Titelbild Osteuropa 5/2019

Aus Osteuropa 5/2019

Recycling der Gegenkultur
Die neue Ästhetik der „Zweiten Welt“

Maria Engström

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Abstract in English

Abstract

Im russischen Film, in der Musik und der Mode von heute ist ein Recycling der Protagonisten, der Ästhetik und der Ideen des spätsowjetischen Undergrounds und der postsowjetischen 1990er Jahre zu beobachten. Damalige Utopien einer russischen ideologischen und ästhetischen Alternative zum Westen werden zunehmend zum Mainstream. Die Künstler nehmen die Welt metamodern wahr. Sie schwanken zwischen Hoffnung und Melancholie, Empathie und Apathie, zwischen der modernen Suche nach Sinn und dem post-modernen Zweifel am Sinn des Ganzen. Ihre kulturelle Praxis ist die harmlose, kommerziell attraktive Imitation einer Revolution. Die Kultur der Metamoderne passt zur aktuellen politischen Leitidee in Russland: „Globalisierung ohne Verwestlichung“, Einbindung in den Weltmarkt bei gleichzeitiger Abwendung von den Normen der „Ersten Welt“.

(Osteuropa 5/2019, S. 55–72)

Volltext

Im russischen Film, in der Musik und der Mode von heute ist ein Recycling der Protagonisten, der Ästhetik und der Ideen des spätsowjetischen Undergrounds und der postsowjetischen 1990er Jahre zu beobachten. Damalige Utopien einer russischen ideologischen und ästhetischen Alternative zum Westen werden zunehmend zum Mainstream. Die Künstler nehmen die Welt metamodern wahr. Sie schwanken zwischen Hoffnung und Melancholie, Empathie und Apathie, zwischen der modernen Suche nach Sinn und dem postmodernen Zweifel am Sinn des Ganzen. Ihre kulturelle Praxis ist die harmlose, kommerziell attraktive Imitation einer Revolution. Die Kultur der Metamoderne passt zur aktuellen politischen Leitidee in Russland: „Globalisierung ohne Verwestlichung“, Einbindung in den Weltmarkt bei gleichzeitiger Abwendung von den Normen der „Ersten Welt“.

In Russland findet seit einigen Jahren ein Recycling der Ideen und der Ästhetik des spätsowjetischen Undergrounds statt. Dies ist der gesamten Populärkultur zu beobachten: im Film, in der Musik und in der Mode. Diese Bereiche sind politisch so aufgeladen, wie es zuletzt in den 1980er Jahren der Fall war. Stil und Zeitgeist der Perestrojka-Jahre waren stark von der Protestästhetik des Leningrader Undergrounds geprägt, besonders durch die Band Kino und ihren Frontmann Viktor Coj (1962–1990), die mit dem Film Assa (1988) von Sergej Solov’ev in die Massenkultur eingegangen sind. Später wurde die Musik von Egor Letov (1964–2008) mit der Band Graždanskaja Oborona und von Vjačeslav Butusov mit der Band Nautilus Pompilius zu einem politischen Symbol für die Enttäuschung über das Ergebnis der Marktreformen der 1990er Jahre und für die Hinwendung zum Patriotismus in den 2000er Jahren. Der wichtigste Held der Generation der Übergangszeit ist jedoch Sergej Bodrov (1971–2002). Er verkörperte in Aleksej Balabanovs Filmen Brat (Der Bruder, 1997) und Brat 2 (Der Bruder 2, 2000) den romantischen Killer Danila Bagrov und wurde zur Symbolfigur der 1990er Jahre.[1]

Der Konflikt mit dem Westen nach der Annexion der Krim ließ in Russland die Atmosphäre der frühen Transformationszeit vom Ende der 1980er bis zur Mitte der 1990er Jahre wiederaufleben, als in der inoffiziellen Kulturszene das positive Bild des Westens zerfiel. Sowjetische Bands waren in Europa und Amerika auf Tournee gegangen, Künstler hatten an Ausstellungen und Designer an Modeschauen teilgenommen, sie waren mit der westlichen Kulturindustrie in Kontakt gekommen. In dieser Phase entstanden die ersten und radikalsten antiwestlichen kulturellen und politischen Projekte: der Neo-Eurasianismus von Aleksandr Dugin (1989), der Nationalbolschewismus von Ėduard Limonov, Aleksandr Dugin und Egor Letov (1993) sowie die „Neue Akademie der schönen Künste“ (1989) von Timur Novikov. Diese konservativ-avantgardistischen Konzepte, die in den 2000er Jahren vom Glamour der Popkultur verdrängt wurden, sind heute mehr denn je gefragt. Die vor fast drei Jahrzehnten in den gegenkulturellen Communities ausgearbeitete Utopie einer russischen ideologischen und ästhetischen Alternative zur „Ersten Welt“ ist dabei, in weniger radikaler Form zum Mainstream zu werden. Dies führt zu einer retrospektiven Kanonisierung der kulturellen Leitfiguren der damaligen Zeit.

Das kulturelle Recycling geht einher mit einer Musealisierung des spätsowjetischen Alltags und einem großen Interesse an den damaligen Subkulturen, vor allem an ihrer Lebenswelt und ihrem Lebensstil. Sie gelten als Vorbild für einen gewaltfreien Ausdruck politischen Protests. Zugleich ist zu beobachten, dass zahlreiche politische Gruppen um die richtige Interpretation des Erbes der Helden der Perestrojka und der Transformationszeit, also um deren symbolisches Kapital ringen. In diesem Kampf geht es nicht allein um Ideologie, sondern ebenso sehr um Ästhetik.

Die 15 Jahre der Perestrojka und der Transformationsphase werden heute trotz aller Unterschiede zusammenhängend betrachtet – als ein Zwischenspiel, als kurzer revolutionärer Augenblick zwischen den beiden langen Perioden der Brežnevschen „Stagnation“ und der Putinschen „Gegenreform“. Es liegt nahe, das starke Interesse an der Übergangsperiode, dieser „Zeit der Veränderungen“, darauf zurückzuführen, dass sich das gegenwärtige politische Modell erschöpft hat.

