Titelbild Osteuropa 6-8/2017

Aus Osteuropa 6-8/2017

Antirevolutionäre Revolutionserinnerungspolitik
Russlands Regime und der Geist der Revolution

Il’ja Kalinin

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Abstract in English

Abstract

Russlands Führung steht im Jahr 2017 vor einer Herausforderung: Sie muss Erinnerung an die Oktoberrevolution in ein Geschichtsbild ver-packen, das Revolutionen als solche ablehnt. Ihre zentrale Botschaft lautet: Versöhnung. Doch es geht nicht um den Bürgerkrieg 1917–1920. Die Vergangenheit ist nur vorgeschoben. Es geht darum, jede Form von Kritik am heutigen Regime als Bedrohung des gesellschaftlichen Friedens zu diffamieren und mit dem Stigma zerstörerischer revolutionärer Tätigkeit zu belegen. Die Oktoberrevolution soll vergessen werden, an ihre Stelle ein nationalpatriotisches Gedenken an jene Ordnung durchgesetzt werden, die im Oktober 1917 gestürzt wurde.

(Osteuropa 6-8/2017, S. 7–17)

Volltext

Il’ja Kalinin

Antirevolutionäre Revolutionserinnerungspolitik

Russlands Regime und der Geist der Revolution

Russlands Führung steht im Jahr 2017 vor einer Herausforderung: Sie muss Erinnerung an die Oktoberrevolution in ein Geschichtsbild verpacken, das Revolutionen als solche ablehnt. Ihre zentrale Botschaft lautet: Versöhnung. Doch es geht nicht um den Bürgerkrieg 1917–1920. Die Vergangenheit ist nur vorgeschoben. Es geht darum, jede Form von Kritik am heutigen Regime als Bedrohung des gesellschaftlichen Friedens zu diffamieren und mit dem Stigma zerstörerischer revolutionärer Tätigkeit zu belegen. Die Oktoberrevolution soll vergessen werden, an ihre Stelle ein nationalpatriotisches Gedenken an jene Ordnung durchgesetzt werden, die im Oktober 1917 gestürzt wurde.

Revolutionsjubiläen sind ein Skandal. Nichts demonstriert wie sie die Ironie der Geschichte. Revolutionen erheben den Anspruch, das Band der Geschichte zu zerreißen. Sie wollen die Welt umgestalten, das Sein mit dem Sollen in Einklang bringen. Jubiläen betonen hingegen die Kontinuität, die Einheit der Zeit. Sie werden begangen, um die Geschichte mit Hilfe der Chronologie zu zähmen. Sie signalisieren den Triumph der Ordnung über die Spontaneität. Sie stehen für eine Revanche des Staates, der seine Macht über jene Kräfte zur Schau stellt, die die Staatlichkeit als solche in Frage stellen. Jubiläumsfeiern lassen das historische Ereignis der Revolution zu einer Routine erstarren, verwandeln es in ein sorgsam inszeniertes Spektakel und lenken die Energie der schöpferischen Zerstörung in Rituale, die die herrschende Ordnung stabilisieren.

Revolutionsjubiläen sind daher stets konterrevolutionär. Der Wunsch, die revolutionären Ereignisse erneut zu durchleben, äußert sich zunächst in einem magischen Mysterienspiel. Im Jahr 1920 „stürmten“ am dritten Jahrestag der Oktoberrevolution 10 000 Menschen, darunter Soldaten und Matrosen der Roten Armee, unter der Anleitung des Theaterregisseurs Nikolaj Evreinov noch einmal das Winterpalais.[1] In einem zweiten Stadium wird das Sujet in einem Mythos festgehalten. 

Der revolutionäre Aufbruch erstarrt zum Ritus, der Mythos degeneriert zum Märchen.[2] Moderne Gesellschaften haben lediglich die Geschwindigkeit dieses Zyklus erhöht, indem sie die magische Realität des archaischen Rituals durch Symbolpolitik und Gedenkpraktiken ersetzt haben. Mit dieser Beschleunigung haben bereits Staaten zu kämpfen, die ihre Existenz und ihre Legitimität aus der Revolution herleiten.[3] Umso ambivalenter fallen Revolutionsjubiläen in Staaten aus, die ein gespaltenes Verhältnis zu der Revolution und der aus ihr hervorgegangenen sozialen Ordnung haben.

 
   

