Titelbild Osteuropa 7-10/2015

Aus Osteuropa 7-10/2015

Baku zwischen Orient und Okzident
Der Islam in der postsowjetischen Stadt

Sevil Huseynova

Volltext als Datei (PDF, 1 MB)


Abstract in English

Abstract

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetherrschaft, die alle Religionen bekämpft hatte, kam es im unabhängigen Aserbaidschan zur Rehabilitation des Islam. In der Hauptstadt Baku wurden zweckentfremdete Moscheen restituiert, andere renoviert, neue gebaut. Der Islam ist in den öffentlichen Raum zurückgekehrt. Gleichzeitig betont das Regime den säkularen Charakter des Landes, versucht Kontrolle über alle Gläubigen zu bekommen, bekämpft radikale Strömungen und plädiert für einen „weltlichen Islam“ als nationale Tradition. Für Muslime ist das Nonsens. Die Stadt als ein Ort des Nebeneinanders unterschiedlicher Lebensweisen gerät unter Druck.

(Osteuropa 7-10/2015, S. 569–586)

Volltext

Baku, Anfang des 20. Jahrhunderts, am südlichen Rand des Russischen Imperiums. Der Lehrer eines russischen Gymnasiums erzählt seinen Schülern, dass das „Schicksal“ der Stadt nicht entschieden sei. Baku könne sich noch in eine „europäische“ und „zivilisierte“ Stadt verwandeln, aber auch genauso gut eine Stadt im „rückständigen“ Asien bleiben. Diese Wahl müsse von den Schülern selbst getroffen werden. Zur Verwunderung und zum Missfallen des Lehrers wollen jedoch zwei von ihnen, beide Muslime, weiter zu Asien gehören. Einer der beiden, einer der besten Schüler des Gymnasiums, ist Ali-Xan Şirvanşir. Seine Haltung stieß in den Reihen aller übrigen Muslime, die in der Klasse bei weitem die Mehrheit stellen, auf Verständnis. In der Pause bekam Ali-Chan jedoch von einem georgischen, christlichen Mädchen, in das er seit der Kindheit verliebt war, zu hören: „Gott sei Dank, dass wir in Europa sind. Wären wir in Asien, hätte ich schon längst einen Tschador tragen müssen, und du hättest mein Gesicht nie gesehen.“ Und Ali-Chan war „restlos geschlagen“.[1]

Für das Europäische, das zu Beginn des letzten Jahrhunderts in Baku präsent war, stehen hier der russische Lehrer und die georgische Schülerin, Vertreter der Eliten des Reiches, die ihre Rolle in den muslimischen ehemaligen Khanaten als eine zivilisatorische Mission verstanden.[2] Der dominierende Orient – repräsentiert durch die Mehrheit der Schüler und durch Şirvanşir, der sich durch Charisma und Verstand auszeichnet, aber auch durch Impulsivität und die Unfähigkeit, mit den eigenen Erwartungen zurechtzukommen, und der zwischen zwei Welten hin- und hergerissen ist – das ist eine Welt der Muslime. In dieser Welt ist das weibliche Gesicht nicht zu sehen.

So beginnt Ali und Nino, der im modernen Aserbaidschan bekannteste Roman, der erstmals 1937 in Wien in deutscher Sprache erschien. Das Thema Baku oder weiter gefasst Aserbaidschan zwischen Orient und Okzident zieht sich durch das gesamte Werk. Glaubt man dem Autor,[3] waren die geographischen und zivilisatorischen Koordinaten von Baku bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts in intellektuellen Kreisen Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen. Mit der Errichtung der Sowjetherrschaft schienen Dispute dieser Art der Vergangenheit anzugehören: Sie schienen endgültig zugunsten von Baku als „Vorposten des Sozialismus im Orient“ entschieden.[4] Die Veränderungen, die sich nun in Baku vollzogen, waren das Ergebnis einer sowjetischen Modernisierung, die auch als Europäisierung verstanden werden konnte. Bereits Ende der 1920er Jahre galt Baku als ein Beispiel für die erfolgreiche Transformation einer orientalischen muslimischen Stadt zur modernen, säkularen Stadt, der Hauptstadt der Aserbaidschanischen SSR. Die Qualität und die Tiefe dieser Transformation waren im Vergleich mit anderen, weniger erfolgreichen Hauptstädten des Ostens fassbar, kaum jedoch im Vergleich mit europäischen Städten.

1990 erschien Ali und Nino erstmals auf Aserbaidschanisch. Die aserbaidschanischen Leserinnen und Leser sollten kurz darauf den Zerfall des sowjetischen Imperiums erleben und die Schwierigkeiten erfahren, die mit der Unabhängigkeit Aserbaidschans verbunden waren. Es begann die Zeit der „Rückkehr zu den Wurzeln“ und „zu unseren Traditionen“. Das bedeutete auch die Rehabilitation des Islam. In dieser Zeit wurde die Frage nach der „zivilisatorischen Zugehörigkeit“ Bakus von neuem aktuell.