Das ideologische und symbolische Vakuum, in dem der Mangel an Zukunftsperspektiven immer deutlicher spürbar wird, geht einher mit der Angst vor einem neuen großen Projekt. Die Wiederbelebung, Nachahmung und Remythologisierung der Kultur der „Zeit der Veränderungen“ erscheint verlockend und ungefährlich angesichts der Unentschlossenheit und der befürchteten Wiederkehr einer leibhaftigen großen Utopie. Es ist der Rückgriff auf eine Zeit, in der ein vager Utopismus ohne konkretes Ziel herrschte („Wir wollen Veränderung!“) oder politisch-ästhetische Projekte wie der Nationalbolschewismus, der Neo-Eurasianismus und der Neoakademismus verfolgt wurden, die aufgrund ihrer Radikalität kaum eine Chance auf Verwirklichung hatten. Das derzeitige Recycling der Gegenkultur der 1980er und 1990er Jahre als „Kleiner Utopie“ befriedigt das Bedürfnis nach Drive, Bewegung, Veränderung, politischer und ästhetischer Klarheit und garantiert gleichzeitig Sicherheit.

Dieses taktieren, schwanken, der Wunsch, voranzugehen, ohne den entscheidenden Schritt zu tun, lässt sich als „metamodern“ bezeichnen. Diesen Begriff prägten im Jahr 2010 die niederländischen Philosophen Timotheus Vermeulen und Robin van den Akker.[2] Sie weisen auf die Entstehung einer neuen kulturellen Leitidee – oder genauer, auf eine neue Sensibilität – hin:

Die metamoderne Wahrnehmungsstruktur führt zu einem Hin- und Herschwingen zwischen der modernen Sinnsuche und dem postmodernen Zweifel am Sinn des Ganzen, moderner Aufrichtigkeit und postmoderner Ironie, Hoffnung und Melancholie, Empathie und Apathie, Einheit und Vielfalt, Reinheit und Korruption, Naivität und Weltklugheit, Kontrollhoheit des Autors und Allgemeinzugänglichkeit, Meisterschaft und Konzeptualismus, Pragmatismus und Utopismus. Die Metamoderne ist also ein Hin- und Herschwingen. Ihre Ausdrucksform ist die Dynamik.[3]

Beim Recycling der Ästhetik der 1980er und 1990er Jahre in der modernen russischen Popkultur wird in erster Linie oberflächlich „Veränderung gespielt“; es ist die harmlose und kommerziell attraktive Imitation einer Revolution. Zugleich errichtet hier eine neue Generation ihr metamodernes und postironisches Pantheon. Zu den wichtigsten Gestaltern des kulturellen Pantheons eines neuen Russland, das sich auf die „Zeit der Veränderungen“ als Gründungsmythos beruft, gehört Jurij Dud’, ein Journalist und äußerst beliebter Blogger und Youtuber. Dessen Texte beschreibt der Kritiker Jurij Saprykin so:

Aus seinen Posts […] entsteht das Bild eines ungewöhnlichen Russlands – nicht das erniedrigte Russland, das sich von den Knien erhebt, nicht das Fernseh- und das Facebook-Russland, ein sehr bekanntes und dennoch ganz anderes Russland. Dieses Russland hat historische Wurzeln, und Dud’ baut – bewusst oder nicht – Monat für Monat an seinem Pantheon. Als Nullpunkt, als Zeit der ersten Schöpfung, nimmt er die 1990er Jahre. Für ihn sind sie nicht das „wilde Jahrzehnt“, die „Zeit der Banditen“, deren Rückkehr unbedingt vermieden werden muss. Er sieht sie als eine Zeit markanter Persönlichkeiten und starker Taten, als Zeitalter der Götter und Titanen, das zugleich schrecklich und faszinierend ist und zu dem es schon deshalb keine Rückkehr gibt, weil wir, seine Erben, uns als unwürdig erwiesen haben. Bodrov, Balabanov, Ševčuk, der erste Tschetschenienkrieg, das russische MTV – nicht gerade das, was einem zum Stichwort ‚nationales Gemeingut‘ oder ‚kulturelles Erbe‘einfällt. Für die Generation von Dud’s Zuschauern besteht dieses jedoch aus genau diesen Erscheinungen und Figuren, und daran ändert auch das standadisierte Schulbuch für den Geschichtsunterricht nichts.[4]

Das Erbe des sowjetischen Undergrounds und der alternativen Ideologieentwürfe wird jedoch auch für eine „ehrenvolle“ Sache in realen politischen und militärischen Konflikten genutzt. Im Donbass etwa spielten im Jahr 2014 für einige Monate „unterjochte Passionarier“[5] aus gegenkulturellen Communities eine wichtige Rolle – Philosophen, Dichter, Science-Fiction-Autoren und Reenacment-Aktivisten. Hier handelt es sich nicht mehr um eine harmlose Metamoderne, sondern um aktiven Neo-Utopismus – einen Versuch, mit Gewalt zu früheren sozialen und kulturellen Modellen zurückzukehren.[6] Die metamoderne Beschäftigung mit der Vergangenheit ist kennzeichnend für den liberalen, die neoutopistische für den antiliberalen Teil der Gesellschaft.

Unterschieden werden muss zudem zwischen einem Kulturrecycling, das für die Klientel in Russland bestimmt ist, und einem, das auf den globalen Markt zielt und sich in die globale fauxtalgia einfügt. Kein Trend ist gegenwärtig in der Generation der Millennials und Post-Millennials weltweit so verbreitet wie die Imitation der Ästhetik aus Epochen, die vor der vierten technologisch-industriellen Revolution liegen, insbesondere der 1980er Jahre. Ein wesentliches Element der fauxtalgia ist die Suche nach Naivität und Aufrichtigkeit – Metamoderne und fauxtalgia kommen nicht zufällig gemeinsam in den 2010er Jahren auf. Diese Suche findet ihren Ausdruck im Kult der „naiven“ Technologie und des „kindlichen“ Kinos. Beispiele sind der weltweite Erfolg der Serie „Amazing Stories“ (Unglaubliche Geschichten), ein Remix aus Kinder- und Jugendfilmen von Steven Spielberg, die Remakes von Serien der 1990er Jahre, die Rückkehr zur vordigitalen Technologie – das vordigitale Arkadien – in Gestalt von Audiokassetten, Polaroid- und Analogfotografie, frühe Computerspiele sowie die Popularität von Neo-New Wave und Neo-Postpunk in Musik und Mode. Es handelt sich um eine Sehnsucht nach einer relativ jungen Vergangenheit – bei einer Generation, die nicht nur im Zeitalter der totalen Digitalisierung des Alltags geboren wurde, sondern auch nach dem „Ende der Geschichte“, also nach dem Ende des Kalten Krieges. Die fauxtalgia hat deshalb auch eine politische Dimension. Sie recycelt kulturelle Formen aus der Epoche der Konfrontation zwischen „erster“ und „zweiter“ Welt und zeugt von der nostalgischen Sehnsucht nach einer Weltordnung mit klaren Polen.

