Editorial
Arseny Roginsky: work and legacy
Deutsche Fassung
Abstract
„Hat der Mensch“, so fragte der russische Historiker Arsenij Roginskij, „unveräußerliche Rechte? Hat er das Recht auf einen Namen? Ja. Und hat er das Recht auf ein Grab? Ja, ebenfalls.“ Mit Blick auf die Geschichte der Sowjetunion fuhr er fort: „Wer einem Menschen diese Rechte nehmen will, ist böse und verkörpert das absolut Böse. Das sind die, die ihre staatlichen Morde heimlich begingen und über Jahrzehnte logen, dein Vater sei verurteilt zu zehn Jahren ohne Recht auf Briefverkehr. Dabei war er längst erschossen.“ Eine Million Menschen wurden in der Sowjetunion aus politischen Motiven zum Tode verurteilt und erschossen, vier Millionen in Lager und Kolonien deportiert, aus denen Hunderttausende nicht zurückkehrten. Weitere mindestens sechs Millionen Menschen wurden Opfer von Kollektivrepressionen, sie wurden alleine wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe ohne Urteil in lebensfeindliche Gegenden des Landes deportiert. Diese Opfer des Terrors dem Vergessen zu entreißen und ihnen das Minimum an Würde zurückzugegeben, war die Lebensaufgabe von Arsenij Roginskij. Wahrheit und Erinnerung lautete sein Motto. Arsenij Roginskij war selbst ein Kind des Gulag. Sein Vater war 1938 zu Lagerhaft verurteilt worden. Auf die Haftzeit folgte die Verbannung. Im Lagerkrankenhaus einer Strafkolonie im Gebiet Archangel’sk wurde Arsenij 1946 geboren. Früh machte er die Erfahrung, Opfer von Willkür und staatlicher Gewalt zu sein. 1951 wurde sein Vater ein zweites Mal zu Lagerhaft verurteilt. Er starb im Lager, die Behörden verschleierten den Tod. Dies schärfte Roginskijs Bewusstsein für die Lüge und die Angst als Mittel der Macht. Der Keim für die Suche nach der Wahrheit war gelegt. Als Historiker studierte er das Schicksal von Sozialrevolutionären und anderen Gegnern der Bolschewiki, die im ersten Lager unter Sowjetherrschaft auf den Soloveckij-Inseln inhaftiert gewesen waren. Mit Leidenschaft sammelte er persönliche Quellen und mündliche Überlieferungen, immer auf der Suche nach der historischen Wahrheit und unerschrocken im Kampf gegen Manipulation und Zensur. Federführend wirkte er an der Herausgabe einer unabhängigen Publikation mit, die natürlich nur im Samizdat, im Selbstverlag, und danach im Ausland erscheinen konnte. Nicht zufällig trug sie den Namen Pamjat’ – Erinnerung. Schnell wurde der KGB auf Roginskij aufmerksam. Er wurde festgenommen und 1981 wegen „ungesetzlichen Gebrauchs von Bibliotheken und Archiven“ sowie „Fälschung von Dokumenten“ zu vier Jahren Lagerhaft verurteilt. Roginskij, den Aleksandr Solženycins Archipel Gulag elektrisiert hatte, musste nun selbst eine Reise durch die Welt der Lager antreten. Sie endete 1985, im selben Jahr, als Michail Gorbačev Generalsekretär der KPdSU wurde und die Perestrojka bahnbrechende Veränderungen in Gesellschaft und Politik ermöglichte. In dieser Periode gründeten der Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharov, der Historiker Jurij Afanas’ev, Elena Žemkova, Arsenij Roginskij und andere Engagierte die Gesellschaft Memorial – Zur Erinnerung an die Opfer der Repressionen. Von Anfang an verfolgte Memorial drei Ziele. Die Aufarbeitung der Geschichte des Terrors und der Repressionen in der Sowjetunion, die rechtliche und soziale Rehabilitierung der Opfer sowie den Schutz der Menschenrechte im heutigen Russland. Binnen kurzem entwickelte sich Memorial zur größten unabhängigen Organisation Russlands und besteht heute aus mehr als 60 regionalen Organisationen und Ablegern im Ausland. Seit 1996 wirkte Arsenij Roginskij als Vorstandsvorsitzender von Memorial International. Memorial hat in den drei Jahrzehnten seiner Existenz Enormes geleistet. Der vorliegende Band dokumentiert dies nicht zuletzt in Texten, die Arsenij Roginskij in vielen Jahren verfasst hat und die hier größtenteils erstmals auf Deutsch erscheinen. Auf maßgebliches Betreiben von Arsenij Roginskij hat Memorial ein einzigartiges Archiv aufgebaut. Es enthält Hunderttausende Zeugnisse des Leidens und der Würde von Menschen, die Opfer von staatlicher Gewalt wurden. Das Archiv ist die Herzkammer der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Vergangenheit, die sich in Dokumentationen, Publikationen, Ausstellungen und Katalogen niederschlägt. Memorial hat Millionen Opfern des Terrors ihren Namen zurückgegeben. Entsprechende Datenbanken enthalten heute Lebensgeschichten von über 2,5 Millionen Menschen. Memorial hat den Anstoß gegeben, das Schicksal der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, die ins nationalsozialistische Deutschland verschleppt wurden, zu erforschen und zu dokumentieren. Dies trug dazu bei, dass Deutschland sich im Jahr 2000 endlich entschloss, Entschädigungen zu zahlen. Gemeinsam mit polnischen Kolleginnen und Kollegen des Zentrums Karta erarbeitete Memorial eine Dokumentation des Massakers von Katyń. Leitgedanke dieser Arbeit ist, wie Roginskij es formulierte, dass „die tägliche Verantwortung des einzelnen Bürgers und das historische Gedächtnis der Nation unabdingbar zusammengehören. Diese Vorstellung von staatsbürgerlicher Verantwortung ist unauflösbar mit der aktuellen Menschenrechtsarbeit verbunden.“ Die herausragende Arbeit von Memorial ist nur möglich, weil in ihren Reihen so kluge wie mutige, so engagierte wie eigensinnige Köpfe wirken, die viel zu oft wieder mit ihrer Freiheit oder gar ihrem Leben dafür bezahlen. Der spiritus rector von Memorial, Arsenij Roginskij, ist am 18. Dezember 2017 gestorben. Er hinterlässt ein beeindruckendes Vermächtnis und die Aufgabe, weiter an seinem Lebensziel zu arbeiten: die Vergangenheit in der Gegenwart zu überwinden.
Berlin, im Januar 2018
Manfred Sapper, Volker Weichsel
(Osteuropa 11-12/2017, pp. 34)