„Der europäische Zauber des Orients“

Im Jahr 2002 verkündete die aserbaidschanische Führung ihren Wunsch, ein „Staatliches Programm zur Entwicklung des Tourismus“ umzusetzen.[5] Eine der Hauptrichtungen sollten Investitionen in eine breit angelegte Werbekampagne für das Land und seine Hauptstadt Baku sein. Mit staatlicher Unterstützung wurden Werbespots und Dokumentarfilme gedreht, mit denen dem Land und der Stadt das Image eines besonderen soziokulturellen Raumes zugeschrieben werden sollte, der sich zwischen zwei Welten befindet oder diese vereint. Zum Gesicht des Landes wurde Leyla Aliyeva, die älteste Tochter des amtierenden Präsidenten; sie wurde in einem der bekanntesten Clips gezeigt, die seit 2010 auf CNN und Euronews liefen. Im Geiste traditioneller kolonialer Exotisierung lautete der Slogan des Clips: „Aserbaidschan – der europäische Charme des Orients“.[6] Dieser Satz wurde, wenn auch des Öfteren in sinngleichen Varianten, zur Visitenkarte des Landes.[7] Die Metapher „Aserbaidschan ist eine Brücke zwischen Ost und West“ wurde zum Titel eines Buches aus russischer Feder.[8] In der Wahrnehmung der ehemaligen Metropole des Imperiums gilt die südliche Peripherie fast ein Vierteljahrhundert nach dem Zerfall der UdSSR immer noch als „nicht vollends europäisierter Orient“.

Baku als Hauptstadt eines Landes, das im Diskurs in der Grauzone zwischen den Welten verortet wird, gerät zu einem komprimierten Raum, in dem die Spezifik einer solchen Lage am Verbindungspunkt zweier unterschiedlicher Welten am deutlichsten hervortritt. Der populärste Werbespot, der für die Ersten Europaspiele 2015 gedreht wurde, paraphrasiert den Vorgänger: „Baku – where East meets West“.[9] Wenn Aserbaidschan oder Baku als Ort der Begegnung zweier unterschiedlicher „Zivilisationen“ dargestellt werden, ist die Metapher einer Brücke als verbindender Konstruktion und gleichzeitig als Grenzübergang von einer Welt in die andere auch ein direkter Hinweis auf die erfolgreiche Übernahme des jeweils Besten aus diesen beiden Welten. Aserbaidschan und insbesondere Baku werden zu Räumen, in denen Ost und West organisch koexistieren und sich miteinander verflechten.

In Aserbaidschan lässt sich wie auch in anderen postsowjetischen Ländern beobachten, wie religiöse Institutionen, Traditionen und Praktiken aus der Randständigkeit in die Öffentlichkeit treten und das staatliche System seinen säkularen Charakter überdenkt.[10] Auch wenn die politische Ordnung Aserbaidschans offiziell säkular ist, wird das von einer Reihe konfessioneller Gruppen (Muslime, orthodoxe Christen, Juden) unterstützt. Seit der Unabhängigkeit hat die Regierung keine Gelegenheit verpasst, ihre Treue zum Islam als der dominierenden Religion des Landes zu demonstrieren. Das verwundert kaum, da alle Mitglieder der herrschenden Elite mit der Präsidentenfamilie an der Spitze mehrfach ihre muslimische Identität bekundet haben.[11]

In Baku gibt es ebenso viel Orientalisches wie Muslimisches. Da sich Baku jedoch zunächst lange im Einflussbereich des christlich-orthodoxen Russischen Imperiums und dann in dem des atheistischen Sowjetregimes befand, sind im Alltagsleben und der Architekturlandschaft eine Menge Unterschiede zu einer Großstadt in einem „echten“ muslimischen Land wie dem benachbarten Iran oder sogar der Türkei festzustellen. In offensichtlicher Analogie lässt sich sagen, dass es in Baku genauso viel Okzidentales wie Säkulares gibt.

Imperiale Architekturlandschaft einer postkolonialen Stadt

Als die Stadt unter die Herrschaft des Russischen Imperiums kam, war das alte Baku[12] eine kleinere „muslimische Stadt [. . .] [die] über ein Jahrtausend [. . .] Teil der muslimischen Welt gewesen war“.[13] 1806 wurde dieses Randgebiet der muslimischen Welt auch zur südlichen sowie – im Rahmen des kolonialen orientalistischen Diskurses – zur orientalischen Peripherie des „christlich-orthodoxen“ Russischen Imperiums. Die Stadt wandelt sich zunächst in ein Verwaltungs- und Industriezentrum. 1859 wurde Baku Hauptstadt des gleichnamigen transkaukasischen Gouvernements.[14] Nachdem 1872 der Ölboom mit der Bohrung des ersten Förderlochs eingesetzt hatte, wuchs Baku schnell. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und am Anfang des 20. Jahrhunderts war Baku nicht nur die Ölhauptstadt, sondern auch eine der größten Industriestädte des Russischen Imperiums. Es war eine Epoche der stürmischen Blüte und des dynamischen Wachstums. Viele Erinnerungsorte in der Stadt wie auch etliche Architekturensembles im historischen Zentrum der Stadt gehen auf die Zarenzeit zurück.

Begreift man die Sowjetunion ebenfalls als Imperium, so gibt es weitere „imperiale“ Erinnerungsorte, die für das Zusammengehörigkeitsgefühl der Bürgerinnen und Bürger Bakus wichtig sind. Für die moderne Lebenswelt der Bewohner ist die Nachkriegszeit eine Periode, in der ihr städtisches Leben blühte und die Kultur einen Aufschwung erfuhr. Daher wird das „umstrittene“ architektonische Erbe bis heute oft positiv bewertet.