Russisches Recycling : Viktor Coj und Sergej Bodrov

Der Kult um Viktor Coj, den Bandleader von Kino, begann unmittelbar nach seinem Tod im Jahr 1990. In der gesamten Sowjetunion war auf Mauern und Wänden das Graffiti „Coj živ“ („Coj lebt“) zu sehen. Die Coj-Verehrung hielt auch in den 1990er und 2000er Jahren an. In den letzten Jahren hat Cojs Kanonisierung jedoch eine neue Qualität gewonnen. Verschiedene politische Kräfte vereinnahmen seine Musik und seine Person für sich. Während der Perestrojka hatte Coj dem sowjetischen Mythos des Kollektivs den Mythos des „letzten Helden“ gegenübergestellt. Er wurde so zum Symbol des individuellen Widerstands und der Freiheit. Heute nutzen ideologisch entgegengesetze Lager die Songs von Kino: das liberale, das eine Perestrojka 2.0 verlangt, und das patriotische, das zum Widerstand gegen die „Mächte des Bösen“, also den Westen, aufruft. Als Held des patriotischen Widerstands symbolisiert Coj die „Russische Welt“.[7] Im Mittelpunkt stehen Cojs späte, heroische Titel wie Gruppa krovi (Blutgruppe, 1987), Stuk (Das Klopfen, 1989) und Kukuška (Der Kuckuck, 1990), die schon in den 1990er Jahren als Kriegslieder populär wurden: Auf YouTube finden sich zahlreiche, millionenfach aufgerufene Videos, in denen Cojs Bild mit Aufnahmen von Kriegshandlungen in Afghanistan, Tschetschenien und im Donbass zusammengeschnitten ist. Hier sieht man unter anderem den für Kriegsverbrechen an gefangenen ukrainischen Soldaten bekannten Kommandeur des Bataillons Somali „Givi“ (Michail Tol’stych, 1980–2017) zu den Klängen von Cojs Gruppa krovi tanzen.[8] Das Recycling der Kultur der 1980er Jahre im russischen patriotischen Milieu brachte den Leiter des Instituts für das nationale Gedenken der Ukraine Vladimir Vjatrovič im Jahr 2018 sogar dazu, die Lieder von Coj – sowie von Vladimir Vysockij, Alla und Pugačeva – den Film Ironija sudby (Ironie des Schicksals, SU 1975), gar die Bücher von Michail Bulgakov als „raffinierte Tentakel der russischen Welt“ zu bezeichnen, derer sich der Kreml bediene, um Russlands imperiale Hegemonie zu bewahren.[9]

Besonders interessant sind die Formen des Recyclings von Cojs Lied Kukuška (1990). Im Jahr 2015 produzierte Konstantin Meladze eine Cover-Version dieses Titels mit Polina Gagarina als Interpretin. In dieser Fassung wird der Titel im Soundtrack des Films Die Schlacht um Sewastopol (2015) verwendet, dessen Heldin eine sowjetische Scharfschützin ist.[10] Umgedeutet als „Lied über den Krieg“, wurde Cojs Song so zur patriotischen Hymne Russlands in der Post-Krim-Ära, der allein auf YouTube mehr als 115 Millionen Mal aufgerufen wurde. Ebenfalls im Jahr 2015 sang die zwölfjährige Daša Volosevič das Lied, auch sie in der Cover-Version. Im dazugehörigen Videoclip werden Teenager zu Soldaten des neuen Krieges. Auch dieser Clip fand auf YouTube großen Anklang und wurde bis April 2019 mehr als elf Millionen Mal aufgerufen.[11] Beim Schaulaufen der Eiskunstlauf-Europameisterschaften im Januar 2018 tanzte Evgenija Medvedeva in Lederhose und Sweatshirt mit Einhornmotiv zu Kukuška und zeigte der feindlichen Welt eine zarte Mädchenhand, die „zur Faust geworden“ ist. Cojs Kukuška in der Meladze-Gagarina-Fassung ist so heute stark mit dem Bild der Mädchenkriegerin verbunden. Das passt nicht nur zur zunehmenden Militarisierung der russischen Kultur, sondern harmoniert auch bestens mit der Beliebtheit der jungen Kriegerin in der westlichen Massenkultur, besonders in Filmen und Serien wie Hunger Games, Superwoman, Games of Thrones, Divergent, Atomic Blond, Captain Marvel oder Alita: Battle Angel.[12]

Die neue Phase der Kanonisierung Viktor Cojs und des gesamten spätsowjetischen Undergrounds ist von einem Kampf um die Deutungshoheit begleitet. Nicht nur die Verfechter der „Russischen Welt“, auch die liberalen Stadtbewohner melden Bedarf an Authentizität und Heldentum an. Im Bestreben, eine „zweite Perestrojka“ herbeizuführen, greifen sie auf die symbolischen Figuren der ersten Perestrojka zurück: Bei den Protesten auf dem Bolotnaja-Platz im Jahr 2011 erklang Viktor Cojs Lied My ždem peremen (Wir warten auf Veränderung).

