Der Fall Jurij Dmitriev
DokumentationAbstract in English
(Osteuropa 12/2019, S. 7175)
Volltext
Der Historiker Jurij Dmitriev ist Leiter des karelischen Zweigs von Memorial. Seit Ende der 1980er Jahre beschäftigt er sich mit dem Terror und der politischen Verfolgung in Karelien während der Stalin-Zeit. Er hat die Namen der Opfer zusammengetragen, ihre Lebensläufe recherchiert und diese publiziert; das erste Buch zur Erinnerung an die Ermordeten erschien 1997, vier weitere folgten. Jurij Dmitriev suchte auch die Orte, an denen die Erschießungen stattfanden. Er fand nicht zuletzt die größte der bislang bekannten Erschießungsstätten – Sandarmoch. Dort wurden in den Jahren 1937–1938 fast 10 000 Menschen erschossen. Dmitriev ist es zu verdanken, dass sich dort seit 1997 eine Gedenkstätte befindet.
Im Jahr 2008 nahm Jurij Dmitriev ein dreijähriges Mädchen aus einem Kinderheim zur Pflege auf. Dmitriev war selbst in einer Pflegefamilie aufgewachsen, seine eigenen Kinder waren zu diesem Zeitpunkt bereits im Erwachsenenalter und hatten selbst Familien gegründet. Als Dmitriev das Mädchen aufnahm, war es kränklich, schwach und in seiner körperlichen Entwicklung stark zurückgeblieben. Jurij Dmitriev machte es sich zur Aufgabe, das Mädchen zu Kräften zu bringen.
Seit Dezember 2016 steht Jurij Dmitriev unter Anklage und befindet sich in Untersuchungshaft. Ihm werden Sexualstraftaten vorgeworfen, die er an seiner Pflegetochter begangen habe.
Die Art des Vorgehens gegen Jurij Dmitriev und der Verlauf des Prozesses zeigen unzweideutig, dass es sich um ein konstruiertes Verfahren handelt und Dmitriev die ihm zur Last gelegten Verbrechen nicht begangen hat. Die Menschenrechtsorganisation Memorial hat Dmitriev im Jahr 2017 zum politischen Gefangenen erklärt. Er ist seit drei Jahren in einem Untersuchungsgefängnis in Petrozavodsk inhaftiert. Das Urteil soll im Februar 2020 verkündet werden. Im Falle einer Verurteilung droht dem heute 64-Jährigen eine Haftstrafe von 20 Jahren.
Die Anklage
Auf dem Computer von Jurij Dmitriev wurden Bilder der unbekleideten Pflegetochter gefunden. Zum Zeitpunkt der Verhaftung war das Mädchen elf Jahre alt, zum Zeitpunkt der Entstehung der Aufnahmen viereinhalb bzw. sieben Jahre. Dmitriev erklärte, die Aufnahmen gemacht zu haben, um den Gesundheitszustand des Mädchens zu dokumentieren.
Diese Aufnahmen wurden zum Anlass einer Anklage nach Paragraph 242,2 Absatz 2, Punkt v (2) des Strafgesetzbuches gemacht (Missbrauch von Minderjährigen mit dem Ziel der Erstellung pornographischer Aufnahmen und Gegenstände). Später wurde, ohne dass neue Fakten oder Zusammenhänge bekannt geworden waren, zudem Anklage nach Paragraph 135 StGb (sexueller Missbrauch ohne Gewaltanwendung an einem Kind unter 16 Jahren) erhoben.
Bei einer Hausdurchsuchung wurden in Dmitrievs Wohnung Teile eines funktionsuntüchtigen Jagdgewehrs mit abgesägtem Lauf gefunden, und in der Folge wurde auch Anklage wegen unerlaubter Aufbewahrung einer Schusswaffe nach Paragraph 222,1 erhoben.
Am 5. April 2018 sprach das Stadtgericht Petrozavodsk Jurij Dmitriev in allen zentralen Punkten frei. Lediglich das Verfahren wegen illegaler Aufbewahrung von Teilen einer Schusswaffe wurde fortgeführt und Dmitriev unter Auflage einer Meldepflicht freigelassen.
Am 14. Juni 2018 hob der Oberste Gerichtshof der Republik Karelien dieses Urteil auf. Die Anklage hatte die Aufzeichnung eines Gesprächs vorgelegt, in dem das Mädchen angeblich erklärte, ihr Pflegevater habe sie unsittlich berührt.
Zu allen genannten Anklagepunkten wurden neue Untersuchungen durchgeführt. Zudem wurde gegen Dmitriev auf Grundlage der Tonaufzeichnung nun auch nach Paragraph 132,4 (b) Anklage erhoben (gewaltsame sexuelle Handlungen an einer Person unter 14 Jahren). Am 28. Juni 2018 wurde Dmitriev erneut verhaftet.