Für Baku als Hauptstadt des unabhängigen Aserbaidschan ist vor allem die Nationalisierung des städtischen Raums und der Erinnerung bedeutend. In diesem Zusammenhang sollten die Erinnerungen an die verschiedenen sozialen und ethnischen Gruppen, die die Stadt zu imperialen Zeiten bewohnt hatten, schnell in Vergessenheit geraten. Die zarischen Beamten und Militärverwalter, die zahlreichen Gruppen der Armenier, Russen, Georgier und Juden, die die Stadt bewohnten, bleiben in der offiziellen Erinnerungspolitik außen vor. Im Mittelpunkt stehen nun turksprachige Muslime, aserbaidschanische Großunternehmer und Mäzene, die ersten „Westler“ und Intellektuellen, Literaten und Nationalisten. Sie sind es, die im aktuellen erinnerungspolitischen Diskurs  über die Stadt deren unverwechselbares Bild vom Ende des 19. und dem Anfang des 20. Jahrhunderts prägen.

Ganz gleich, wer nun die Bewohner waren, die ihren Beitrag zum architektonischen Stadtbild leisteten, sie schufen auf alle Fälle eine „europäische“ Stadt.[15] Selbst dann, wenn sie die Gebäudefassaden im sogenannten „orientalischen“ oder – im sowjetischen Duktus formuliert – im „von der Form her nationalen Stil“ gestalteten. Mit diesem Ziel sollten orientalische und muslimische architektonische Ästhetik und Lebensweise gegenüber westlichen und dementsprechend weltlicheren Stilen zurücktreten. Auch wenn die Lebensweise der meisten Muslime (abgesehen von der kleinen Elite) sich nur äußerst langsam wandelte, so waren die Dinge bei den Häuserfassaden einfacher. Kazimierz Skórewicz, ein Pole, der nach seinem Studium in St. Petersburg nach Baku gekommen war und für einige Zeit das Amt des Stadtarchitekten innehatte, schrieb Anfang des 20. Jahrhunderts:

„Die Bewohner von Baku verhalten sich zu ihrer alten Architektur überaus gleichgültig, streben aber unaufhaltsam danach, auf „europäische Art“ zu bauen. [. . .] Alle Versuche der hiesigen Architekten, reine Bauten zu errichten, die mit der Vergangenheit harmonieren, mit dem Khanspalast [dem Palast der Şirvan-Schahs], hegen so sehr den Wunsch, auf europäische Art zu bauen, dass selbst dann, wenn der Entwurf einen arabisch-persischen Charakter hatte, gleichwohl so etwas errichtet wird wie jene Häuser, die in jeder Hauptstadt eines Gouvernements zu sehen sind.“[16]

Allerdings haben auch „Europäer“ in beträchtlichem Maße dem neuen Baku seinen europäischen Glanz verliehen: professionelle Architekten, die wegen ihrer Arbeit in die Stadt gekommen waren. Zu ihnen gehörten neben Skórewicz Józef Gosławski, Józef Plośko auch der Petersburger Deutsche Nikolaj von der Nonne. Auch Eugeniusz Skibiński, der Architekt der neuen Hauptmoschee, der Təzəpir-Moschee, war polnischer Herkunft. Diese Moschee ist heute Teil des Gebäudeensembles, in dem sich auch die Residenz von Allahşükür Paşazade, dem Leiter der „Geistlichen Verwaltung der Muslime des Kaukasus“ (seit 1992 „Verwaltung der Muslime des Kaukasus“) befindet.

In diesem neuen Baku entstanden nicht nur schöne Bauten und schattige Parks, sondern es bildete sich allmählich auch eine Schicht „verwestlichter“ Städter. Der Konflikt „europäische Stadt vs. traditionelle dörfliche Peripherie“ wurde dadurch weiter an den südlichen Rand des Russischen Imperiums und später der Sowjetunion verlagert. Für die europäisierten Bewohner der Stadt, die westliche Ideen und Bilder in der Interpretation russischer Intellektueller aufnahmen, wurden die Bewohner der ländlichen Gegenden mit der Zeit zu exotischen Anderen, die erst einmal „modern“ werden müssten.[17]

Zunächst musste natürlich zumindest mal Baku, in dem nahezu der gesamte Bestand an Großbauten aus vorsowjetischer Zeit konzentriert war, „modern“ (also europäisch) gemacht werden. Bewohnen sollten die Stadt ebenfalls „westliche“ Leute. Dass sich gleichzeitig eine explizit muslimische Bürgerschaft in Baku bildete, war eine Antwort auf die Verwestlichungsbemühungen durch die russischen und später dann sowjetischen Behörden. Die Grenzen zwischen den Menschen in Baku und der breiten muslimischen Landbevölkerung waren nicht nur eine Bruchlinie zwischen „echten“ Städtern, die einen weltlichen Lebensstil pflegen, und Dorfbewohnern, die auch die mit dem Islam verbundenen Traditionen wahren. Im städtischen Diskurs stellt sich diese Erfahrung als Kollision von zwei unterschiedlichen Welten, „Kulturen“ und „Zivilisationen“ dar. Die massive sowjetische Urbanisierung zielte darauf, diese Grenzen zu überwinden: Die gesamte Bevölkerung Aserbaidschans sollte wie die Bewohner Bakus werden, das Orientale ablegen, säkular werden und sich an neuen Traditionen orientieren.

