„Megaphondiplomatie ist nicht genug“
Israel, Russland und Erwartungen an Deutschland
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Abstract
Shimon Stein, Israels ehemaliger Botschafter in Deutschland, konstatiert, dass Deutsche und Israelis wechselseitig nur noch geringe Erwartungen hegen. Die illiberalen Tendenzen in Israel seien Teil der Erosion der liberalen Ordnung, die auch im Westen zu beobachten sei. Stein analysiert die Interessensunterschiede zwischen Israel und Russland im Nahen Osten und spricht Moskau den politischen Willen ab, am Aufbau von Nachkriegssyrien mitzuwirken, und die Fähigkeit, im Nahen Osten als Gestaltungsmacht aufzutreten. Von Deutschland und der EU fordert er mehr Engagement. Stein hält die Annahme, dass die Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts das A und O für Sicherheit und Frieden im Nahen Osten sei, für eine Illusion. Aber die Praxis der Besatzung schade der israelischen Seele.
(Osteuropa 9-11/2019, S. 3541)
Volltext
Shimon Stein, Israels ehemaliger Botschafter in Deutschland, konstatiert, dass Deutsche und Israelis wechselseitig nur noch geringe Erwartungen hegen. Die illiberalen Tendenzen in Israel seien Teil der Erosion der liberalen Ordnung, die auch im Westen zu beobachten sei. Stein analysiert die Interessensunterschiede zwischen Israel und Russland im Nahen Osten und spricht Moskau den politischen Willen ab, am Aufbau von Nachkriegssyrien mitzuwirken, und die Fähigkeit, im Nahen Osten als Gestaltungsmacht aufzutreten. Von Deutschland und der EU fordert er mehr Engagement. Stein hält die Annahme, dass die Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts das A und O für Sicherheit und Frieden im Nahen Osten sei, für eine Illusion. Aber die Praxis der Besatzung schade der israelischen Seele.
Osteuropa: Welche Temperatur haben die deutsch-israelischen Beziehungen?
Shimon Stein: Eine ganz normale. In Krisenzeiten steigt sie.
Osteuropa: Aber ohne große Ausschläge?
Stein: Ja, es herrscht Routine. Keine Seite hegt mehr große Erwartungen an die andere.
Osteuropa: Warum?
Stein: Weil wir zu viele Vertrauenskrisen hinter uns haben. In den 1950er Jahren fand die Entscheidung, Reparationszahlungen an Israel zu leisten, in der Bundesrepublik nur geringe Unterstützung. Das verletzte die israelische Seite. In den 1960er Jahren halfen deutsche Ingenieure Israels damaligem Feind Ägypten, Raketen zu entwickeln. Während des Jom-Kippur-Krieges versuchte die Bundesregierung, US-Waffenlieferungen aus Deutschland an Israel zu unterbinden. In den 1980er Jahren gab es Konflikte um die Lieferung von Leopard-Panzern an Saudi-Arabien. In den 1990er Jahren waren deutsche Firmen im Irak am Aufbau der chemischen Industrie beteiligt und damit mittelbar in die Entwicklung chemischer Waffen verstrickt. All das löste in Israel große Enttäuschung aus, weil Politik und Öffentlichkeit realpolitisch einfach mehr von Deutschland erwartet hatten.
Seit der Wende zum 21. Jahrhundert hält das Verhalten der israelischen Regierung deutschen Erwartungen nicht stand. Das gilt vor allem für die Regelung des israelisch-palästinensischen Konflikts. Zwischen Benjamin Netanjahu und Angela Merkel stimmt die Chemie einfach nicht. Nun sind auch Deutschlands Erwartungen an Israel minimal. Was Netanjahu angeht, so hat er sich auf die Suche nach anderen Freunden begeben. Er hat sie gefunden. Das sind die Orbáns dieser Welt.
Osteuropa: Aus Überzeugung oder taktischem Kalkül?
Stein: Sowohl als auch. Sein politisches Denken hat Berührungspunkte mit dem illiberalen Geist der Rechtspopulisten in Europa. Wenn heute weder Frau Merkel noch Herr Maas als Vertreter Deutschlands im Europäischen Rat Partei für Israel ergreifen, so betrachtet Netanjahu das als nicht weiter schlimm. Schließlich, so sein zynisches Kalkül, hat er dann noch einen wie Orbán, der sein Veto einlegen kann.