Mythos, Routine, Manipulationsmasse: Revolutionsgedenken 1927–2007

Die Geschichte der sowjetischen und postsowjetischen Revolutionsjubiläen verläuft wie eine Herzspannungskurve: Das EKG zeigt, wie der revolutionäre Herzschlag immer schwächer wird. Im ersten Jahrzehnt nach der Revolution erhielt diese ihre visuelle Gestalt: der Sturm auf das Winterpalais. Die Szene aus Sergej Ėjzenštejns Film Oktober (1927) wurde im Laufe der folgenden Jahre und Jahrzehnte immer mehr als dokumentarische wahrgenommen. Der zwanzigste Jahrestag der Revolution im Jahr 1937 stand ganz im Zeichen des „verschärften Klassenkampfs im Zuge der Vollendung des Sozialismus“, einer Formel, mit der der Große Terror gerechtfertigt wurde. Die Jubiläen in den Jahren 1947 und 1957 wurden weniger pompös begangen. Im Vordergrund stand nicht das Jahr 1917, sondern nach dem Krieg der Wiederaufbau und nach dem 20. Parteitag der KPdSU 1956 die Entstalinisierung. Der 50. Jahrestag der Oktoberrevolution fiel in eine Zeit der Öffnung und war wohl der letzte, an dem ein größerer Teil der sowjetischen Gesellschaft im Gedenken an die Revolution optimistisch in die Zukunft blickte. Wenige Monate später beendeten sowjetische Panzer den Prager Frühling. Im Laufe der folgenden zwei Jahrzehnte wurde nicht nur die Erinnerung an die Revolution zur bloßen Routine. Es sahen auch immer weniger Menschen einen Zusammenhang zwischen ihrem Alltagsleben und den Ereignissen, die sich mehr als ein halbes Jahrhundert zuvor abgespielt hatten. Am letzten zu sowjetischen Zeiten begangenen Jahrestag der Revolution trafen 1987 auf paradoxe, wenn nicht tragikomische Weise zwei Tendenzen aufeinander. Politisch wiesen sie in eine entgegengesetzte Richtung, doch hatten sie einen gemeinsamen historischen Sinn: Die Staatsführung um Gorbačev versuchte, die Menschen davon zu überzeugen, dass ihre Reformen den revolutionären Anfang des sowjetischen Staates wiederaufnehmen. In der Tat beschleunigte die Perestrojka die soziale Dynamik enorm und schuf so eine revolutionäre Situation. Die ideologische Stoßrichtung der Umwälzungen stand allerdings jenen Ideen, die mit dem Erbe des Oktober 1917 in Verbindung gebracht werden, diametral entgegen.[4]

Nach der Auflösung der Sowjetunion grenzte die Führung des neuen Russland sich zunächst von der Oktoberrevolution ab und stellte sie als Fremdkörper in der Geschichte Russlands dar. Sie sprach von einem Verrat an den nationalen Interessen, von einem historischen Fehler, der Russland vom „normalen“ Weg zur liberalen Demokratie abgebracht und in einen Abgrund der Gewalt geführt habe. Für jenen nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung, der in den 1990er Jahren unter der katastrophalen Wirtschaftslage sowie dem Zusammenbruch der staatlichen Sozialfürsorge litt und dies den Reformen unter El’cin zuschrieb, war die Revolution jedoch ein Symbol, unter dem man sich zum Protest vereinte. Daher änderte der Präsident am 79. Jahrestag der Revolution per Erlass den offiziellen Namen des Feiertags. Statt „Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“ sollte er nun „zum Zwecke der Einigung und Konsolidierung der russländischen Gesellschaft“ den Namen „Tag der Eintracht und der Versöhnung“ tragen.[5] Doch die Präsidentenwahlen im Jahr 1996 zeigten, dass auch eine aggressive Propaganda, die die gesamte sowjetische Vergangenheit als rot-braune Bedrohung für das neue Russland darstellte, einen erheblichen Teil der Bevölkerung nicht davon abbringen konnte, ihre Stimme kommunistischen und nationalpatriotischen Kräften zu geben, die sich auf die sowjetischen Symbole beriefen.

Daher begann die Staatsmacht, geschickter mit einzelnen Fragmenten des etablierten Bilds von der Revolution und der sowjetischen Geschichte zu arbeiten. Sie sorgte nun für kleinere semantische Verschiebungen, indem sie Akzente anders setzte. War ab 1996 noch am alten Datum und zum gleichen Anlass, aber mit umgekehrten erinnerungspolitischen Vorzeichen wie in den Jahrzehnten zuvor ein Feiertag begangen worden, so wurde ein Jahrzehnt später die Verbindung zur Oktoberrevolution weiter gelöst: Im Jahr 2005 war der 7. November erstmals kein gesetzlicher Feiertag mehr. Als Ersatz präsentierte der Staat der Gesellschaft einen patriotischen Feiertag am 4. November, den „Tag der nationalen Einheit“. Dieser bezieht sich auf Ereignisse Anfang des 17. Jahrhunderts, in deren Folge der erste Romanow auf den Zarenthron gelangte und deren Dynastie begründete. In der Begründung zu dem Gesetz heißt es, die Überwindung der Zeit der Wirren (smuta) und die Wiederherstellung der russländischen Staatlichkeit sei nur möglich geworden, weil die russische Landwehr „Moskau von den polnischen Interventen befreit und ein Beispiel von Heldentum und Geschlossenheit des gesamten Volkes ungeachtet der Herkunft, des Glaubens und der Stellung in der Gesellschaft gezeigt hat“. Diese sehr charakteristische Interpretation der Ereignisse postuliert eine unmittelbare Verbindung zwischen einem sozialen Konflikt im Inneren, einer ausländischen Intervention und dem Verlust der staatlichen Souveränität.

Der neue Feiertag bezieht sich somit in zeitlicher Nähe zu dem alten auf ein ganz anderes Ereignis. Er deutet die Revolution nicht mehr neu, er negiert sie. 1996 trat zumindest symbolisch an die Stelle der jubelnden Erinnerung an den Triumph der Revolution und den Auftakt zum Klassenkampf ein Aufruf zu nationaler Versöhnung und Trauerarbeit.[6] Bei dem 2005 eingeführten Feiertag aber geht es nicht mehr um Versöhnung, sondern um nationale Geschlossenheit im Angesicht vermeintlicher äußerer Feinde. Aus dem „Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“ wurde so in zwei Schritten ein Feiertag, der zum nationalpatriotischen Gedenken an die Wiedererrichtung der Staatlichkeit aufruft, an Ereignisse, die jene Ordnung begründeten, die in der Oktoberrevolution gestürzt wurde.