Im Jahr 2017 produzierte Yandex zu Cojs 55. Geburtstag einen neuen Videoclip für den Song Zvezda po imeni Solnce (Ein Stern namens Sonne). Es beginnt mit einer Einstellung, die den Hashtag #naševsë („Unser ein und alles“) zeigt.[13] Die scheinbar in einer einzigen Einstellung – die Schnitte werden kaschiert – gedrehte Video-Hommage spielt in der „Kulturhauptstadt“ Sankt Petersburg in vier unterschiedlichen Epochen: vom Leningrad der 1980er Jahre bis zum Sankt Petersburg der Gegenwart. Zu sehen sind bekannte Gesichter wie der Schauspieler Vladimir Maškov sowie ganz normale Stadtbewohner und Touristen. Es gibt zahlreiche visuelle Zitate und Anspielungen auf die Popkultur der Perestrojka, die „wilden“ 1990er Jahre, die glamourösen Jahre nach der Jahrtausendwende sowie die von der Hipster- und Rapperkultur geprägten Jahre seit 2010. Was all diese Epochen miteinander verbindet, Kontinuität schafft und die Nation zusammenbringt – so die Botschaft des Videos – sind die Musik von Kino und die Figur Viktor Cojs – „unser ein und alles“.

Im Juni 2017, gleichfalls zur Feier von Cojs 55. Geburtstag, präsentierten die Internetzeitung Meduza und das Label Kometa Music von Michail Idov das Tributalbum My vyšli iz Kino mit 25 Cover-Versionen von Musikern einer neuen Generation – darunter Anton Sevidov von Tesla Boy, Antocha MC und Noize MC. In den Coversongs steht oft die philosophische Ebene von Cojs Lyrik im Vordergrund. Auch werden seine Titel an die aktuelle Jugendkultur und die visuelle Sprache der sogenannten „New East-Ästhetik“ angepasst. Allenfalls einige Videos des Tributalbums lassen sich als Protest gegen die aktuelle politische Situation in Russland deuten. Der Coj des liberalen Diskurses ist – ganz im Gegensatz zum militarisierten, heroischen Coj des populistisch-patriotischen Diskurses – unpolitisch und matt. Das beste Beispiel dafür ist Kirill Serebrennikovs Film Leto (Sommer), der die Geschichte des Sommers 1982 mit der Dreiecksbeziehung zwischen Viktor Coj, Mike Naumenko, dem Frontmann der Band Zoopark, und Mikes Frau Natal’ja erzählt. Serebrennikov will die unbekümmerte Atmosphäre der späten Stagnationsjahre als Periode einer „gesegneten Zeitlosigkeit“, als Zeit der Hoffnung und Liebe, rekonstruieren. Der Film weist in Stil und Atmosphäre große Ähnlichkeit mit My vyšli iz Kino auf. Das überrascht nicht: Michail Idov, der Produzent der Coj-Hommage von Meduza, ist auch Drehbuchautor von Leto.[14]

Leto enttäuschte alle, die gehofft hatten, Serebrennikovs neuer Film werde davon handeln, wie man unter einem strengen, kontrollbesessenen Regime Protestkunst schafft. Der Heroismus der Perestrojka und die revolutionäre Haltung von Kino, die während der Proteste vom Winter 2011 bis 2012 gefragt waren, spielen in Leto keine Rolle. Stattdessen geht es um den Rückzug in die innere Emigration. Freiheit sei, so die Aussage des Films, unter jedem politischen Regime möglich. Idov hat dazu gesagt: „Es ist ein Film über junge Leute, die versuchen, unabhängig von äußeren Umständen ein eigenes, freies Leben zu führen.“ Er vergleicht die heutige Situation in Russland mit der Stagnationszeit wie mit den konservativen politischen Regimen im Westen. Damit stellt er gegenkulturellen Protest als universelles Phänomen dar:

Der Film hätte gut auch in den USA Mitte der 1960er Jahre oder in Thatchers England spielen können. Und mir scheint, wenn diese Geschichte 2018 in Russland passiert wäre, dann am Gogol Center [dessen künstlerischer Leiter Serebrennikov zum Zeitpunkt seiner Festnahme war, M.E.]. Es ist in vieler Hinsicht heute das, was damals der Rockclub in Leningrad war.[15]

Einige kritische Stimmen der liberalen Opposition wie Artemij Troickij kritisierten Serebrennikov, weil dem Film die politische Proteststimmung fehle. Auch legendäre Protagonisten des sowjetischen musikalischen Undergrounds – Boris Grebenščikov, Aleksej Rybin und Andrej Tropillo – äußerten Kritik an Leto. Grebenščikov nannte das Drehbuch im Jahr 2018 „von Anfang bis Ende erlogen“,[16] und Tropillo, in dessen Studio die Alben von Kino aufgenommen wurden, bezeichnete Leto als „widerlich“ und „armselig“.

Trotz aller Kritik von Aktiven und Zeitzeugen des sowjetischen Undergrounds gibt es zahllose weitere Beispiele für das Recycling der Perestrojka-Ästhetik, die Aneignung des Vermächtnisses ihrer Protagonisten und die Weiterentwicklung des Mythos um Coj. So arbeitet der bekannte Regisseur Aleksej Učitel’, der mit Rok (Rock, 1987) den ersten sowjetischen Dokumentarfilm über den musikalischen Underground und mit Poslednij geroj (Der letzte Held, 1992) den ersten Film über Viktor Coj drehte, an einem neuen Film über ihn. Der Bedarf an Perestrojka-Energie wird jedoch nicht nur durch Remakes und Hommagen befriedigt. Auch alte Filme werden wieder gezeigt. Sergej Solov’evs Kultfilm Assa von 1988, von dem anlässlich seines 30. Jahrestags 2018 viel die Rede war,[17] ist seit dem 28. März 2019 in einer restaurierten Fassung wieder im russischen Filmverleih erhältlich – mit Unterstützung der Cinemathek Iskusstvo kino und des Konzerns Mosfilm.[18] Anton Dolin, Chefredakteur der Zeitschrift Iskusstvo kino, betont, dass der Film aktuell sei, weil sich darin die Vorstellung einer Alternative und einer neuen Zukunft verdichte:

Wir bringen Assa wieder auf die Leinwand – freudig, zitternd und staunend: Ist das wirklich wahr? Sergej Solov’evs unglaublicher Film erschien den Teenagern während der Perestrojka kosmisch und überirdisch – und doch auf Anhieb erkennbar und vertraut. Der Film Assa brachte den Rock-n-Roll des Undergrounds nicht einfach nur zu Gehör. Er war selbst dieser Rock-n-Roll, der aus dem Untergrund ins Licht getreten war. Als Viktor Cojs Wir warten auf Veränderung erklang, leuchteten im Publikum unter dem Sternenhimmel unzählige Lichter auf. Die rebellische Krankenschwester verließ den beschränkten Banditen wegen des armen Künstlers. Der Zuschauer glaubte, dass das Glück, die Liebe und das „Wunderland“ aus dem Lied Bravo erreichbar waren – und wenn alles gut lief, sogar die goldene Stadt aus dem Lied „Aquarium“. Heute ist Assa „in unserem Lachen, in unseren Tränen und im Pulsieren der Adern“. Und wieder, ja mehr denn je, brauchen wir Veränderung.[19]

Sergej Bodrov und die Mythologisierung der 1990er

Ähnliche Kämpfe um die Deutungshoheit werden auch um Sergej Bodrov geführt, die wichtigste Symbolfigur der 1990er Jahre in Russland. Auch die Verehrung Bodrovs als nationalen „Held unserer Zeit“ setzte sofort nach seinem Tod ein. Er kam 2002 bei den Dreharbeiten zu seinem neuen Film Der Bote in der nordossetischen Karmadon-Schlucht auf tragische Weise ums Leben. Und wie bei Coj ist auch bei Bodrov in den letzten Jahren eine neue Phase der Kanonisierung und Mythologisierung im konservativ-patriotischen Teil von Russlands Gesellschaft zu beobachten. Im Bodrov-Kult verschmelzen Schauspieler und Figur bis zur Ununterscheidbarkeit: Sergej Bodrov und die von ihm gespielte Figur Danila Bagrov, der Held der Filme Brat und Brat 2. Die Frage „Was ist Kraft, Bruder?“, die Danila in Brat 2 stellt, bezieht sich nicht nur auf die soziale Gerechtigkeit und die Wahrung der Menschenwürde unter schwierigen sozialen Bedingungen, sondern auch auf den Antagonismus zwischen Russland und dem Westen – eine der ewigen „russischen Fragen“.

An erster Stelle ist hier das Projekt eines Denkmals zu nennen, das Sergej Bodrov als Danila Bagrov zeigen soll. Initiiert wurde es von engagierten Bürgern unter Leitung von Valerij Sorokin. 2016 wurden das Projekt „Brat Danila“ (Bruder Danila) und eine dazu gehörende Webseite[20] ins Leben gerufen. Wie Coj fügt sich auch Bodrov als nationaler Archetyp in das patriotische Narrativ ein:

"Der Traum, ein Denkmal für Sergej Bodrov Jr. in der Gestalt Danila Bagrovs zu errichten, beschäftigt uns schon lange – als Filmfans und als Menschen, denen der Zustand der russischen Kultur nicht gleichgültig ist. Endgültige Gestalt nahm die Idee jedoch nach den Ereignissen 2014 in der Ukraine und der Verschärfung der Lage in Syrien an. Mehr denn je verspürten wir das Bedürfnis nach einem Symbol der Verteidigung unseres Landes und seiner Menschen. Wir möchten ein einigendes Bild schaffen, in dem sich die Eigenschaften manifestieren, die ein Nationalheld besitzen sollte. Zuallererst ist dies ein Denkmal für Sergej Bodrov, den Menschen und Schauspieler, der die Figur Danilas verkörpert."[21]

Im März 2019 gab der Entertainer Stanislav Bareckij bekannt, er habe mit Dreharbeiten zum Film Brat 3 begonnen. Seine Erklärung wurde als Heiligenschändung und Entweihung des Bodrov-Volkskults aufgefasst. Die Aufnahmen zu Brat 3 in Bareckijs Fassung werden als „zynische Verhöhnung“ oder „Anschlag auf das Heilige“ gewertet – Ausdrücke, die sonst zur Bezeichnung von Angriffen auf sakrale Objekte dienen.[22] In Petitionen auf der Plattform Change.org wurde gefordert, das Drehen des Sequels zu verbieten.

Während die Kanonisierung Bodrovs als Nationalheld im patriotischen Teil der Gesellschaft bereits kurz nach dem Jahr 2000 begann, ist im liberalen Milieu erst seit wenigen Jahren ein spürbares Interesse an ihm festzustellen. Jurij Saprykin greift häufig auf Bodrov zurück, wenn er die von diesem und Aleksej Balabanov geschaffene Figur eines neuen Helden des russischen Ressentiments analysiert.[23] Jurij Dud’s Dokumentarfilm Sergej Bodrov – glavnyj russkij supergeroj („Sergej Bodrov, der wichtigste russische Superheld“),[24] der 2017 zu Bodrovs 15. Todestag gezeigt wurde, war ein großes Ereignis und wurde alleine auf YouTube 6,5 Millionen Mal aufgerufen.

Ein wichtiges und vieldiskutiertes kulturelles Statement war das Album Raskraski dlja vzroslych (Malbücher für Erwachsene, 2018) der Popsängerin Monetočka (Elizaveta Gyrdymova).[25] Der Videoclip zu dem Song „90“ aus diesem Album ist als Hommage an den Film Brat und die Figur Danila Bagrovs angelegt. Drehbuchautor und Regisseur des Clips ist Michail Idov, von dem auch das Drehbuch zum Film Leto stammt. Entsprechend gibt es viele stilistische und ideologische Parallelen zwischen Clip und Film. Im Videoclip verwandelt Monetočka sich in Danila, erschießt die Banditen und läuft in Pullover, Barett und Mantel herum, dem Millionen von Russen bekannten Outfit des Helden aus Brat. Das Video ist voller Anspielungen – nicht nur auf den Film, sondern auch auf die Massenkultur der 1990er Jahre – unter anderem ist eine CD der Sängerin Natal’ja Vetlickaja zu sehen, und Tat’jana Bulanova, eine weitere damals beliebte Sängerin, erscheint kurz im Bild.

Sowohl der Song „90“ als auch der zugehörige Videoclip thematisieren die klischeehafte Wahrnehmung jener Zeit durch die Generation der Zwanzigjährigen und die Mythologisierung in den 1990er Jahren – vor allem durch Filme und Musik, darunter die Filme von Balabanov und Bodrov.