Osteuropa: Steht die israelische Gesellschaft hinter diesem Kurs?
Stein: Offen gesagt, das interessiert sie kaum. Netanjahu hat gleichzeitig mit Putin und Trump eine gemeinsame Sprache gefunden, und er bekommt von den Kaczyńskis, Zemans und Bolsonaros Unterstützung. Er sagt: „Wir haben etwas gemeinsam, den Hass auf die Moslems und Flüchtlinge. Das eint uns.“ Dass er darüber den alten Westen verloren hat – who cares? Er handelt nach dem Motto: „Ich brauche Unterstützung und die suche ich auch in Ecken, in denen es stinkt.“ Das ist auch ein Aspekt der zu beobachtenden Entfremdung.
Osteuropa: Die Trennlinie verläuft nicht zwischen Israel und Deutschland, sondern zwischen liberalem und illiberalem Denken.
Stein: Das kann man so sehen. Wenn wir Israel zu Recht seit Jahrzehnten als Teil des Westens begreifen, so ist es auch heute Teil der Entwicklung, die wir überall in der westlichen Welt beobachten. Die liberale Ordnung steht unter Druck. Deshalb ist die Entfremdung auch innenpolitisch zu beobachten. Israels liberale Elite schaut mit Sorge auf ihr Land, auf die Erosion der Demokratie oder die Angriffe auf die Justiz. Wer von außen illiberale Tendenzen in Israel kritisiert, muss damit rechnen, dass diese Kritik schnell das Etikett „Antisemitismus“ angehängt bekommt und zurückgewiesen wird, weil viele Israelis einschließlich unseres Ministerpräsidenten nicht in der Lage sind, zwischen berechtigter Kritik und Antisemitismus zu unterscheiden.
Osteuropa: Der Wandel in Israel ist keine Anpassung an nahöstliche Verhältnisse?
Stein: Anpassung? Mit Verlaub, an welches Land sollten wir uns anpassen? An Ägypten, Syrien, den Irak? Das sind autoritäre, antidemokratische Regime. Israel ist eine lebendige Demokratie mit einer vitalen Presse und einer dynamischen Zivilgesellschaft. Es gibt die eine oder andere besorgniserregende Entwicklung, aber Israel steht nicht an der Schwelle zu einem autoritären System. Die Medien praktizieren jeden Tag Pressefreiheit, die Justiz verteidigt ihre Unabhängigkeit und macht ihre Arbeit. Deshalb wird Benjamin Netanjahu nun nach rechtsstaatlichen Prinzipien wegen Korruption angeklagt, unabhängig davon, ob er Ministerpräsident ist oder nicht.
Osteuropa: Sie haben unterschieden zwischen legitimer und illegitimer, weil unqualifizierter Kritik. Was wäre eine solche unqualifizierte Kritik?
Stein: Zum einen geht es darum, an jedes Land dieselbe Messlatte anzulegen. Wenn Franzosen oder Deutsche das Recht auf nationale Selbstbestimmung und auf einen Nationalstaat haben, dann gilt das für Juden auch. Den Juden das Recht abzusprechen, sich als Volk zu verstehen, ist illegitim. Einem jüdischen Staat die Existenzberechtigung abzusprechen, ist illegitim. Die israelische Besatzungspolitik zu kritisieren, ist dagegen legitim, so wie es legitim ist zu fragen, ob Israel Palästinenser als Bürger zweiter Klasse betrachtet. Aber wer den Staat Israel dämonisiert und mit Nazi-Deutschland gleichsetzt, überschreitet die Grenze legitimer Kritik.
Osteuropa: Herr Stein, lassen Sie uns auf Russland schauen. Vordergründig gibt es Ähnlichkeiten zwischen den Beziehungen Deutschlands zu Israel und Russland. Jeweils hat die Geschichte eine enorme Bedeutung, der Zweite Weltkrieg, die Vernichtungserfahrung, die Shoah. Die Trias Erinnerung, Verantwortung und Verpflichtung bestimmten jahrzehntelang die Beziehungen, heute dominiert Entfremdung.
Stein: Ich sehe kein Dreieck Deutschland-Israel-Russland. Manche Beobachter neigen dazu, derartige geometrische Figuren in die Welt zu setzen, die keine reale Grundlage haben. So war es bereits mit dem deutsch-israelisch-amerikanischen Dreieck.
Osteuropa: Aber was bestimmt Deutschlands Verhältnis mit Russland?