2017: Antirevolutionäre Revolutionserinnerungspolitik

Das Jubiläum zum 100. Jahrestag der Revolution im Jahr 2017 bereitet Russlands Staatsführung erhebliche Probleme. Zwar erinnert außer der magischen Zahl 100 in Russland gegenwärtig kaum etwas an die Lage, die 1917 zu den Revolutionen im Februar und Oktober führte. Gleichwohl fürchtet das Regime jede Erinnerung an die bloße Möglichkeit einer Revolution. Der Kampf gegen eine angebliche revolutionäre Gefahr ist nicht mehr nur eine Propagandastrategie, er entspringt dem Wesen des Regimes.

Die innere Unruhe, die das Regime zu einem gewissen Aktionismus angesichts des bevorstehenden Jahrestags antreibt, hat nichts mit dem konkreten Ereignis von 1917 zu tun. Sie wurzelt in dem allgemeinen Geschichtsverständnis, das dem gegenwärtigen Nationalpatriotismus zugrunde liegt. Sie sitzt tief im Unterbewusstsein der politischen Elite, die sich gezwungen sieht, über ein Ereignis zu sprechen, zu dem sie lieber schweigen würde.

Der Geist der Revolution ist wesentlich vitaler und gefährlicher als das historische Ereignis Oktoberrevolution und dessen konkreter politischer Gehalt. Denn der Geist des Kommunismus, den Marx und Engels 1848 in die Welt entließen, ist aus Russland verschwunden. Man kann sich kaum eine Gesellschaft vorstellen, die weiter von den kommunistischen Ideen und sozialistischen Werten entfernt wäre als die des heutigen Russland. Dies hat nicht zuletzt damit zu tun, dass das herrschende Regime diese Ideen und Werte auf doppelte Weise diskreditiert hat. Zum einen distanziert es sich explizit vom Modell des Sozialismus, das es als ineffizient darstellt. Zum anderen hat es aber einzelne Elemente des historischen Sozialismus aufgenommen, so dass das Putinsche Russland als Abbild des Sowjetstaats gesehen werden kann. Diese Diskreditierung wirkt unmittelbarer und zugleich tiefer, denn sie führt dazu, dass Sozialismus mit dem gleichgesetzt wird, was das heutige Russland kennzeichnet: mit Autoritarismus, Korruption, Allmacht der Bürokratie und Verlogenheit der Eliten.

Ungeachtet dieser doppelten Diskreditierung durch Kritik und selektive Aneignung ist Russland real vor allem deswegen ein Nachfolgestaat der Sowjetunion, weil es von dieser eine technologische, ökonomische und administrative Infrastruktur geerbt hat, die so veraltet ist, dass sie längst eine Gefahr darstellt. Der nationalpatriotische Konsens, den das Regime geschaffen hat, ähnelt hingegen nur oberflächlich der sowjetischen Ideologie. Es fehlt ihm jegliche strategische Orientierung, er hat keinerlei attraktives Gesellschaftsmodell zu bieten. Auch nach innen kennt er keine soziale Mobilisierung, die mit Kampagnen wie etwa jener zur Neulandgewinnung vergleichbar wären, auf die die Sowjetunion bis zum Abgleiten in den spätsowjetischen Konsumismus angewiesen war.

Das eigentliche Ziel der nationalistischen Propaganda des Kreml besteht darin, vor der Bevölkerung und auch vor der Elite zu verbergen, dass sich nahezu alle Bevölkerungsgruppen auf sämtlichen Stufen der sozialen Pyramide in der alltäglichen Praxis an Maximen orientieren, die exakt jenen der globalisierten Welt entsprechen und die der Kreml als Kennzeichen des verderbten Westens darstellt. Die Freuden des Konsums, Konkurrenz um Wohlstandsgüter und der Individualismus stehen viel höher im Kurs als orthodoxer Glaube, aufopfernde Liebe zum Vaterland oder die Unterordnung unter kollektive Imperative zum Zwecke der nationalen Einheit. Daher sind die mythische Verklärung der Vergangenheit und die Schaffung einer heroischen Tradition zum einzigen Mittel geworden, mit dem die innere Leere der patriotischen Idee gefüllt werden kann. Diese Vergangenheit, mit der sich die Menschen identifizieren sollen, ist explizit als Gegenbild zum vorherrschenden Imago vom Westen geschaffen.

Leer ist diese Idee, weil ihr jegliches Konzept von Zukunft abgeht. Zudem vermittelt sie keinerlei Vorstellung, wie die Nation eigenständig zum Nutzen ihres Staates arbeiten soll. Sie verbietet ihr vielmehr, sich als Zivilgesellschaft zu verwirklichen. Wie hohl diese nationalpatriotische Idee ist, zeigt sich daran, dass nicht einmal die Verwirklichung ihrer propagierten Ziele vorgesehen ist: Das Regime fürchtet eine nationalpatriotische Mobilisierung mindestens so sehr wie alle anderen sozialen Bewegungen, über die es die Kontrolle verlieren könnte. Sinn und Zweck dieses Patriotismus bestehen darin, nichts zu tun, nicht zu handeln. Es sollen lediglich Symbole produziert werden. Der ideale Patriot liebt Russland, hasst Amerika, verneigt sich vor der Demonstration von Stärke und verachtet Schwäche. Er ist stolz auf seine Väter und Großväter, deren Fehler und Verbrechen er vergessen hat. Er trägt das Georgsbändchen und verfolgt am 9. Mai die Militärparade. Dies alles aber von seinem Sofa aus, den Blick starr auf den Fernsehapparat gerichtet.