Das Sowjetische hält Einzug: Alte Zentren und neue Stadtteile

Nach der Machtübernahme versuchten die Bolschewiki ihr ehrgeiziges Programm der forcierten Modernisierung des Landes zu verwirklichen. Die radikalen Projekte der Avantgarde aus den ersten Jahren nach der Revolution wurden Anfang der 1930er Jahre vom eklektischen Neoklassizismus des Stalinschen Imperiums abgelöst. Auch in der Architektur wurde der Sozialistische Realismus kodifiziert. Wichtigster Ausdruck der nachstalinschen Periode war der massenhafte Bau fünfstöckiger Wohnblocks, der sogenannten Chruščevki sowie später der großen monotonen Schlafstädte. In den 1960er bis 1980er Jahren hielt der schnelle Zuwachs der städtischen Bevölkerung an. Die urbanen Zentren galten als der komfortabelste Lebensraum. In den Jahren der sowjetischen Herrschaft haben all diese „typologischen Merkmale“ der sozialistischen Stadt auch Baku „verschönert“.[18] Dabei kontrastierten die sowjetischen architektonischen Objekte, die Gestaltung und die Struktur der neuen Prospekty sowie die Wohnbezirke sichtlich mit dem alten Zentrum, das verglichen etwa mit dem Moskauer Zentrum weniger markant umgebaut worden war.

Für das letzte Jahrhundert der Geschichte Bakus sind aber nicht nur das mehrfache Eindringen neuer Architekturstile in den Stadtraum des historischen Zentrums von Bedeutung, das Entstehen neuer Verwaltungsbezirke und weiträumiger Schlafstädte, sondern durch den Zuzug vom Lande auch eine Ruralisierung der städtischen Bevölkerung. Das symbolisch wichtigste Moment ist die entstehende Vorstellung von der strikten Teilung der Stadt in eine alte („echte“) und eine neue Stadt, die als „historischer Fehler“ bewertet wird.  Alle Stadtbezirke Bakus, die vor Errichtung der sowjetischen Herrschaft gebaut wurden, nehmen die heutigen Bewohner von Baku als historisches Zentrum wahr. Und diese Stadtteile sind heute als Wohnort am stärksten gefragt.

Die „Einzigartigkeit“ des historischen Zentrums resultiert aus dem Kontrast zum architektonischen Erbe der einförmigen Bauten der sowjetischen Wohnbezirke, die ebenso wie die postsowjetischen Neubauten mit seltenen Ausnahmen außerhalb der Erinnerung bleiben. Baku ist im Unterschied zu Moskau oder St. Petersburg eine Stadt mit zwei historischen Zentren. Das älteste mittelalterliche Zentrum ist İçərişəhər (die „Innere Stadt“), das von den Festungsmauern jenes muslimischen, orientalischen Baku umgeben ist, in das Anfang des 19. Jahrhunderts die Truppen des Russischen Reiches einmarschierten. Im 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts zogen in diesen Teil der Stadt europäische Architekturstile ein. Das mittelalterliche Baku war bereits vor der Sowjetisierung Aserbaidschans in erheblichem Maße umgebaut worden, doch blieb die eigentliche Altstadt erhalten, deren Grenzen die teilweise erhaltene innere Festungsmauer, der Neftjanikov-Prospekt und die A. Aliyev-Straße markieren.

Das zweite alte Baku, die Vorstadt oder die Viertel, die im 19. und 20. Jahrhundert unter der Herrschaft des Russischen Reiches gebaut wurden, hat sich zu Sowjetzeiten merklich gewandelt. Dieser Teil der Stadt besteht aus sehr eklektisch gestalteten Gebäuden – erinnert sei an den venezianischen Palazzo oder an französische Gotik –, deren Vielfalt durch den architektonischen Konstruktivismus der 1920er Jahre und den Stalinschen Neoklassizismus der 1930er bis 1950er Jahre ergänzt wurde. Seine Eigenart erhält dieses zweite alte Baku wohl durch das Eklektische dieser Architektur.

Unmerklicher Islam

Die Vorstadt war lange Zeit in ethnisch geprägte Viertel geteilt, ein turksprachiges muslimisches, ein armenisches, ein jüdisches und ein russischsprachiges. Diese Teilung kommt auch darin zum Ausdruck, dass alle alten Moscheen dicht beieinander in İçərişəhər und in jenem Teil der alten Vorstadt liegen, in dem sich das muslimischen Viertel befand. Das bedeutet aber auch: In den belebten Teilen der Stadt, wo ein Großteil der Bewohner Bakus die Freizeit verbringt,[19] spiegelt sich der Umstand, dass die meisten Menschen dem Islam anhängen (sei es nun symbolisch oder real), nicht in der Architektur wider. Hier ist der Adhān, der Ruf zum Gebet, nicht zu hören, und hier sind wegen der dichten Bebauung die Minarette nicht zu sehen. In diesem Teil der Stadt wird der Islam durch den Hidschāb repräsentiert, das Kopftuch, das einige wenige Frauen tragen.

Hier hat der Westen den Orient verdrängt. Es war ursprünglich geplant, die Təzəpir-Moschee an einer Prachtstraße, der Nikolaevskaja-Straße (heute İstiqlaliyyət küçəs), zu bauen. In der Nähe wurde jedoch unter der Leitung von Józef Gosławski auf dem Gelände eines verfallenen muslimischen Friedhofs die größte orthodoxe Kathedrale Bakus, die Aleksandr-Nevskij-Kathedrale, errichtet.[20] Nachdem die Kathedrale 1936, im Zuge der Antireligionskampagne der Bolschewiki, abgerissen worden war, gab es kein die Stadt beherrschendes religiöses Gebäude mehr. Möglicherweise war es ihre „Unsichtbarkeit“, die die Təzəpir-Moschee, eine alte Konkurrentin der orthodoxen Kathedrale, vor der Zerstörung bewahrt hat.