Stein: Die Geographie bestimmt die Beziehungen. Weder Deutschland noch Europa können Russland ignorieren. Das galt während des Ost-West-Konflikts ebenso wie heute. Wegen der Geschichte geht Deutschland mit Russland sehr vorsichtig um. Aber Russlands Annexion der Krim und das Vorgehen in der Ostukraine sind inakzeptabel. Da hat Deutschland den richtigen Kurs eingeschlagen. Allerdings gibt es auch eine romantische Russland-Schule in Deutschland. Zu viele Russlandversteher in Deutschland verstehen Russland tatsächlich gar nicht.
Osteuropa: Inwiefern?
Stein: Egon Bahr hatte ernsthaft versucht, sich in das Denken der sowjetischen Führung hineinzuversetzen, um sie zu verstehen. Aber Verstehen heißt nicht Verständnis haben. Und es gibt Grenzen des Verständnisses. Eine Sache ist offensichtlich: In Russlands Außenpolitik gibt es seit dem 19. Jahrhundert eine Kontinuität der imperialen Politik. Bis heute haben Russlands politische Eliten den Verlust des Imperiums weder verstanden noch aufgearbeitet. Daraus speisen sich ihr Vorgehen in der Ukraine, die Annexion der Krim und die Wahrnehmung der Welt.
Osteuropa: Gibt es auch in Israel eine solche romantische Schule?
Stein: Partiell ja, aber das Bild in Israel ist bunter. Wir haben über eine Million russischsprachiger Menschen in Israel. Ein Teil verfolgt sehr kritisch und distanziert Russland, ein anderer romantisiert das Land und ist begeistert von Putin. Und ein dritter Teil der russischsprachigen Einwanderer hat sich Relikte des imperialen Bewusstseins bewahrt. Sie blicken auf uns natives von oben herab und signalisieren: „Wir sind euch kulturell überlegen.“
Osteuropa: Schlägt sich das institutionell nieder?
Stein: Diese Einwanderer haben ihre eigenen Sonntagsschulen, auf die sie ihre Kinder schicken, um die russische Kultur aufrechtzuerhalten. Nicht zufällig betrachtet Putin die Diaspora als ein sehr wichtiges Element seiner Außenpolitik. Die russischen Immigranten in Israel sind eine Brücke nach Russland.
Osteuropa: Wer sind die politischen Träger dieses romantischen Russlandbildes? Ist das Avigdor Lieberman? Oder können sich auch Mitglieder des Likud für Putins autoritäre Ordnung erwärmen?
Stein: Das kann ich Ihnen nicht sagen. Die Parteien kämpfen um die Unterstützung der russischsprachigen Israelis. Für den Likud ist die russischsprachige Minderheit von großer Bedeutung, weil der Teil mit dem imperialen Denken die Positionen für Groß-Israel unterstützt … Aber in der großen russischen Diaspora gibt es auch sehr liberale Menschen. Die russischsprachige Diaspora in Israel ist höchst heterogen. Das galt schon für die erste Generation, aber noch viel stärker für die zweite.
Osteuropa: Wie beurteilen Sie Russlands Rolle im Syrienkrieg?
Stein: Russland ist durch die Unterstützung des Assad-Regimes in den Nahen Osten zurückgekehrt. Über den syrischen Hafen in Tartus hat Russland Zugang zum Mittelmeer. Russland profitiert davon, dass sich die Amerikaner in der Region kaum mehr engagieren. Aber das bedeutet nicht, dass Russland dadurch viel gewinnt. Russland ist keine Gestaltungsmacht, dazu fehlt das wirtschaftliche und politische Potenzial. Putin wird versuchen, zwischen Saudi-Arabien und dem Iran zu vermitteln. Die syrische Bevölkerung ist ihm egal. Aus Russland wird kein Rubel kommen, um Syrien wieder aufzubauen. Vielmehr erwartet Russland, dass der Westen beim Wiederaufbau helfen wird, um Flüchtlinge zurückschicken zu können. Ob diese Rechnung aufgeht, bezweifle ich. Schon einmal hatte sich Putin geirrt. Er hatte gehofft, mit Syrien eine Karte in der Hand zu haben, um die Amerikaner und Europäer zur Lockerung der Sanktionen zu bewegen. Dieses Kalkül ist zumindest bis jetzt nicht aufgegangen.
Osteuropa: Ist Russland ein potenzieller Partner für Israel?
