenn das Regime die Proteste unterbinden konnte, ist doch offensichtlich geworden, dass es nicht mehr so unantastbar ist wie einst. Die Gesellschaft kann nicht mehr in Winterstarre versetzt werden. Proteste unzufriedener Bürger werden immer wieder aufflammen. Der Plan des Kreml ist nicht aufgegangen. Die Verfassungsänderung, die Putin die Möglichkeit eröffnet hat, bis zu seinem Lebensende an der Staatsspitze zu bleiben, hat kein „Ende der Geschichte“ herbeigeführt. Putin ist nicht mehr der Mann, der die Nation eint, der Garant für Stabilität. Was vor kurzem noch unvorstellbar schien, ist heute in den Bereich des Möglichen gerückt: Eines Tages wird Putin nicht mehr Quell aller Legitimität sein, sondern eine Last, die das Establishment loswerden möchte.
Manuskript abgeschlossen am 15.2.2021
Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin
[1] Zu OVD-Info siehe den Beitrag von Grigorij Ochotin in diesem Band, S. 35‑40.
[2] Zu den Betroffenen gehörte auch der Chefredakteur von Mediazona Sergej Smirnov, der sich nicht an den Protesten beteiligt hatte, <https://zona.media/chronicle/smirnov-arrest>.
[3] Effekt Naval’nogo: kak protesty pomogli-„Doždju“, „Mediazone“ i „OVD-Info“ privleč’ milliony požertvovanij i podpisčikov. The Bell, 10.2.2021.
[4] <www.facebook.com/maria.eismont/posts/3901401803232819>.
[5] Das ist jener Prozess, der mit einem Urteil auf Bewährung endete, das der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als rechtswidrig verwarf. Nun wurde die damalige Bewährungsstrafe aus einem rechtswidrigen Prozess zur Grundlage für den Bewährungswiderruf, so dass Naval’nyj für zwei Jahre und acht Monate eine Haftstrafe antreten muss. Zum damaligen Prozess aus dem Jahr 2013: Otto Luchterhandt: Missbrauch des Strafrechts. Das „System Putin“ im Kampf gegen Aleksej Naval’nyj, in: Osteuropa, 1–2/2015, S. 95–124, <www.zeitschrift-osteuropa.de/blog/missbrauch-des-strafrechts>.
[6] <www.rbc.ru/economics/28/01/2021/60129a749a7947cf1ca85d53>.
[7] Zum frühen Umgang mit Corona: Marija Lipman: Coronavirus statt Kaiserkrönung. Putins Verfassung und die Pandemie, in: Osteuropa, 3–4/2020, S. 89–98.
[8] Levada centr: Obnulenie prezidentskich srokov. 27.3.2020, <www.levada.ru/2020/03/27/obnulenie-prezidentskih-srokov/>.
[9] V Kremle nazvali itogi golosovanija po popravkam triumfal’nym referendum о doverii Putinu. TASS, 2.7.2020.
[10] Levada centr: U protesta est’ rezultat, 9.2.2021, <www.levada.ru/2021/02/09/u-protesta-est-rezultat/>.
[11] Levada centr: Prezidentskie rejtingi i položenie del v strane. 4.2.2021, <www.levada.ru/2021/02/04/ prezidentskie-rejtingi-i-polozhenie-del-v-strane/>.
[12] Effekt Naval’nogo [Fn. 3].
[13] Dvorec dlja Putina. Istorija samoj bol’šoj vzjakti. 19.1.2021, <www.youtube.com/watch?v=ipAnwilMncI>.
[14] Bolee 380 rossijskich psichologov podpisali otkrytoe pisʼmo protiv policejskogo nasilija. Mel.fm, 8.2.2021. – Bolee 180 dejatelej nauki i iskusstv podpisali kollektivnoe pisʼmo v zaščity zaderžannych na akcijach v konce janvarja. Newsru.com, 9.2.2021.
[15] Levada-centr: Vozvraščenie Alekseja Naval’nogo, 5.2.2021, <www.levada.ru/2021/02/05/vozvrashhenie-alekseya-navalnogo/>.
[16] U 17 % rossijan, posmotrevšich fil’m Naval’nogo, uchudšilos’ otnošenie k Putinu. BBC news, 8.2.2021.
[17] Levada-centr: Prezidentskie rejtingi i položenie del v strane. 4.2.2021, <www.levada.ru/2021/02/04/prezidentskie-rejtingi-i-polozhenie-del-v-strane/> Die Zustimmung (odobrenie) bezieht sich auf das abgeschlossene politische Handeln, Vertrauen (doverie) drückt die Erwartung aus, wer künftige politische Probleme am besten bewältigt.
[18] Levada-centr: Janvarskie protest. 20.2.2021, <www.levada.ru/2021/02/10/yanvarskie-protesty>.
[19] Levada-centr: Naval’nyj protiv inercii: čto govorjat poslednie dannye oprosov o buduščem protestov. 8.2.2021, <www.levada.ru/2021/02/08/navalnyj-protiv-inertsii-chto-govoryat-poslednie-dannye-oprosov-o-budushhem-protestov/>.
[20] Andrej Sinicyn: Posle pročtenija sžeč’. Problemy idiotizma v dejstvijach rossijkoj vlasti na rubeže 20-ch godov XXIv. Republic, 14.2.2021 <https://republic.ru/posts/99580? utm_source=republic.ru&utm_medium=email&utm_campaign=morning>.
[21] <https://meduza.io/news/2021/02/12/roskomnadzor-potreboval-ot-meduzy-udalit-statyu-o-reaktsii-vlastey-na-aktsiyu-14-fevralya>.
[22] Reuters uznal o plane pomošči Rossijanam na 500 mrd. rub. Rbc.ru, 8.2.2021.
[23] Sud prigovoril ėks-glavu Marij Ėl k 13 godam po delu o vzjatke. Rbc.ru, 24.2.2021.
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