Die meisten Moscheen des alten Baku blieben unversehrt. Das ist womöglich auf die etwas mildere Haltung der Bolschewiki in den 1920er Jahren zum Islam zurückzuführen, auf die Tatsache, dass zahlreiche Moscheen lange als Lager, Museum oder zu anderen Zwecken genutzt wurden oder dass sie im Stadtraum schlicht nicht zu sehen waren.[21] Im Juli 1984 behauptete der damalige Leiter der geistlichen Verwaltung der kaukasischen Muslime, der Schiit Allahşükür Paşazadə, dass in Baku sechs Moscheen tätig seien.[22] Dabei hatte er wohl die Vororte der Stadt mitgezählt, vor allem die Siedlung Nardaran. Heute, fast ein Vierteljahrhundert später, sind auf dem Gebiet der Dreimillionenstadt Baku einige Dutzend Moscheen tätig. Wenn auch Muslime schiitischer Ausrichtung dominieren, sind die mitgliederstärksten Gemeinden von einigen Tausend Gläubigen im Umfeld sunnitischer salafistischer Moscheen entstanden, die mit Geldern aus dem Ausland errichtet wurden.[23] Die Regierung sieht diese Gemeinden als Gefahrenquelle an und versucht sie zu kontrollieren. Die härteste Form dieser Kontrolle sind die Schließung und der Abriss der jeweiligen Moschee. Dies wird seit 2009 praktiziert.[24]

Eines der frühesten und interessantesten Symbole für die Rückkehr des Islam, das zugleich die Widersprüche verdeutlicht, ist die Şehidler-Moschee. Im Januar 1990 wurde in dem nach Sergej M. Kirov (dem 1934 ermordeten Kommunisten) benannten Nagornyj-Park für Kultur und Erholung spontan eine „Allee der Märtyrer“ (arab.: šahīd) angelegt, die Şehidler Xiyabanı. Das war ein markantes Ereignis der jüngeren Geschichte Bakus. Zum ersten Mal nach den langen Jahren der Sowjetherrschaft wurden islamische (schiitische) Traditionen des Abschieds von Märtyrern offiziell, öffentlich und unter breiter Beteiligung der Bevölkerung befolgt:

„Nachdem sowjetische Truppen in den Tagen des „schwarzen Januar“ von 1990 bei der Unterdrückung antiarmenischer Unruhen in Baku Hunderte Aserbaidschaner getötet und verletzt hatten, währte die nationale Trauer nach schiitischem Brauch vierzig Tage. Dieses Mal war die Trauer durch eine Anordnung der Regierung und des ZK der Kommunistischen Partei der Aserbaidschanischen SSR verkündet worden.“[25]

Später wurden im Bereich dieser Allee die sterblichen Überreste der im Karabach-Krieg (1991–1994) Gefallenen als „nationale Helden“, bestattet. Darüber hinaus wurde eine Gedenkstätte für jene Offiziere und Soldaten des Osmanischen Reiches errichtet, die 1918 gegen die Bolschewiki gekämpft hatten und im Gebiet des heutigen Aserbaidschan gefallen waren.

Zusätzlich wurde 1992 auf dem gleichen Gelände mit Mitteln der türkischen Regierung erstmals nach dem Zerfall der UdSSR eine sunnitische Moschee gebaut. Die Şehidler-Moschee ist die einzige Moschee, für die gilt, dass sie aus dem Raum der „Unsichtbarkeit“ hervorgetreten ist. Zu Sowjetzeiten war im Park an einer Stelle, die einen Teil des Stadtzentrums, nämlich die Gegend des Primorskij-Boulevards,[26] beherrscht, ein pompöses Kirov-Denkmal errichtet worden. Das Denkmal hat den Zusammenbruch der UdSSR nicht überdauert. Die kleinere, unweit von dessen Standort erbaute Şehidler-Moschee, in dem für das schiitische Baku äußerst ungewöhnlichen, klassisch osmanisch-byzantinischen Stil gehalten, sollte diese Nische besetzen.

Die Popularität der Gemeinde, die in dieser Moschee entstand, löste bei der Regierung Unbehagen aus. Beim freitäglichen Namaz (pers., arab.: Salāt) konnte die Moschee nicht alle Gläubigen fassen. Viele Gläubige beteten vor der Moschee. In den 2000er Jahren, als die Moschee auf dem Höhepunkt ihrer Popularität war, kamen bis zu 3000 Menschen zum Freitagsgebet, die sich auf den Rasenflächen unweit des Parlaments einfanden.

Die Moschee wurde schnell zum Symbol der „Rückkehr“ des Islam in die soziokulturelle Landschaft der Stadt. Aber es war vor allem die „Rückkehr“ sunnitischer Salafisten, die es im schiitischen Baku nie gegeben hatte. Die zunehmende Popularität der Gemeinde, die praktisch der Kontrolle des Staates entzogen war, sowie die aufdringliche Nähe zum Parlament waren Anlass zu ihrer Schließung am 25. April 2009 unmittelbar nach dem Namaz des Tages. Das „Staatskomitee für die Arbeit mit religiösen Organisationen“ ließ offiziell verlautbaren, die Moschee sei wegen einer Renovierung vorübergehend geschlossen. Doch bis heute hat sie ihre Tore für die Gläubigen nicht wieder geöffnet. Alle übrigen Moscheen bleiben nach wie vor in den alten Stadtvierteln oder am Stadtrand „versteckt“.