Stein: Für eine strategische Partnerschaft von Israel und Russland gibt es keine Basis. Momentan müssen Israel und Russland im Kontakt stehen, um ihre militärischen Operationen in Syrien zu koordinieren. Erinnern wir uns an den Abschuss des russischen Aufklärers durch die syrische Luftabwehr im September 2018. Syriens und Russlands Armeeführungen haben versucht, Israel die Schuld daran zu geben. Es ist kein Zufall, dass Netanjahu seitdem immer wieder nach Moskau reist und sich mit Putin abstimmt.
Osteuropa: Wo liegen die Probleme zwischen Israel und Russland?
Stein: Ein zentrales Problem ist der Iran. Israel und Russland haben unterschiedliche Vorstellungen über die militärische Präsenz des Iran in Syrien. Es waren ja nicht russische Truppen, sondern iranische Milizen, welche die Kämpfe in Syrien geführt haben. Iran hat hier Russlands Interessen bedient. Für Israel sind iranische Kampfverbände an der eigenen Grenze eine inakzeptable Bedrohung. Iran versucht, seine strategischen Fähigkeiten in Syrien auszubauen. Gleichzeitig unterstützt er die schiitische Hisbollah mit Geld und Waffen, rüstet sie mit zielgenaueren ballistischen Raketen auf.
Osteuropa: Wie steht Russland zu all dem?
Stein: Auf die Hisbollah hat Russland keinen Einfluss, Russland stört der Korridor in Syrien nicht, über den iranische Konvois Rüstung und Nachschub in den Libanon bringen. Russland unternimmt auch nichts gegen Teherans Aktivitäten, in Syrien dauerhaft seine militärisch-strategische Präsenz auszubauen … In der Frage der iranischen Atomforschung steht Russland hinter dem internationalen Nukleardeal mit dem Iran und damit an der Seite von Deutschland, Frankreich, Großbritannien und China. Israel und die USA unter Trump stehen auf der anderen. Für Israel ist die Lage in Syrien dringender, denn hier ist die Gefahr einer bewaffneten Auseinandersetzung zwischen Israel und dem Iran real. Russland könnte zur Deeskalation beitragen, indem es hilft, die Fronten auseinanderzuziehen.
Osteuropa: Haben Sie den Eindruck, dass Politik und Öffentlichkeit in Deutschland die Konfliktlage verstehen?
Stein: Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer hat mit ihrer Initiative, in Nordsyrien eine Schutzzone zu errichten, viel Häme geerntet. Das ist ungerecht. Selbst wenn die Idee unausgereift war, geht es im Kern darum, ob es sich Deutschland oder die EU weiterhin leisten können, nur als Bedenkenträger aufzutreten. Nichts mit den Konflikten in Syrien oder dem Nahen Osten zu tun haben zu wollen, ist eine wohlfeile Position: Deutschland muss mehr leisten als Megaphondiplomatie. Dass der Nahe Osten und Europa untrennbar verbunden sind, ist banal. Das Motto lautet: „Wenn wir den Nahen Osten nicht besuchen, besucht der Nahe Osten uns.“
Osteuropa: Das ist eine Lehre des Arabischen Frühlings und seiner Folgen …
Stein: Ja, aber von einer Bereitschaft, sich im Nahen Osten stärker zu engagieren, sind die deutsche Öffentlichkeit und Politik weit entfernt. Und das in einer Zeit, in der sich die Amerikaner aus dem Nahen Osten rausziehen, und damit Russland, dem Iran und der Türkei Tor und Tür öffnen. Die sind bereit, ihre Interessen in der Region auch mit Gewalt zu verfolgen. Erdoǧan ist das Paradebeispiel.
Osteuropa: Erwarten Israels außenpolitische Kreise mehr Engagement von Deutschland und der EU?
Stein: Ich glaube schon.
Osteuropa: Woher soll diese Bereitschaft kommen, bei dem historischen Gepäck, das Deutschland trägt?
Stein: Frankreich und Großbritannien sind durchaus bereit, sich für ihre Interessen auch militärisch zu engagieren. Das hat natürlich mit deren kolonialer Geschichte zu tun. Unter den meisten postheroischen Europäern ist die Bereitschaft gesunken, für die eigene Sicherheit Opfer zu bringen. Die Bundesrepublik hat lange unter dem Nuklearschirm der Amerikaner gelebt und musste sich nicht selbst um ihre Sicherheit kümmern. Das ändert sich gerade. Ob sich das allerdings in einem Bewusstseinswandel in Deutschland niederschlägt, bleibt abzuwarten.