Die Herausforderung, vor die der Jahrestag die Kremlführung stellt, besteht darin, dass die Revolution in ein Geschichtsbild verpackt werden muss, das Revolutionen als solche ablehnt. Die „Große Russländische Revolution der Jahre 1917–1921“ – so die auch die Ereignisse vom Februar 1917 umfassende Bezeichnung in den offiziellen Schulbüchern[7] – soll gleichzeitig als wichtiges Ereignis in der Geschichte Russlands dargestellt und in ihrer Bedeutung darauf reduziert werden, dass sie die Kontinuität der Staatlichkeit Russlands unterbrach, zu einer sozialen Spaltung führte und die nationalkulturelle Tradition zerstörte. Die innere Logik des offiziellen Geschichtsbilds sieht damit so aus: Die Revolution und der Bürgerkrieg haben Russlands Staatlichkeit in eine existentielle Krise gestürzt und dazu geführt, dass es einen erheblichen Teil seines Territoriums verlor. Den Bolschewiki und Stalin ist es jedoch gelungen, die Staatlichkeit Russlands wiederherzustellen, so dass die Grenzen der UdSSR nahezu jenen des vorrevolutionären Russländischen Imperiums entsprachen.

Diese Tatsache sowie der Sieg im Großen Vaterländischen Krieg erlauben es, im Rahmen dieses Geschichtsbilds zumindest in Ansätzen jene zu rehabilitieren, die die Verantwortung für die Revolution des Jahres 1917 und die Krise der Staatlichkeit tragen. Der Spätsozialismus, der immer noch für einen erheblichen Teil der russländischen Gesellschaft im Zentrum ihres nostalgischen Selbstverständnisses steht, erscheint als eine Zeit höchster Einheit, in der es keinerlei soziale oder ethnische Spannungen gab. All dies kann heute in eine scheinbar organische, niemals unterbrochene Tradition einer 1000-jährigen Geschichte des russländischen Staates und der russischen Nation verpackt werden.


„Versöhnung“: Konsenszwang statt Konflikt

Die zentrale Botschaft der „Revolutions“-Feierlichkeiten des Jahres 2017 lautet: Versöhnung. Die Idee, das Revolutionsjubiläum zum Anlass für eine Versöhnung des gesamten Volks, der „Nachkommen der Roten wie der Weißen“, zu machen, folgt konsequent der Politik, die das Putin-Regime seit Mitte der 2000er Jahre verfolgt. Die entscheidenden Wendepunkte waren die Orange Revolution in der Ukraine im Jahr 2004 und die Vorbereitungen auf die Feiern zum 50. Jahrestag des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg 2005.

Seit diesem Moment ging eine wachsende Distanzierung vom Westen, die ihren ersten Höhepunkt in der Rede Putins auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2007 fand, Hand in Hand mit einer immer aufwendiger betriebenen Glorifizierung der Vergangenheit und einer Dämonisierung der Idee der Revolution als Modus des historischen Fortschritts. Der soziokulturelle Rückzug auf den eigenen Raum fordert zwangsläufig eine Kompensation in Gestalt einer neugewonnenen Zeit: der Tradition. Dies beseitigt die Idee des historischen Fortschritts. Jede historische Veränderung kann nur dann gutgeheißen werden, wenn sie als Bewegung zurück verstanden wird, zurück aus der globalisierten Moderne in die Zeit einer angeblich organischen nationalen Gemeinschaft sowie einer größeren Sensibilität für die Souveränität des Staats. Daher kann das Putin-Regime „konservative Revolutionäre“ im Ausland unterstützen, die gegen ihre Regierungen kämpfen, weil diese nach der Pfeife Washingtons tanzen würden, und gegen ihre Eliten, die „die nationalen Interessen an das transnationale Kapital verkaufen“. In Russland selbst jedoch ist die Idee einer konservativen Revolution ebenso illegitim wie jede andere Revolution. Stattdessen hat das Putin-Regime, das von den internationalen Finanzmärkten teilweise abgeschnitten ist und seine Rendite aus dem Staatshaushalt und den Ressourcen des Landes abschöpfen muss, selbst Elemente der konservativen Revolution in seine Rhetorik aufgenommen.

Um die Kontrolle über diese „Revolution“ nicht zu verlieren, gibt das Regime das Motto „Versöhnung“ aus. Ende 2016 klang dies aus dem Munde von Putin so:

Die Lehren der Geschichte benötigen wir vor allem zur Versöhnung, zur Festigung des Konsenses in der Gesellschaft, in der Politik, zwischen den Bürgern. Wir werden es nicht zulassen, dass jemand die Spaltungen, den Groll, die Verletzungen und die Verbitterung der Vergangenheit in unsere heutige Gesellschaft trägt, aus eigennützigem politischem oder anders geartetem Interesse auf die Tragödien der Vergangenheit spekuliert, von denen praktisch jede Familie in Russland betroffen war, auf welcher Seite der Barrikade sich unsere Vorfahren auch befunden haben mögen.[8]