Es gibt allerdings auch ein eigenes staatliches Symbol für die Rückkehr des Islam in Aserbaidschan. Das ist die wieder aufgebaute Bibiheybət-Moschee. Der Bau der ersten Moschee an dieser Stelle wird in das 12. Jahrhundert datiert. Sie hatte sich in einem Vorort von Baku befunden. 1936 war sie im Zuge der antireligiösen Kampagnen gesprengt und der Platz dann asphaltiert worden.[27] Der besondere Status dieser Moschee gründete darauf, dass sich nach Überzeugung der Gläubigen hier die Grabstätte der Tochter des siebten Imam Mūsā al-Kāzim (zugleich Schwester des achten Imam Ali Reza (Alī ar-Ridā) befindet.[28] Das Gebäude liegt heute unmittelbar neben einem improvisierten Stadttor. Die Bibiheybət-Moschee wurde von der Regierung ausgewählt, um den besonderen Status des Islam im postsowjetischen Aserbaidschan symbolisch wieder herzustellen. An der Zeremonie zur Eröffnung der wiedererbauten Moschee 1998 nahm der Präsident Heydar Aliyev (1923–2003) teil.

Dessen Sohn, der amtierende Präsident Ilham Aliyev, lässt keine Gelegenheit aus, an Zeremonien zur Eröffnung einer Moschee teilzunehmen, deren Restaurierung oder Bau von der Regierung finanziert wurde. In den 2000er Jahren flossen enorme Öleinnahmen ins Land, und die Regierung erhöhte ihre Investitionen in den religiösen Bereich. Eines der Großprojekte war die Restauration der Təzəpir-Moschee, die im Juli 2009 abgeschlossen wurde. In der Staatspresse las sich das so:

„Das Staatsoberhaupt ist drei Mal hier gewesen und hat seine Überlegungen und Empfehlungen geäußert. Das hat die Restaurierung der Təzəpir-Moschee beschleunigt, die der Hauptstadt unseres Landes eine besondere Schönheit verleiht. Präsident Ilham Aliyev hat den Fortgang der Bauarbeiten stets aufmerksam verfolgt, Probleme, die entstanden, wurden umgehend gelöst. Nach kürzester Zeit ist dieses Haus Allahs mit seiner neugewonnenen Eleganz und grandiosen Erscheinung nicht mehr wiederzuerkennen.“[29]

Nach der Restaurierung der Təzəpir-Moschee besteht der gesamte Komplex u.a.  aus der Islamischen Universität Baku, dem fünfstöckigen Verwaltungsgebäude, in dem sich die Räume der „Verwaltung der Muslime des Kaukasus“ ebenso befinden wie Säle für Zeremonien. Die Minarette, gegen die im fernen Jahr 1905 die orthodoxe Geistlichkeit aufbegehrt hatte, sind die alten geblieben. Die Anlage ist in die engen Gassen des alten muslimischen Viertels gezwängt und dadurch für die im Stadtzen­trum flanierenden Bewohner Bakus nicht sichtbar.

Die unzureichende Höhe der Minarette der Təzəpir-Moschee soll wohl durch Bakus neueste Moschee kompensiert werden, die Heydar-Moschee, die im Dezember 2014 fertiggestellt wurde.

„Diese neue Moschee, die auf Anweisung des Staatsoberhaupts gebaut wurde, hat eine Fläche von 12 000 Quadratmetern. Die Fassade ist aus einem besonderen Stein im Şirvan-Abşeron-Stil gestaltet. Der ornamentale Reichtum der Fassade schafft eine besondere architektonische Harmonie. Es wurden vier Minarette mit einer Höhe von 95 Metern errichtet.“[30]

Diese Moschee, die dem Gedenken an Ex-Präsident Heydar Aliyev, seines Zeichens ehemaliger KGB-General und Erster Sekretär der aserbaidschanischen KP, geweiht ist, gilt nun als die größte des Landes. Aber auch diese Prachtanlage liegt in einer der sowjetischen Schlafstädte, praktisch am Rande der Stadt.

Zur Umgestaltung von Baku und der Rückkehr des Islam trug die Restitution alter Moscheen an die Gläubigen bei. Ebenso wurden einige sunnitische salafistische Moscheen errichtet. Unter den Moscheen in der Altstadt ist die schiitische Cümə-Moschee zu erwähnen. Zu Sowjetzeiten wurde das Gebäude als Lager genutzt und war dann als Teppichmuseum bekannt. 1992 wurde die Mosche wiedereröffnet. Nahezu gleichzeitig bildete sich um die Moschee eine Gemeinde. Imam wurde der damals noch ganz junge İlqar İbrahimoğlu, der seine religiöse Bildung im Iran erhalten hatte. Er gilt immer noch als einer der bekanntesten Intellektuellen schiitischer Ausrichtung.

Danach wurden führende Mitglieder der Gemeinde, die gegenüber dem „Staatskomitee für die Arbeit mit religiösen Organisationen“ eine relativ unabhängige Haltung einnahmen, verfolgt. Ihnen wurde verboten, sich in der Cümə-Moschee zu betätigen. Unter den alten Moscheen von İçərişəhər ist die alte sunnitische Moschee am bekanntesten, die unweit des Jungfrauenturms gelegene Lezgi-Moschee aus dem 12. Jahrhundert. Hier haben sich einige Jahre lang Mitglieder einer der aktivsten salafistischen Gemeinden versammelt.