Globales Remake: Goša Rubčinskij und die Ästhetik der „Zweiten Welt“

Seit einigen Jahren ist zu beobachten, wie die Modebranche das symbolische Kapital der Perestrojka-Ära und der Jugendkultur der 1990er Jahre wiederbelebt, um einen neuen, russisch geprägten Trend zu schaffen. Die wichtigsten Vertreter dieser neuen Ästhetik, die sich ihren Platz in der globalen Modeindustrie erobert hat, sind der Designer Goša Rubčinskij (geb. 1984), Creative Director des Hauses Balenciaga, Demna Gvasalija (geb. 1981), Mitbegründer des Labels Vetements und Lotta Volkova (geb. 1984), die führende Stylistin von Vetements.[26]

Sie alle sind in der Sowjetunion während der Perestrojka aufgewachsen – in Moskau (Rubčinskij), Suchumi (Gvasalija) und Vladivostok (Volkova). Als eine Art „postsowjetische Dreifaltigkeit“ sind sie für die Generation der Post-Millennials die Leitfiguren einer neuen avantgardistischen Anti-Mode. Volkova, Gvasalija und Rubčinskij haben besser und früher als andere den Zeitgeist erfasst: das Ende des demonstrativen Konsums und das Bedürfnis nach Identitätsbildung durch kulturelle Stereotype. Sie haben die ärmlichen, dürftigen Plunderklamotten der postsowjetischen 1990er Jahre dem Vergessen entrissen und damit einen weltweit neuen Stil geschaffen. War der alte „russische Stil“ durch Moskauer Schönheiten, das Haus Romanov, Wodka, Kaviar und Bären geprägt, so setzten die Designer der neuen russischen Welle auf die kulturellen Codes des Ostblocks der Zerfallsperiode, den Stil der Perestrojka und des Jahrzehnts nach der Perestrojka. Hierin manifestieren sich die Energie der Veränderung und zugleich die Melancholie infolge ihrer ausgebliebenen Realisierung.

Auch Avdot’ja Aleksandrova (geb. 1990) gehört in diesen Zusammenhang. Sie ist Regisseurin und Eigentümerin der Agentur Lumpen, die Models jenseits des klassischen Schönheitsideals vermittelt. Aleksandrova sucht weltweit nach russischen (und nur russischen) „Antimodels“ – Jungen und Mädchen, deren Aussehen nicht dem eines konventionellen Models entspricht – und erstellt so eine visuelle Kartei der globalen „Russischen Welt“. Diese Models ziehen die Aufmerksamkeit führender Modehäuser auf sich, weil sie eine „andere“ Schönheit und Individualität zeigen und die Hochglanzstandards der „Ersten Welt“ herausfordern.[27]

In einem Interview mit dem Fernsehsender Dožd’ im Jahr 2017 bezeichnet Aleksandrova sich als russische Patriotin, die der Welt eine „russische Alternative“ präsentieren wolle. Im Gegensatz zum offiziellen Projekt der „Russkij mir“ (Russische Welt) ist sie damit bisher erfolgreich.[28] Die gopniki (dt. etwa: Assis, Prolls) der Agentur Lumpen haben eine gewisse finstere, aber zugleich smarte Eigenwilligkeit. Deshalb wird dieser Stil auch bereits als „Gopnik in Paris“ bezeichnet, was einerseits auf die reiche kulturelle Tradition der russischen Europäizität verweist, andererseits auf militärische Siege in den Kriegen des 19. und 20. Jahrhunderts sowie auf die Siegeszüge der Russen in Europa. Das berühmteste Model von Lumpen, der 19-jährige Vsevolod Čerepanov mit dem Spitznamen „Sever“ (Norden), gründete 2016 das Streetwear-Label Sever. Die Debütkollektion – Hoodies mit der Aufschrift „Russian Mafia New World Order“ – hatte weltweit Erfolg. 2017 entwickelte das Label seine erfolgreiche Marketingstrategie weiter und brachte einen Hoodie mit Kalaschnikow-Sturmgewehr auf den Markt.

Beobachter weisen auf den konservativ-patriotischen Aspekt der neuen russischen Modewelle hin. Dieser zeigt sich besonders deutlich bei den Projekten von Goša Rubčinskij, der der neuen Generation, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion geboren wurde, die melancholische Schönheit der russischen kulturellen Tradition rund um Armee, Sport, orthodoxen Glauben und Avantgarde vor Augen führt.[29] Auch im globalen Kontext hat Rubčinskij eine Kulturrevolution vollbracht. Er hat ein gefährliches, aber verführerisches Bild von Russland geschaffen und ist der wohl einflussreichste Botschafter der russischen Kultur seit Sergej Djagilev.[30]

Die erste Präsentation einer Herrenkollektion von Goša Rubčinskij 2008 lief unter dem Motto The Evil Empire. Schon damit war der ideologische Touch der neuen russischen Mode festgelegt: Es geht ihm um ein Remake der Perestrojka- und Übergangsepoche, um die Aneignung der Rolle des „Feindes der freien Welt“, des „globalen Gopnik“ und darum, eine radikale ästhetische Alternative zum Mainstream der westlichen Mode zu schaffen. Beim Aufbau seines Fashion-Narrativs, das neben Mode auch Ausstellungen, Fotoalben, Filme, Soundtracks und Locations für Modeschauen umfasst, aber auch die persönlichen Geschichten der Models und die Zusammenarbeit mit ihnen einbezieht, verwertet Rubčinskij sämtliche Klischees aus dem Kalten Krieg, die nach 2014 wieder aktuell geworden sind.