Zweifellos: Die Revolution und der anschließende Bürgerkrieg waren tragische Ereignisse und eine von blutigen Bruderkämpfen zerrissene Gesellschaft benötigt Versöhnung. Aber warum braucht Russlands Gesellschaft 100 Jahre nach den Ereignissen eine Versöhnung zwischen den „Roten“ und den „Weißen“? In Spanien wurde zwei Jahre nach dem Tod Francos im Jahr 1977 der Pakt von Moncloa geschlossen, der Grundlage für eine Zusammenarbeit von Anhängern und Gegnern des alten Regimes war und eine wichtige Rolle für den friedlichen Übergang von der Diktatur zur Demokratie spielte. Zu einem solchen Zeitpunkt war die Überwindung der Spaltung und die Verdrängung der Verbrechen Voraussetzung für die Schaffung eines von allen Seiten anerkannten politischen Raums. Anderthalb Jahrzehnte später entstand jedoch eine gesellschaftliche Bewegung, die einen anderen Umgang mit der Vergangenheit fordert. Wie sehr auch die konservativen Kräfte klagten, „alte Wunden“ dürften nicht aufgerissen werden, wurden doch die republikanische Revolution, der Bürgerkrieg und die Repressionen des Franco-Regimes zu zentralen Themen der öffentlichen Debatte.[9]

In Russland ist es jedoch umgekehrt: Immer lauter erklingt in den vergangenen Jahren die Forderung, man müsse vergessen. Jegliche authentische gesellschaftliche Debatte über die Revolution – sowie über den Terror unter Stalin oder auch über Aspekte der Geschichte des Zweiten Weltkriegs, die nicht in die offizielle heroische Erzählung passt – wird verhindert. Das „therapeutische Vergessen“ hat zweifellos eine lange Tradition und manchmal seine Berechtigung.[10] Doch in Russland geht es um etwas anderes: Je mehr die mündliche Weitergabe lebendiger Erinnerung – das „kommunikative Gedächtnis“ (Jan Assmann) – verschwindet, das tatsächlich Stoff für eine innergesellschaftliche Auseinandersetzung bieten würde, desto mehr warnt die staatliche Erinnerungspolitik vor einem solchen Konflikt. Eine offene Diskussion über die Vergangenheit soll abgewürgt und ein Monopol über die Geschichte geschaffen werden. Der Staat alleine soll zur Errichtung seiner patriotischen Hegemonie auf diese zurückgreifen können.[11]

Daher meinen Putin und die anderen Vertreter des Regimes natürlich eine ganz andere Versöhnung und einen ganz anderen Konsens. Die Vergangenheit ist nur vorgeschoben. Es geht nicht um die „Tragödien, von denen praktisch jede Familie in Russland betroffen war“, sondern um aktuelle Konflikte in der Gesellschaft. Die beharrlichen Aufrufe zur „Versöhnung“ sind nur dann zu verstehen, wenn man hört, wie in den Worten zur Revolution von 1917 die Erinnerung an die „samtenen Revolutionen“ von 1989 mitschwingt, die den sowjetischen Block zusammenbrechen ließen, an den Zerfall der Sowjetunion 1991, den Putin bereits in diesem Jahr selbst in Zusammenhang mit der Oktoberrevolution brachte und als Tragödie bezeichnete,[12] an die Farbrevolutionen im postsowjetischen Raum und zuletzt an den Kiewer Majdan. Es geht nicht nur darum, eine bestimmte Deutung einer konkreten Revolution durchzusetzen. Jede Form oppositioneller Tätigkeit soll diskreditiert und mit dem Stigma zerstörerischer revolutionärer Tätigkeit belegt werden.[13]

Der Staat verbreitet mit der Erinnerung an die Revolution eine antirevolutionäre Botschaft. Die Revolution, die den Zaren und anschließend eine bürgerliche Regierung stürzte, muss dafür herhalten, die Macht des neuen „nationalen Führers“ und seines Regimes zu stärken.[14] Jede Form von Kritik am heutigen Regime wird in den Kontext des Bürgerkriegs von 1917–1921 gestellt und so als Bedrohung des gesellschaftlichen Friedens diffamiert. Wer in der Vergangenheit des Landes etwas anderes entdeckt als ein Lehrstück für Loyalität zum herrschenden Regime, wird beschuldigt, die Geschichte zu politisieren und aus egoistischen Motiven die Interessen des Landes zu verraten. Die Politisierung der Geschichte durch den Staat tritt im Gewande einer Kriegserklärung an all jene auf, die angeblich die Geschichte politisieren wollen.[15]

Je mehr Farbrevolutionen in den Nachbarstaaten Russlands stattfanden, desto besessener reagierte Russlands Elite mit konterrevolutionärem Eifer.[16] Die kleinste Protestbewegung kann diesen Dämon wecken. Dies hängt auch damit zusammen, dass diese Elite mit dem Trauma ihrer eigenen Geburt lebt. Sie ist selbst ein Kind der sozialen Mobilisierung gegen die herrschende Parteielite während der Perestrojka.[17] Bereits die El’cin-Elite fürchtete eine neue soziale Mobilisierung. Die Putin-Kohorte hat es sich zur zentralen Aufgabe gemacht, eine solche zu verhindern. Jeder gesellschaftliche Aufbruch in einem der Nachbarstaaten Russlands bringt das Trauma erneut an die Oberfläche. Am Horizont erscheint immer wieder die Perestrojka, zu der die herrschende Elite und auch ein Teil der Gesellschaft ein gespaltenes Verhältnis haben. Gorbačevs Politik führte zur Destabilisierung und zum Zerfall der Sowjetunion und steht damit in diametralem Gegensatz zu dem patriotischen Aufruf zu Ruhe und Ordnung. Gleichzeitig leugnet die Elite mit der Diskreditierung der Perestrojka die Stunde ihrer Geburt.