Das Entstehen neuer Moscheen und Gemeinden war von Konflikten begleitet. Einer der ersten und aufsehenerregendsten war der Terroranschlag vom 17. August 2008 in der salafistischen Abu-Bekr-Moschee, zu der die bekannteste und mitgliederstärkste Salafistengemeinde von Baku gehört. Das Gebäude ist für Gläubige bequem zu erreichen und befindet sich unweit des Bahnhofs. Während des Abendgebets wurde in den Hof der Moschee, in dem sich viele Gläubige versammelt hatten, durch ein Fenster eine Handgranate geworfen. Nach offiziellen Angaben starben dabei zwei Personen, zwanzig wurden verletzt. Der Terroranschlag veranlasste die Regierung zu einem entschlossenen Vorgehen gegen eine Reihe muslimischer Gemeinden. Da es relativ viele Anhänger des Salafismus, aber nur sehr wenige Moscheen in Baku gibt, waren die Gläubigen oft gezwungen, außerhalb der Moschee zu beten. Nach dem Terroranschlag untersagten die Behörden jedoch Gebete außerhalb der Gebetshäuser.

Die Abu-Bekr-Gemeinde war wegen ihrer kritischen Haltung zum Regime bekannt und galt selbst in Salafistenkreisen vielen als „wahhabitisch“. Nach dem Anschlag verfassten Anwohner der Moschee eine Petition an den Präsidenten. Darin forderten sie, Abu-Bekr zu schließen. Nach der Explosion, als die Moschee vorübergehend geschlossen war, erklärten Anwohner, dass nun endlich die massenhaften Zusammenkünfte von „Wahhabiten“ unterbunden worden seien. Etwas später wurde auch die bereits erwähnte Şehidler-Moschee geschlossen. 2009, als Baku „Hauptstadt der islamischen Kultur“ war, wurden in einem Neubaubezirk die noch im Bau befindliche Prophet-Mohammed-Moschee und eine Moschee in Neft Daşları auf der Halbinsel Abşeron abgerissen.

Dieses repressive Vorgehen, das darauf abzielt, Moscheen, welche die wachsende Popularität der Sunna widerspiegeln, zu schließen oder zu zerstören und dadurch aus dem städtischen Raum Bakus zu verdrängen, kann den Netzwerken der Salafisten allerdings nur wenig anhaben.

Der Islam in der Stadt: Alltagsleben

Über die letzten Jahrhunderte hinweg hat in Baku stets der Islam schiitischer Ausprägung dominiert. Die „Geistliche Verwaltung der Muslime des Kaukasus“ ist praktisch eine vorwiegend vom Staat finanzierte religiöse Institution, an deren Spitze ein Schiit steht. Zu großen Teilen ist die schiitische Bevölkerung des sogenannten muslimischen Viertels in Baku sehr konservativ eingestellt. Die „einheimische“ schiitische Bevölkerung ist immer sehr fromm gewesen. Das Gleiche lässt sich von der Gemeinschaft der Dağ sagen, die auch heute relativ geschlossen in einigen Teilen Bakus wie etwa im Bezirk Yasamal leben.[31]

Hochburgen dieser konservativen Lebensweise im Alltag, die von ihren Anhängern mit der Schia assoziiert wird, sind einige Siedlungen in den Vororten von Baku auf der Halbinsel Abşeron, die administrativ zur Hauptstadt gehören. Das bekannteste dieser Dörfer ist Nardaran, wo sich die in der gesamten Republik bekannte Həci Bəxşi-Moschee und eine heilige Stätte, eine Pir (Grabstätte eines Heiligen), befinden, die auch in der Sowjetunion den Gläubigen offen gestanden hatten. Die Nardaraner sind in Baku als konsequenteste Anhänger der Schia bekannt. Sie verhehlen nicht ihre Sympathie für das theokratische Regime im Iran. Nach dem Zerfall der UdSSR wurden die Moschee und die Pir restauriert. Dass die heilige Stätte gut erreichbar ist, gibt den Bewohnern von Baku die Möglichkeit, eine kleine Pilgerfahrt zu unternehmen, ohne die Stadt verlassen zu müssen.

In der Gemeinde in Nardaran und im Dorf gehören antiamerikanische, antieuropäische und antiisraelische Versammlungen fast schon zur Normalität. Während einer dieser typischen Demonstrationen im Januar 2015 aus Protest gegen Karikaturen des Propheten Mohammed in europäischen Zeitschriften, darunter Charlie Hebdo, verbrannten Nardaraner die Flaggen Frankreichs, der USA, Israels und Armeniens und skandierten „Tod für Israel“, „Tod für Amerika“, „Tod für Frankreich“, „Tod für Deutschland, „Tod für Dänemark“.[32]

Die vielen sunnitischen Salafisten sind eine neue Erscheinung im postsowjetischen Baku. Oft sind sie durch einen bestimmten Habitus zu erkennen. Praktizierende Sala­fisten tragen lange Bärte, was sie in Baku von der Menge abhebt. Lange Zeit wurden sie festgenommen. Die Polizei schor ihnen gewaltsam die Bärte. Wegen des Drucks, der in den letzten Jahren auf sie ausgeübt wurde, sind Salafisten immer seltener im Stadtzentrum anzutreffen, zumal die freiere Atmosphäre auf der Flaniermeile im säkularen Teil von Baku bei praktizierenden Muslimen Irritationen auslöst. In Gesprächen ist immer wieder zu hören:

„Schau dir unsere Stadt an. Ist das die Hauptstadt eines muslimischen Staates? Wo man sich im Stadtzentrum auch die Geschäfte anschaut, sie sind alle harām [unrein]. Man geht spazieren, und was wird in der ganzen Stadt verkauft? [. . .] Wodka, Cognac, Wein und was weiß ich noch! Wie kann das in einem muslimischen Land möglich sein?!“

Salafisten lehnen sehr viel konsequenter als Schiiten die sowjetischen, säkularen Lebensnormen und Feiertage ab und sehen es als ihre Pflicht an, aktiv den „wahrhaftigen“ Islam zu predigen.

