Die Satten und der Pöbel
Die Traditionen der russischen Intelligencija und das Scheitern der Protestbewegung 2011/2012
Abstract in English
Abstract
Russlands Protestbewegung ist an sich selbst gescheitert. Die führenden Repräsentanten der Demonstrationen gegen das Regime präsentierten den Protest als Frage des Stils und der Selbstverwirklichung und stellten ganz in der Tradition der russischen Intelligencija die „Kultur“ dem „Staat“ gegenüber. Sie sahen die Forderung nach Pluralismus, Transparenz und ehrlichen Wahlen als Frage des guten Geschmacks, den jeder, der „europäisch“, „zivilisiert“, „kreativ“, „modern“, „urban“, kurzum: „normal“ sein wolle, einfach haben müsse. Zwar beanspruchten sie, für das ganze Volk zu sprechen, implizit grenzten sie sich aber von genau jenem Volk ab. Für sie ist das Volk eine dumpfe Masse und Pöbel, seine sozialen Nöte ignorierten sie. Hatte die russische Intelligencija sich einst zum „Gang ins Volk“ aufgemacht, ist sie heute von diesem angewidert. Damit war der Propaganda des Regimes Tür und Tor geöffnet: Es diskreditierte die gesamte Bewegung als kleines Grüppchen von „Satten und Erfolgreichen“, sich selbst aber stellte es als wahren Vertreter der Interessen des Volks dar.
(Osteuropa 1-2/2019, S. 3345)