Sehr junge Models mit dem Aussehen attraktiver Krimineller stellen ambivalente Queer-Images zur Schau. Sie präsentieren sich als Subjekte der „Zweiten Welt“, die arm, aber sexy sind, und verkörpern das „Reich des Bösen“ und eine alternative Globalisierung.[31] Die Erkennungsmerkmale dieses Stils sind kyrillische Schriftzüge mit Verweisen auf den sowjetischen militärischen und sportlichen Kanon (z.B. „Rossija“ (Russland), „Vrag“ (Feind), „futbol“ (Fußball), „Gotov k trudu i oborone“ (Bereit für Arbeit und Verteidigung), Zitate von Künstlern und Musikern der nichtoffiziellen spätsowjetischen Kultur (Kollektionen mit Werken von Timur Novikov und Erik Bulatov), Schriftzüge wie „ASSA“, „Russkij renessans“ (Russische Renaissance), Anspielungen auf die russische Avantgarde (Malevič) und die Klub- und Rave-Kultur der 1990er Jahre wie etwa auf das Petersburger Rave Festival Vostočnyj udar. Die Modeschauen finden an öffentlichen Orten statt, die entweder mit Praktiken der Disziplinierung in der sowjetischen (Stadien, Kulturzentren) oder in der postsowjetischen Zeit (Kirchen) sowie mit den wichtigsten Räumen der Gegenkultur der 1990er Jahre (Rave Squats und Stadtruinen) assoziiert werden.

Die letzten drei Kollektionen von Rubčinskij wurden in Russland präsentiert, in Kaliningrad, St. Petersburg und Ekaterinburg. In der Modebranche, die sich sonst auf Paris, Mailand, New York und London konzentriert, ist das eine absolute Ausnahme. Die Wahl Kaliningrads – Militärstandort und Hauptquartier der Baltischen Flotte – als Ort, wo die Herbst-Winter-Kollektion 2017 vorgestellt wurde, war nicht nur eine Marketingidee, sondern eine ideologische Geste. Die Kollektion wurde in Zusammenarbeit mit adidas football erstellt und verweist ästhetisch sowohl auf die sowjetisch-deutschen Beziehungen als auch auf militärisches Dandytum und die Subkultur der Fußballfans mit ihrer aggressiv-nationalistischen Ausdrucksweise. Nachdem Rubčinskij die Dezentralisierung der Modeschauen eingeleitet hatte, begann er, die symbolische Dominanz des Westens bei der Produktion visueller/ideologischer Bilder zu zerstören:

Ich habe Kaliningrad als Hommage an adidas ausgewählt. In Russland und der Sowjetunion haben die Sportmannschaften immer Produkte dieser Marke getragen. Ich will beweisen, dass sich globale Ideen auch in kleinen russischen Städten umsetzen lassen. Ich will das Ende der Globalisierung zeigen.[32]

Rubčinskijs Herbst-Winter-Kollektion 2018 wurde im Januar 2018 in Ekaterinburg präsentiert, das von 1924 bis 1991 zu Ehren des Altbolschewiken Jakov Sverdlov Sverdlovsk hieß und in den 1980er und 1990er Jahren zu den wichtigsten Orten der Alternativkultur gehörte: Im El’cin-Zentrum liefen russische Jungens in Dr. Martens-Schuhen, Levi’s-Jeans, Burberry-Trenchcoats, Adidas-Trainingsanzügen mit der Aufschrift „Rossija“ (Russland) und Militärhemden und schwarzen Pullovern mit der Aufschrift „Vrag“ (Feind) über den Laufsteg – eine Anspielung auf die Ästhetik der Limonov-Anhänger in den 1990er Jahren (schwarzes Hemd mit rot-weißer Armbinde.[33]

Die chaotischen Bewegungen auf der Bühne, begleitet von abgehacktem Spiel auf verschiedenen Musikinstrumenten waren eine Hommage an Sergej Kurechins Band Pop-mechanika. Am Ende der Show sangen die Models im Chor das Lied Goodbye, America von Vjačeslav Butusov, zu dessen Klängen Danila Bagrov im Film Brat 2 aus Amerika nach Hause fliegt.

Rubčinskijs Kollektion ist insofern interessant, als sie nicht nur die kulturellen Codes der 1990er Jahre zitiert und den Kontext der ersten Enttäuschung nach der Berührung mit dem Westen rekonstruiert. Darüber hinaus entspricht sie auch der gegenwärtigen politischen Leitidee in Russland, die sich als „Globalisierung ohne Verwestlichung“ charakterisieren lässt. Diese propagiert die Einbindung Russlands in den internationalen Markt und die postindustrielle Wirtschaft bei gleichzeitiger Isolation und mit dem Status eines Feindes des Westens. Die transnationale russische Avantgarde-Mode passt voll und ganz zur „neuen russischen Doktrin“ des Kreml, die Putin in seiner Rede an die Föderalversammlung am 1. März 2018 dargelegt hat.[34] In dieser Doktrin ist die politische Frontstellung und Isolation Russlands vereinbar mit der Teilnahme am globalen Wirtschaftsverkehr, und avantgardistische Projekte im Militär, der Raumfahrt und Rüstungsforschung gehen einher mit dem Festhalten an der russischen geistigen und kulturellen Tradition.

Aus dem Russischen von Anselm Bühling, Berlin

 

 

 

 

 


[1]   Christine Engel: Kulturelles Gedächtnis, neue Diskurse. Zwei russische Filme über die Kriege in Tschetschenien, in: Osteuropa, 5/2003, S. 604–617.

[2]   Timotheus Vermeulen, Robin van den Akker: Notes on metamodernism, in: Journal of Aesthetics & Culture, 1/2010, DOI: 10.3402/jac.v2i0.5677

[3]   T. Vermeulen, R. van den Akker: Čto takoe metamodernizm? Dvoetočie, 19.6.2014,  <https://dvoetochie.wordpress.com/2014/06/19/metamodernism/>.

[4]   Jurij Saprykin: Neprivyčnaja Rossija. Molodost’ v mnogoėtažkach. Seans, 23.8.2018, <https://seance.ru/blog/portrait/neprivychnaya-rossiya>.

[5]   Als „Passionarier“ bezeichnete der eurasisch denkende Ethnologe Lev Gumilev in seiner Theorie der Ethnogenese Menschen, die sich mit besonderer Leidenschaft für eine öffentliche Sache einsetzen. Das Wort wird heute in Russland etwa im Sinne von Draufgänger verwendet – Red.

[6]   Maria Engström: Visualizing the Conservative Revolution: Alternative Globalization and Aesthetic Utopia of „Novorossiia“, in: Vlad Strukov, Sarah Hudspith (Hg.): Russian Culture in the Era of Globalization. London, New York 2019, S. 189–216. – Zu den sozialen Trägern der „Volksrepublik Donezk“ und „Volksrepublik Lugansk“ siehe Nikolay Mitrokhin: Transnationale Provokation. Russische Nationalisten und Geheimdienstler in der Ukraine.