Osteuropa: Vor 30 Jahren herrschte in Israel die Überzeugung, dass Sicherheit weniger durch Militär als durch politische Lösungen zu erreichen ist.
Stein: Das eine geht nicht ohne das andere. Sicherheit ist mehr als die Abwesenheit von Krieg. Aber Frieden ist durch Militär alleine nicht zu schaffen.
Osteuropa: Hat die israelische Regierung eine politische Lösung für den Konflikt mit den Palästinensern noch im Blick, die auch eine Verständigung mit den Europäern erleichtern würde?
Stein: Verständigung mit den Europäern ist wichtig, aber nicht ausschlaggebend. Wenn ich den Konflikt lösen will, mache ich das nicht für die Europäer oder die Palästinenser, sondern für mich, für uns, für meine Kinder und ihre Zukunft. Bedauerlicherweise ist die Lösung der palästinensischen Frage in Israel momentan kein Thema. In den letzten beiden Wahlkämpfen spielte die Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts keine Rolle mehr.
Osteuropa: Warum?
Stein: Weil sich in der israelischen Gesellschaft ein breiter Konsens herausgebildet hat, dass der Konflikt momentan nicht zu lösen ist. Man sieht auf der anderen Seite keinen Partner. Deshalb versucht man schleichend, die besetzten Gebiete zu annektieren, um die Zweistaatenlösung unmöglich zu machen.
Osteuropa: Das unterscheidet Israel und Deutschland grundlegend. In Israel spielt der Konflikt keine Rolle mehr, in Deutschland steht er im Mittelpunkt.
Stein: Ja. Jahrzehntelang vertraten die Deutschen und die meisten Europäer die Meinung, dass die Beilegung des israelisch-palästinensischen Konfliktes die conditio sine quo non für Frieden und Entwicklung im Nahen Osten sei. Seit dem Arabischen Frühling ist offensichtlich, dass der israelisch-palästinensische Konflikt nur ein Konflikt unter mehreren Konflikten ist. Die Lösung des israelisch-palästinensischen Konfliktes alleine wird den Nahen Osten nicht beruhigen. Aber mich interessieren meine eigenen Leute. Und ich sehe, dass die Praxis der Besatzung der israelischen Seele nicht gut tut. Das gilt für meine Generation, die meiner Kinder und Enkelkinder.
Osteuropa: Mit dieser Überzeugung dürften Sie ziemlich allein sein in Israel …
Stein: Ja, so denkt eine Minderheit.
Osteuropa: Herr Stein, an deutschen Universitäten gibt es eine breite Forschung zur Geschichte der Juden in Deutschland und Osteuropa sowie zur Erforschung des Holocausts. Aber universitäre Expertise zu Israel fehlt.
Stein: Das ist eine offene Wunde. Als Botschafter hatte ich bereits versucht, zu diesem Zweck auf die Politik Einfluss zu nehmen. Da war ich nicht erfolgreich.
Osteuropa: Was bedeutet es für die deutsch-israelischen Beziehungen, dass die letzten Zeitzeugen der Shoah bald gestorben sein werden?
Stein: Wir treten aus der Periode der Erinnerung in die Periode der Geschichte ein. Das ist eine enorme Herausforderung: Wie gestaltet man Erinnerungskultur ohne Zeitzeugen?
Osteuropa: Und was bedeutet es für die operative Politik?
Stein: Die politischen Eliten der Bundesrepublik waren sich bislang des Zusammenhangs zwischen Erinnerung, Verantwortung und Verpflichtung sehr bewusst und agierten entsprechend. Ob das so bleiben wird, ist offen.
Osteuropa: Spielen Sie auf Frau Merkels Aussage an, dass Israels Sicherheit Teil der deutschen Staatsräson sei?
Stein: Man müsste die Kanzlerin fragen, was Sie damit meinte, als sie 2007 vor den Vereinten Nationen zum ersten Mal die deutsche Staatsräson mit Israels Sicherheit in Verbindung brachte, und es dann 2008 vor der israelischen Knesset wiederholte. Aber die bloße Tatsache, dass sie diesen Begriff wählte, war ein höchst wichtiges Symbol.
Das Gespräch führten Manfred Sapper und Volker Weichsel.
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