Die heutigen Repräsentanten und Nutznießer des Machtstaats waren nicht die Akteure der Perestrojka. Sie nutzten ihre Folgen, den Zerfall eines Staates und die Schwäche des Nachfolgestaats, um im Laufe der 1990er Jahre in die höchsten Etagen der Macht aufzusteigen. Ohne die Perestrojka wäre ihr Karriereweg, der in den Strukturen der Kommunistischen Partei und der sowjetischen Akademie der Wissenschaften begann, wesentlich länger gewesen. Die Schlüsselfiguren dieses Staats, die ihre Karriere im Geheimdienst und anderen Gewaltorganen begannen, wären nie in ihre Spitzenpositionen gelangt. Die Rekrutierungsmechanismen der Sowjetunion waren andere, Andropov eine Ausnahme.[18] Vor allem aber wäre es ihnen ohne die Perestrojka selbst in höchsten Ämtern nicht möglich gewesen, politisches Kapital in Finanzkapital zu verwandeln, Macht und Eigentum in einer Hand zu konzentrieren. Dies erlaubte erst die auf die Perestrojka folgende postrevolutionäre Transformation, die Anomie von Staat und Gesellschaft in den 1990er Jahren. Diese ungeplante Folge des revolutionären Umbruchs führte dazu, dass Angehörige der Gewaltministerien in Schlüsselpositionen des gesamten Staatsapparats vorrücken konnten.[19] Doch festigen konnten diese ihre Stellung nur durch eine bonapartistische Reaktion. Sie erklärten die Revolution für beendet und blockierten jede Art von sozialer Mobilität. Mittlerweile fasst das Regime nahezu jede Form von Kritik als Aufruf zur Revolution auf. Wer der patriotischen Logik nicht folgt, wird zum Volksfeind und Verräter erklärt, der im Namen des Westens handele. Vieles spricht dafür, dass das Regime seine selbstgeschaffenen paranoiden Vorstellungen nicht mehr loswird.

Verschwörungstheorien zur Oktoberrevolution gab es bereits im Jahr 1917 selbst. Lenin und die Bolschewiki seien ausländische Agenten gewesen, die im Auftrag des Deutschen Reichs handelten. Bezeichnend ist, dass Politiker der Übergangsregierung dies verbreiteten, die selbst noch wenige Monate zuvor von Anhängern des Zaren bezichtigt worden waren, sie hätten die Monarchie im Interesse Großbritanniens und der USA zu Fall gebracht. Heute wird allen Regimekritikern unterstellt, sie seien Agenten des Westens, wollten die territoriale Integrität Russlands zerstören oder mindestens Russlands Einfluss im postsowjetischen Raum schmälern.[20]

Jeder Art des Protests wird daher mit einer medialen und strafrechtlichen Teufelsaustreibung begegnet. Von exorzistischer Rhetorik war bereits der Kampf des Regimes gegen die Protestbewegung im Winter 2011/2012 geprägt. Dies war umso absurder, als die überwiegende Mehrheit der Demonstranten einer Revolution komplett abgeneigt war. Sie gehörten dem bürgerlichen urbanen Milieu an, waren an keinerlei radikalen sozialen Umgestaltungen interessiert und wollten weder die freie Marktwirtschaft noch das Privateigentum abschaffen. Dennoch macht es der antirevolutionäre Konsens[21] in der breiten Gesellschaft dem Regime leicht, bei dieser Unterstützung zu finden für den Kampf gegen die revolutionäre Gefahr, die von der Protestbewegung und jeglicher Opposition angeblich ausgehe.

Eine Brücke ins Imperium

In das Jahr 2017 fällt nicht nur der 100. Jahrestag der Revolution. Auch das Moskauer Patriarchat feiert ein Jubiläum. Peter der Große hatte es 1721 aufgehoben, unmittelbar nach der Oktoberrevolution wurde es wiedererrichtet. Da der Sturz der Monarchie und der Zusammenbruch des Russischen Reichs nicht in das nationalpatriotische Geschichtsbild passen, versucht das Putin-Regime, den Jahrestag der sozialistischen Revolution hinter dem der Restituierung der kirchlichen Autonomie verschwinden zu lassen. Der Schuss aus der Bugkanone des Panzerkreuzers Aurora, der das Signal zu dem bewaffneten Aufstand am 25. Oktober 1917 gab, wird von den Glocken der Isaakskathe­drale übertönt werden, die nach einem Anfang Januar 2017 bekannt gegebenen Beschluss des Gouverneurs von St.-Petersburg ungeachtet zahlreicher Proteste der Orthodoxen Kirche übergeben wird.[22]

Die wichtigste Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart wird jedoch, wie es sich gehört, auf der Krim errichtet. Dort soll am 4. November – also nicht am Jahrestag der Revolution, sondern am Tag der nationalen Einheit – ein Denkmal der Versöhnung eingeweiht werden. Oberflächlich betrachtet verweist es auf die Kämpfe zwischen der Roten Armee und der Russischen Armee unter General Vrangel’ im Herbst 1920, die mit der Niederlage der Weißen Bewegung und ihrer Flucht in die Emigration endeten. Tatsächlich aber geht es um ein ganz anderes Ereignis: die Annexion der Krim. Der Ort, an dem das Russländische Imperium endgültig zusammenbrach, wird zu jenem stilisiert, an dem dieses symbolisch wiederaufersteht. Die Russische Revolution hat einen historischen Zyklus durchlaufen und ist an ihren Ausgangspunkt zurückgelangt.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin

 


·   Ilja Kalinin (1975), PhD, Historiker, Kulturwissenschaftler, Associate Professor an der Fakultät für Freie Künste und Wissenschaften, Staatliche Universität St.-Petersburg

[1]   Evreinov vertrat bereits vor 1917 eine Theorie über die „Theatralisierung des Lebens“ und empfahl Gesellschaften eine „Theatertherapie“: Das Theater sei mit Kräften ausgestattet, die in der Lage seien, die sozialen Beziehungen zu verändern; I. Čubarov: „Teatralizacija žizni“ kak strategija politizacii isskustva. Povtornoe vzjatie Zimnego dvorca pod rukovodstvom N.N. Evreinova (1920 god), in: Ch. Gjunter (Hans Günther), S. Chėnsgen (Sabine Hänsgen) (Hg.): Sovetskaja vlast’ i medija. SPb 2006, S. 281–295.

[2]   Vladimir Propp: Istoričeskie korni volšebnoj skazki. Leningrad 1986; dt. Ausgabe: Die historischen Wurzeln des Zaubermärchens. München 1987. – Eleazar Meletinskij: Poėtika mifa. Moskva 1976; engl. Ausgabe: The Poetics of Myth. London, New York 1998.

[3]   Wie der Widerspruch zwischen den utopischen Erwartungen und der Realität des neuen Alltags besonders an den Jahrestagen der Revolution tiefste Enttäuschung hervorrief, beschreibt am Beispiel des ersten Jahrzehnts nach der Französischen Revolution Mona Ozouf: La Fête révolutionnaire, 1789–1799. Paris 1976. „Der Feiertag will spontan und frei sein, doch er wird von Vorsichtsmaßnahmen und Zwang überwuchert; er teilt ständig Menschen in Kasten ein, in Auserwählte und Ausgestoßene, obwohl doch alle zu einem Ganzen verschmolzen werden sollten; er verwandelt sich in eine Parodie und endet in der Leere. Zitiert nach der russ. Ausgabe; Mona Ozuf: Revoljucionnyj prazdnik, 1789–1799. Moskva 2003, S. 21.

[4]   Artemij Magun: Otricatel’naja revoljucija: K dekonstrukcii političeskogo sub”jekta. SPb 2008; engl. Ausgabe: Artemy Margun: The Negative Revolution. Political Subjectivity After the End of the Cold War. London 2013.

[5]   Ukaz Prezidenta Rossijskoj Federacii ot 7 nojabrja 1996 goda No. 1537 „O dne soglasija i primirenija“, <www.kremlin.ru/acts/bank/10231>. In dem Erlass heißt es, dass der Name geändert werde, um „zukünftige Auseinandersetzungen zu verhindern“. Es ging somit eindeutig um politische Zwecke, dem Tag sollte das Potential zur Mobilisierung genommen werden.

[6]   Die Erinnerungspolitik unter El’cin hatte durchaus auch eine andere Seite. Der neue Feiertag sollte auch Verwirrung schaffen, für Desorientierung sorgen und auf diese Weise eine Demobilisierung an dem als gefährlich erachteten Tag der Oktoberrevolution erreichen. So wurde zwar formal zu „Trauerarbeit“ aufgerufen, faktisch aber blieb es bei rein formalen, vollkommen oberflächlichen Verschiebungen wie der bloßen Umbenennung des Gedenktages. Ein beredtes Beispiel lieferte die ehemalige El’cin-Beraterin Ljudmila Pichoja, die berichtet, wie in der von Anatolij Čubajs geleiteten Präsidialadministration die Idee aufkam, man könne mal den Namen des Tages ändern; Pribavlenie Smuty. Čto my budem prazdnovat’ 4 nojabrja. Rossijskaja gazeta, 4.11.2004, <https://rg.ru/2004/11/04/prazdnik.html>.

[7]   Koncepcija novogo učebno-metodičeskogo kompleksa po otečestvennoj istorii. Moskva 2013, S. 46. Diese Umbenennung erlaubt es, eine Diskussion über den Begriff „sozialistisch“ zu verhindern und die Revolution, die früher als ein Ereignis gedacht wurde, das den Strom der Geschichte unterbrach, in einen Prozess aufzulösen und damit leichter in die Vorstellung von einer „ununterbrochenen Geschichte Russlands“ einzuordnen, „in der alle ihre Epochen miteinander in Beziehung stehen“. So Vladimir Putin auf einer Sitzung des Rats für zwischennationale Beziehungen; Zasedanie Soveta po mežnacional’nym otnošenijam, <www.kremlin.ru/ events/president/news/17536>.

[8]   Poslanie Prezidenta Federal’nomu Sobraniju, 1.12.2016, <www.kremlin.ru/events/ president/ news/53379>. Ähnlich äußern sich zahlreiche Vertreter des Regimes. Die Vorsitzende des Föderationsrates Valentina Matvienko etwa erklärte, die Diskussion über die Vergangenheit dürfe nicht „Zwist und Konflikt zum Ziel haben“, vielmehr solle sie zu einer „Versöhnung“ jener führen, die unterschiedliche Ansichten von der Revolution hätten. Diese und andere offizielle Stellungnahmen der wichtigsten mit den Vorbereitungen zu den Jubiläumsfeierlichkeiten betrauten Personen werden zitiert in: Revoljuciju otmetjat mirno. Kommersant”, 20.12.2016, <www.kommersant.ru/doc/3176519>.

