Eine peinture naïve des Kommunismus
(Osteuropa 8-10/2016, S. 465)
Volltext
Platonov – eine meiner erschütterndsten Entdeckungen in der russischen Literatur. Weder Bulgakov, Pilnjak noch Babel’ haben mich so tief berührt. 1971 las ich Die Baugrube in der Übersetzung von Aggy Jais, 1973 Unterwegs nach Tschewengur, in Swetlana Geiers Übertragung, danach alles, was mir in die Hände kam. Eine 1979 in Leningrad erschienene Ausgabe, die unter anderem die Langerzählungen Džan und Die Epiphaner Schleusen enthielt, bot Gelegenheit, mich in Platonovs Russisch zu vertiefen, eine Sprache, die völlig einzigartig ist: gewoben aus verfremdetem Parteijargon, Wissenschaftsterminologie und poetischen Metaphern, aus Neologismen, Tautologien und belebten Abstrakta. Platonov nimmt die revolutionäre Heilslehre so wörtlich, dass sie sich tragikomisch ad absurdum führt. Seine „unerschlossenen Menschen“ und „vergesellschafteten Pferde“ laborieren mit gleichem Ernst an der Utopie eines besseren Lebens, doch sie scheitern am eigenen Atavismus oder an der seelenlosen Bürokratie der Revolutionsverwalter. Nur Platonov gelingen solch markerschütternd lapidare Sätze: „Am Morgen gingen Sascha und Sachar Pawlowitsch in die Stadt. Sachar Pawlowitsch suchte sich die seriöseste Partei, um sofort einzutreten. Alle Parteien waren in einem amtlichen Haus untergebracht, und jede hielt sich für die beste. Sachar Palowitsch mass die Parteien mit seiner Elle (…). Nirgends konnten sie ihm auf den Tag genau sagen, wann die irdische Glückseligkeit anbrechen würde.“ Eine peinture naïve des Kommunismus? Die Naivität ist nur scheinbar, die Trauer umso grösser. Platonov ist ein luzider Melancholiker, der seine Antihelden – Lokomotivführer, Bettler, Kinder, Soldaten, „Sandlehrerinnen“ – suchend und fragend durch ein unwirtliches Leben treibt, als seien „das Gute und das Glück für sie zu einer schwe-ren Arbeit geworden“. Messianische Zuversicht endet in Leerlauf, Lethargie und grandioser Tristesse.
Diese ist umso grösser, als auch die Natur leidet. Platonov beseelt sie, macht sie zum Subjekt wie Hunger und Armut. Es gibt den „schwermütigen Lehm“ und die „von den Mühen ihres Wanderlebens“ müde Kollerdistel, so wie es die „passive Schwermut der Kolchose“ gibt. In der Horizontale der „Lebensmelancholie“ verflüchtigt sich jeder Sinnhorizont. Und so mancher „Paradiesschaufler“ fällt vor Entkräftung tot um.
Aber wie Platonov dies erzählt, ist gewaltig. Gewaltig und erschütternd. So fühlt sich implodierte Hoffnung an, wenn sie zu Sprache wird.