[7]   Die Verfechter einer eurasischen Zukunft nutzen Cojs asiatische Identität, um ihre Ideen zu propagieren. Auf YouTube und in den sozialen Netzwerken erscheinen regelmäßig Videos, in denen Kino-Songs auf Koreanisch gesungen werden. 2017 wurde auf Initiative des Koreanisch-Kasachischen Freundschaftsfonds in Karaganda ein Denkmal für Viktor Coj errichtet.

[8]   <www.youtube.com/watch?v=XIOUeUtBtK4>.

[9]   Vjatrovič: Takie ščupal’ca „russkogo mira“, kak Bulgakovy, Vysockie i Coi, v rukach Kremlja ne menee opasny, čem sovok i moskovskaja cerkov’. Gordon.ua, 26.1.2018.

[10]  <www.youtube.com/watch?v=fuPX8mjeb-E>.

[11]  <www.youtube.com/watch?v=8hHW2JNici0>.

[12] Zum Bild der Mädchenkriegerin in der Popkultur und zum Konzept der „Rodina-Doč’“ (Tochter-Heimat) Maria Engström: Daughterland [Rodina-Doch’]: Erotic patriotism and Russia’s future: Conservative mobilization and sexualization of the nation, Intersection: Russia/Europe/World, 27.9.2016, <http://intersectionproject.eu/article/politics/daughterland-rodina-doch-erotic-patriotism-and-russias-future>.

[13] Als „unser ein und alles“ gilt in Russland traditionell der Nationaldichter Puškin.

[14] Michail Idov ist ein russisch-amerikanischer Drehbuchautor, Regisseur und Autor von: Dressed Up for a Riot: Misadventures in Putin’s Moscow. New York 2018.

[15] <https://themoscowtimes.com/articles/summer-brings-1980s-russian-rock-n-roll-to-life-61778>.

[16] Boris Grebenščikov: Scenarij fil’ma Serebrennikova o Coe – lož’ ot načala do konca, <https://topspb.tv/news/2018/02/15/borisgrebenshikov-scenarij-filma-serebrennikova-o-coe-lozh-ot-nachalado-konca/>

[17] Anton Dolin: Tridcat’ let fil’mu „Assa“ Počemu on vošel v istoriju? Meduza, 1.4.2018, <https://meduza.io/feature/2018/04/01/tridtsat-let-filmu-assa?fbclid=IwAR1O­w6JaeiEAU7s3x7FfYbXvlvLZsK4mZQbw-Zj0Z1jvAxRxg542DWvoEDU>.

[18] <https://kinoart.ru/texts/assa-vyydet-v-povtornyy-prokat>

[19] <https://kinoart.ru/events/assa-prokat>. Gemeint ist nicht das Publikum im Kinosaal, sondern eine Szene am Ende des Films: <https://youtu.be/AfxF8U8YXR0?t=8478>. Mit dem Hinweis auf „unser Lachen, unsere Tränen …“ spielt Dolin auf das Lied Peremen an.

[20] <http://bratdanila.ru/>.

[21] <www.kompravda.eu/daily/26603.4/3619119/>.

[22] <www.youtube.com/watch?v=pypByrylvkc>.

[23] Jurij Saprykin: Neprivyčnaja Rossija. Molodost’ v mnogoetažkach. Seans, 23.8.2018, <https://seance.ru/blog/portrait/neprivychnaya-rossiya/>.

[24] <www.youtube.com/watch?v=Ed47sWpgvf0>.

[25] Maria Engström: Monetochka: The Manifesto of Metamodernism. Riddle, 26.6.2018, <www.ridl.io/en/monetochka-the-manifesto-of-metamodernism/>.

[26] Claire Beermann: Demna Gvasalija. Der Neue, in: Zeit-Magazin, 9/2016, <www.zeit.de/zeit-magazin/2016/09/demna-gvasalia-mode-design-balenciaga-interview>.

[27] Avdot’ja Aleksandrova: Kak iz parnej s okrain sdelat’ zvezd mirovoj mody. Telekanal Dožd, 30.11.2017, <www.youtube.com/watch?v=IQ9dQOd248A>.

[28] Zum offiziellen Konzept des Russkij mir: Thomas Bremer: Diffuses Konzept. Die Russische Orthodoxe Kirche und die „Russische Welt“, in: Osteuropa, 3/2016, S. 3–18. – Zaur Gasimov: Idee und Institution. „Russkij mir“ zwischen kultureller Mission und Geopolitik, in: Osteuropa, 5/2012, S. 69–80.

[29] SHOWstudio 2017. Gosha Rubchinskiy. Autumn/Winter 2017. 13.1.2017, <www.youtube.com/watch?v=x4lWn52dJ0A>.

[30] Anastasiia Fedorova: Post-Soviet fashion. Identity, history and the trend that changed the industry. The Calvert Journal, 2018, <www.calvertjournal.com/features/show/9685/post-soviet-visions-fashion-aesthetics-gosha-demna-lottavetements>.

[31] Agneta Pyzik: Poor but Sexy: Culture Clashes in Europe East and West. Alresford 2014.

[32]   Goša Rubčinskij: Čto nužno znat’ o pokaze Goši Rubčinskogo v Kaliningrade. Elle, 13.1.2017, <www.elle.ru/moda/novosty/chto-nujno-znat-o-pokaze-goshi-rubchinskogo-v-kaliningrade/>. – Diskussion, 13.1.2017, <www.youtube.com/watch?v=x4lWn52dJ0A>.

[33] Zu Rubčinskijs Kollektion gehört auch ein direktes Remake des Limonov-Outfits. Gosha Rubchinskiy Menswear Fall Winter 2018 Yekaterinburg, <https://nowfashion.com/gosha-rubchinskiy-menswear-fall-winter-2018-yekaterinburg-23745>, hier Bild 26.

[34] Poslanie Prezidenta Federal’nomu Sobraniju, 1.3.2018, <kremlin.ru/events/president/news/56957>.

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