[9]   Daniele Conversi: The smooth transition: Spain’s 1978 Constitution and the nationalities question, in: National Identities, 3/2002, S. 223–244. – Paul Preston: The Triumph of Democracy in Spain. London 2001. – Ulrike Capdepon: Der öffentliche Umgang mit der Franco-Diktatur, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 36–37/2010, S. 33–38.

[10]  Christian Meier: Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns. Vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit. München 2010. Der Althistoriker Meier geht zurück bis zum Peleponnesischen Krieg. – Zur historischen Dynamik von Erinnerung und Vergessen siehe Aleida Assmann: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention. München 2013; russische Ausgabe: Alejda Assman: Novoe nedovol’stvo memorial’noj kul’turoj. Moskva 2016, S. 193–217.

[11]  Ausführlicher dazu Il’ja Kalinin: Prošloe kak ograničennyj resurs: istoričeskaja politika i ėkonomika renty, in: Neprikosnovennyj zapas, 2/2013, S. 200–214.

[12]  Im Jahr 1991, als Putin unter dem Leningrader Bürgermeister Anatolij Sobčak Vorsitzender der Abteilung Außenbeziehungen der Stadtverwaltung war, führte der bekannte Dokumentarfilmer Igor’ Šadchan Interviews mit Sobčak und seinen Mitarbeitern. In einem dieser Interviews erklärt Putin, dass die Bolschewiki eine Zeitbombe unter das Gebäude des Russländischen Einheitsstaats gelegt hätten und daher für die „heutige Tragödie“, den Zerfall „unseres Staates“, also der Sowjetunion, verantwortlich seien. Der Ausschnitt ist zu sehen unter: <www.youtube.com/watch?v= AFj09pGULT0>, die entsprechende Stelle: Min. 1.50–2.45.

[13]  In den Äußerungen von Kulturminister Vladimir Medinskij ist dies noch viel deutlicher zu hören, wenn er etwa dazu aufrief, sich bewusst zu machen, „welche Tragödie eine gesellschaftliche Spaltung bedeutet“ und „was für ein Fehler es ist, in einer innenpolitischen Auseinandersetzung auf ausländische ‚Verbündete‘ zu setzen“. Zitiert nach: Oktjabr’ vperedi, Kommersant”-Vlast’, 12.12.2016, <www.kommersant.ru/doc/3163935>.

[14]  Ein Berater des Vorsitzenden der Staatsduma, der Politikwissenschaftler Aleksej Čadaev, erklärte in einem Gespräch mit Journalisten über mögliche Feierlichkeiten zum 100. Jahrestag der Februarrevolution, dass die Duma wohl Schwierigkeiten haben werde, an dieses Ereignis zu erinnern, da „die Duma im Februar 1917 den Zaren zum Abdanken drängte, eine Rolle, die der heutigen Duma wohl kaum gefällt.“ Zitiert nach: ebd.

[15]  Nach der gleichen Logik findet auch der „Kampf gegen Korruption“ statt. „Korruptionsbekämpfung“ ist das Mittel, mit dem die korrupte Elite ihre Gegner bekämpft.

[16]  Vielleicht zufällig, aber gewiss symptomatisch ist, dass die endgültige Entscheidung über die Einführung des „Tags der Einheit“ am 29. Dezember 2004 fiel, wenige Tage nach der Orangen Revolution in Kiew. Darauf wies zuerst Vladislav Inozemcev hin: Razdvoenie soznanija. Nezavisimaja gazeta, 7.11.2012.

[17]  Siehe dazu Il’ja Kalinin: Antirevoljucionnyj ekzorcizm, in: Neprikosnovennyj zapas, 5/2013, S. 130–138.

[18]  Jurij Andropov (1914–1984) war von 1967 bis 1982 KGB-Chef, bevor er von November 1982 bis zu seinem Tod im Februar 1984 Generalsekretär des ZK der KPdSU wurde.

[19]  Zur Logik der Rekrutierung der Männer aus den Gewaltministerien siehe Ol’ga Kryštanovskaja: Anatomija rossijskoj ėlity, Moskva 2004, insbes. S. 264–282.

[20]  Dass der Leiter des Auslandsgeheimdienstes (Služba vnešnej razvedki) Sergej Naryškin – 2011–2016 Präsident der Staatsduma – in seiner Funktion als Vorsitzender der 2012 vom Staat geschaffenen Russländischen Historischen Gesellschaft (Rossijskoe istoričeskoe obščestvo) mit der erinnerungspolitischen Steuerung des Revolutionsjahres betraut ist, erscheint vor diesem Hintergrund so symptomatisch wie komisch. Es ist, als käme in ihr das unbewusste Verhältnis des Regimes zur Oktoberrevolution zum Ausdruck.

[21]  Hinter diesem Konsens stehen durchaus unterschiedliche Vorstellungen und Motive; siehe dazu Ol’ga Malinova: Aktual’noe prošloe: simvoličeskaja politika vlastvujušej ėlity i dilemmy rossijskoj identičnosti. Moskva 2015, S. 32–88.

[22]  Eine Chronik der Ereignisse unter <https://ria.ru/trend/Isaac_cathedral_11012017>.

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