Worauf stützt sich die Anklage?
Die Anklage nach Paragraph 242,2 Absatz 2, Punkt v (2) und Paragraph 135 stützt sich auf ein Gutachten von drei Mitarbeitern des „Zentrums für Soziokulturelle Analysen“. Autoren des Gutachtens sind eine Kunstwissenschaftlerin, ein Pädagoge und ein Kinderarzt. Analysiert wurden für das Gutachten neun Aufnahmen – vier Bilder aus dem Jahr 2009, vier aus dem Jahr 2010, eines aus dem Jahr 2012. Die Experten, die auf Antrag der Verteidigung Dmitrievs bei den Verhandlungen gehört wurden, stellten fest, dass der Gutachtergruppe kein Sexualwissenschaftler und kein Kinderpsychologe angehört hatten und sie daher nicht über die notwendige Expertise verfügt habe. Argumentation und Schlussfolgerung des Gutachtens seien wissenschaftlich unseriös. Ein zweites Gutachten, das das Gericht in Auftrag gab, kam zu dem Ergebnis, es handele sich um Alltagsfotos ohne pornographische Komponente. Bei der Aufhebung des vom Stadtgericht Petrozavodsk gesprochenen Urteils kehrte das Oberste Gericht Kareliens jedoch faktisch zu den Schlüssen des Zentrums für Soziokulturelle Analysen zurück, die, wie zuvor mehrfach belegt worden war, unhaltbar sind.
Die Anklage nach Paragraph 132,4 (b) beruht auf Aussagen einer Minderjährigen, die gewaltsam von der Familie getrennt wurde, in der sie aufwuchs, und sich zum Zeitpunkt der Aussage in Isolation befand und psychischem Druck durch den neuen Vormund sowie durch die Untersuchungsbehörde ausgesetzt war. Im Verlaufe des Gesprächs interpretiert der Untersuchungsbeamte die Worte des Mädchens zunächst missbräuchlich, um ihr dann diese Interpretation als von ihr geäußerte Meinung aufzudrängen.
Die Anklage nach Paragraph 222,1 beruht auf einem Gutachten, welches das Jagdgewehr, das Dmitriev gefunden hatte und das über keinen Abzug verfügt, zu einer funktionstüchtigen Waffe erklärt.
Die schwerwiegenden Vorwürfe werden somit auf der Basis teils unhaltbarer, teils zweifelhafter Darlegungen erhoben. Zudem ergab sich im Verlaufe der Verhandlung eine große Zahl weiterer Hinweise darauf, dass Untersuchungsbehörde und Gericht einen Auftrag erhalten haben, gegen Dmitriev Anklage zu erheben bzw. diese zuzulassen.
Hinweise auf die Manipulation des Prozesses und die Unschuld Dmitrievs:
- Das Strafverfahren gegen Jurij Dmitriev wurde nach einer anonymen Anzeige angestrengt, die die Polizei angeblich per Post erhalten habe. In der Anzeige hieß es, Dmitriev fotografiere seine Tochter, die Behörden sollten dringend einschreiten. Die Untersuchungsbehörde hat keinerlei Versuch unternommen, die Person ausfindig zu machen, die die Anzeige erstattet hat. Auch das Gericht hat dem Antrag der Verteidigung, die diese Person als Zeugen laden wollte, nicht stattgegeben und nicht versucht, sie zu finden.
- Des Weiteren entschied sich das Gericht bei der Bestimmung der Gutachter kaum zufällig für das „Zentrum für Soziokulturelle Analysen“. Mitarbeiter dieses Instituts haben in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe von unhaltbaren Gutachten ausgestellt, die durchweg im Sinne der Anklage ausfielen. Stets handelte es sich um politisch motivierte Prozesse, bei denen Anklage wegen Extremismus oder Verletzung der Gefühle von Gläubigen erhoben wurde – so im Prozess gegen die Frauen der Gruppe Pussy Riot sowie im Prozess gegen die „Zeugen Jehovas“.
- Das Jugendamt, das die Lebensbedingungen der Pflegetochter, ihre Erziehung und die Achtung ihrer Rechte bei Dmitriev ab dem Jahr 2008 regelmäßig prüfte, hatte die Unterbringung bei Dmitriev stets für einwandfrei befunden.
- Bei Befragungen des Mädchens im Jahr 2017 erinnerte sich diese an keinerlei seltsame oder unverständliche Handlungen ihres Pflegevaters, an nichts, das ihr zugefügt worden sei oder das sie verwirrt habe. Eine umfassende medizinische Untersuchung und ein psychologischpsychiatrisches Gutachten ergaben keine Anzeichen von Gewalt und keinen Hinweis auf eine psychische Auffälligkeit.
- Nach dem Freispruch im April 2018 brach der Kontakt zwischen der Pflegetochter Dmitrievs und seinen Verwandten und Freunden, die das Mädchen kannten und mit ihr telefonisch oder per Post in Verbindung standen, plötzlich ab. Ab April 2018 gelang es niemandem mehr, mit dem Mädchen oder dem neuen Vormund, der Großmutter, in Kontakt zu treten. Das Mädchen wurde von der Außenwelt isoliert.
- Im Mai und Juni führte ein Untersuchungsbeamter in Anwesenheit eines Psychologen mehrere Gespräche mit dem Mädchen, obwohl die Beweisaufnahme abgeschlossen war. Die Aufzeichnung eines dieser Gespräche diente später als Grundlage für die Aufhebung des Freispruchs und die neue Anklage. Es steht außer Zweifel, dass diese Aufnahme gezielt erstellt und sorgfältig vorbereitet wurde.
- Die erneute Anklage erfolgte urplötzlich, nachdem zwei Jahre Ermittlungen zu einem eindeutigen Freispruch geführt hatten.
- Bei einem Gespräch mit dem Mädchen im Jahr 2018, von dem es eine Videoaufzeichnung gibt, gibt sie keine Hinweise auf gewaltsame oder sexuelle Handlungen Dmitrievs. Sie spricht von „Berührungen“, die sie bis zu diesem Gespräch als normalen Umgang zwischen Eltern und ihren Kindern betrachtet hatte.
- Die Videoaufzeichnung zeigt, dass bei dem Gespräch psychischer Druck auf das Mädchen ausgeübt wurde und ihm suggestive Fragen gestellt wurden. Das Mädchen stimmte den an es herangetragenen Formulierungen zu, um das Gespräch beenden zu können.
- Bei dem Verfahren werden Aufzeichnungen späterer Gespräche mit dem Mädchen herangezogen, in denen sie angeblich von zahlreichen sexuellen Handlungen ihres Pflegevaters berichtet. Diese Gespräche wurden jedoch ohne Video oder Audioaufzeichnung geführt. Der Verdacht liegt nahe, dass die Protokolle nicht dem Verlauf der Gespräche entsprechen. Diese Protokolle, deren Korrektheit niemand bestätigen kann, sind faktisch alles, worauf sich die Anklage stützt.
- Anklage wegen unerlaubter Aufbewahrung einer Schusswaffe wurde erhoben, da in Dmitrievs Wohnung ein Teil eines alten Jagdgewehrs gefunden wurde. Die Waffe war stark beschädigt, nicht funktionstüchtig, passende Patronen sind seit mehreren Jahrzehnten nicht mehr erhältlich.
- Die Verhandlungen sind nicht öffentlich, Zuschauer und Medien werden nicht zugelassen.
- Im Herbst 2018 wurde der Richterin Marina Nosova, die Dmitriev freigesprochen hatte, die anstehende Beförderung verweigert. Sie hätte von der stellvertretenden Leiterin des Petrozavodsker Stadtgerichts zur Richterin am Obersten Gericht Kareliens werden sollen und wurde stattdessen zur gewöhnlichen Richterin am Stadtgericht degradiert. Gleichzeitig schied die Staatsanwältin von Petrozavodsk, Elena Askerova, die das Verfahren gegen Dmitriev geleitet hatte, das mit dem Freispruch endete, aus dem Dienst aus – angeblich auf eigenen Wunsch, um in der Privatwirtschaft tätig zu werden. Richter und Staatsanwalt des Verfahrens, das mit einem Freispruch endete, sind damit fast gleichzeitig beiseitegeschoben worden.
Warum wird Dmitriev verfolgt?
Das Verfahren gegen Jurij Dmitriev folgt einem Muster, das sich seit einigen Jahren immer deutlicher abzeichnet. Die Haltung des Staats zum Stalinismus hat sich in dieser Zeit deutlich verändert. Die Gesellschaft Memorial, die sich die Erinnerung an die Opfer des stalinistischen Terrors zur Aufgabe gemacht hat, wurde zum ausländischen Agenten erklärt und mit einer Strafe von einer Million Rubel belegt. In mehreren Regionen Russlands wurden gegen Mitglieder von Memorial Strafverfahren eröffnet.[1] Gedenkstätten, an denen an die Opfer des Terrors erinnert wird, wurden staatlicher Kontrolle unterstellt. Besonders aggressiv verhält sich der Staat bei Gedenkstätten, an denen auch der Opfer aus anderen Staaten gedacht wird. Am deutlichsten zeigte sich dies in Katyn’ und Mednoe, wo im Jahr 1940 polnische Offiziere erschossen wurden.
Auch in Sandarmoch wurden viele Angehörige anderer Nationen erschossen, sehr viele Finnen, Ukrainer und Polen. Jurij Dmitriev hat stets ein nationales Gedenken an die Opfer unterstützt, hat sich mit den Vertretern der jeweiligen Opferverbände in Verbindung gesetzt und sie eingeladen, in Sandarmoch der ermordeten Angehörigen ihrer Nation zu gedenken. Jedes Jahr organisierte Dmitriev am 5. August eine Gedenkveranstaltung in Sandarmoch zur Erinnerung an die Opfer des Großen Terrors, an der Vertreter aus der Ukraine, aus Polen und vielen anderen Staaten teilnahmen.
Nach Beginn des Kriegs im Osten der Ukraine im Jahr 2014 betrachteten die örtlichen Behörden die Besuche ausländischer Gäste in Sandarmoch und die freien Diskussionen, die dort über die politische Situation in Russland geführt wurden, mit zunehmender Ablehnung. Dmitriev verurteilte bei einer solchen Veranstaltung im Jahr 2014 den Krieg in der Ukraine. Im Jahr 2015 wurde ihm ein Auftritt verboten. Gleichzeitig erhielt er vom polnischen Staat das Goldene Verdienstkreuz, während sich die staatlichen Beziehungen zwischen Russland und Polen stark verschlechterten.
Im Jahr 2016 begannen die staatlichen Medien die Behauptung zu verbreiten, die in Sandarmoch gefundenen Toten seien keine Opfer des Stalinterrors, sondern sowjetische Kriegsgefangene, die während des Zweiten Weltkriegs von Finnen erschossen worden seien. In diese Zeit fiel die Verhaftung Dmitrievs. Während er in Untersuchungshaft saß, wurden in den Jahren 2018 und 2019 in Sandarmoch Grabungen durchgeführt, deren erklärtes Ziel es war, „Stätten zu finden, an denen die sterblichen Überreste von Häftlingen finnischer Konzentrationslager sowie von Soldaten der Arbeiter- und Bauernarmee liegen, die bei Kämpfen gegen finnische Okkupanten in den Jahren 1941–1944 ums Leben kamen.“[2] Die Grabungen wurden von der Russländischen Militärhistorischen Gesellschaft durchgeführt, einer staatsnahen patriotischen Organisation. Eine seriöse wissenschaftliche Begleitung gab es nicht. (Finnland hat bereits vor langer Zeit Archivmaterialien zur letzten Ruhestätte aller 19 000 sowjetischen Soldaten, die in finnischer Kriegsgefangenschaft starben, publiziert und an Russland übergeben. Doch diese werden ignoriert.)
Der Fall Dmitriev fügt sich somit in eine staatliche Kampagne, mit der zivilgesellschaftliches Engagement zur Erinnerung an die dunklen Seiten der Vergangenheit unterdrückt werden soll.
Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin
Der russische Text wurde im Januar 2020 von Mitarbeitern von Memorial verfasst. Wir geben ihn in leicht gekürzter Fassung wieder.
Zur Arbeit Jurij Dmitrievs als Historiker und zu seiner Verfolgung siehe auch Sergej Lebedev: Das Zeugnis der Toten. Jurij Dmitriev, Wanderer im Archipel, in: Osteuropa, 9–10/2017, S. 3–16.
[1] In Tschetschenien wurde im Januar 2018 der Leiter des Menschenrechtszentrums in Groznyj, Ojub Titiev, verhaftet und im März 2019 wegen angeblichem Besitz von 200 Gramm Marihuana zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Im Juni 2019 wurde die Strafe in eine Bewährungsstrafe umgewandelt, Titiev kam nach 18 Monaten unter Auflagen frei. Im Gebiet Perm’ wurde im August 2019 ein Verwaltungsverfahren gegen die örtliche Memorialgruppe und ihren Leiter Robert Lapytov eröffnet. Freiwillige aus Litauen hatten in der Nähe der Stadt Kudymkar einen Friedhof in einem Waldstück hergerichtet, wo die sterblichen Überreste von Litauern ruhen, die in den Sommermonaten 1941 deportiert worden waren. Memorial Perm’ wurde vorgeworfen, illegal Bäume gefällt zu haben. Wegen Fehlen des selbstdenunziatorischen Hinweises „ausländischer Agent“ auf einigen Internetseiten wurde Memorial zu Strafzahlungen von mittlerweile 4,6 Millionen Rubel (ca. 65 000 Euro) verurteilt – Red.
[2] So die offizielle Aussage der Russländischen Militärhistorischen Gesellschaft, die die Grabungen durchführte. Startovalo poiskovaja ėkspedicija RVIO v Sandarmoche. Est’ pervye nachodki, <https://rvio.histrf.ru/activities/news/item-6524>.