Neben den gut entwickelten Freundschafts- und Unterstützernetzwerken ist in Baku seit längerem eine Infrastruktur entstanden, um den Islam salafistischer Prägung relativ komfortabel zu befolgen. Es gibt salafistische Kindergärten, wo die Kinder die notwendigen Regeln und Gebete lernen. Sie erfahren in jungen Jahren, wie Gott, das Paradies usw. zu verstehen sind. Natürlich ist dieser Gemeinschaft durch die Schließung und Beseitigung salafistischer Moscheen ein gewisser Schlag versetzt worden, doch wirkt der anscheinend nur vorübergehend. In der Regel finden die Salafisten neue Orte für das gemeinschaftliche Gebet. Manchmal treffen sie hierzu sogar Verabredungen mit schiitischen Imamen. Dann gelten für Sunniten und Schiiten unterschiedlichen Gebetszeiten. Auch der Ruf zum Gebet, der Adhān, wird in einen schiitischen und einen sunnitischen getrennt.

Der Adhān, das Symbol einer muslimischen Stadt, ist im Zentrum von Baku kaum zu hören, sondern nur am Stadtrand und in der Nähe von Moscheen. Lange Zeit versuchten die Oberhäupter der Gemeinden und Moscheen auf diese Weise, an ihre muslimische Identität zu erinnern. Doch stellte sich die Regierung auch hier dem öffentlichen Auftreten des Islam und seiner Präsenz im Alltag entgegen. Ein übermäßig lautes Rufen der Mullahs und Imame wird offiziell ungern gehört. Als „Krieg gegen Allah“ bezeichneten die Medien in Baku die Entscheidung vom Mai 2007, die den Einsatz von Lautsprechern für den Adhān verbot. Wer zum Gebet ruft, solle nur seine Stimmbänder einsetzen. Ein lauter Adhān beeinträchtige Kranke, Kinder und ältere Menschen und störe auch die Arbeit der Staatsbediensteten. Der erwähnte Imam der Cümə-Moschee İlqar İbrahimoğlu wandte sich gegen diese „altväterliche“ Methode des Rufes zum Gebet und kündigte mögliche Massenaktionen in Baku an. Kurz darauf hob der Präsident das Verbot auf, den Adhān per Lautsprecher zu übertragen.

Die Geschichte wiederholte sich jedoch im November 2009. Anlass war die Diskussion um die zulässige Lautstärke des Adhān. Diesmal verkündete Jagut Aliyeva, die Chefin des Pressedienstes des „Staatskomitees für die Arbeit mit religiösen Organisationen“:

„Wir versuchen den Gläubigen zu erklären, dass das Staatskomitee für die Arbeit mit religiösen Strukturen nie ein Verbot des Adhān ausgesprochen hat und ein solches nicht aussprechen kann; wir haben einfach den Moscheen geraten, dass der Adhān live und ohne Mikrofone und Verstärker erklingen sollte. [. . .] Ein zu lauter Adhān einiger Gebetshäuser, insbesondere, wenn diese in dicht bewohnten Vierteln, in der Nähe von Bildungseinrichtungen oder Krankenhäusern stehen, hat unter der Bevölkerung ernstzunehmenden Unmut ausgelöst.“

Solche Erklärungen erfolgten, als Baku zur Hauptstadt der islamischen Kultur ernannt war. Die Regierung betont stets, dass der Islam „unsere“ Religion sei. Aber diese Behauptung zielt auf den Islam als nationale Tradition, als übliche Lebensart und weniger als religiöse.

Im Grunde ist „Baku – Hauptstadt der islamischen Kultur 2009“ ein symbolischer Status, der demonstrieren soll, dass Baku Hauptstadt eines säkularen und gleichzeitig muslimischen Staates ist.[33]  Hierin liegt das Spezifische der aserbaidschanischen Nationsbildung. Tadeusz Świętochowski bringt es auf den Punkt:

„Aserbaidschan [hat] sich für einen ,nationalen Islam‘ entschieden, eine Konzeption, die bereits Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden ist und der zufolge der Islam als untrennbarer Bestandteil der nationalen Eigenwahrnehmung verstanden wird, unabhängig davon, wie religiös nun der einzelne Bürger sein mag.“[34]

Fazit

Die Nationalbewegung hatte sich Ende der 1980er Jahre auf den Islam neben der Sprache als wichtigste Grundlage für die Identität der Aserbaidschaner berufen. Diese Parolen sind nicht fruchtlos geblieben. Heute lässt sich sagen, dass in einer kulturell definierten Gruppe der Aserbaidschaner „einer von uns zu sein“ auch bedeutet, Moslem zu sein.[35] Zwar gibt es nur relativ wenige praktizierende Muslime, welche die Grundregeln und die Kleidervorschriften beachten. Aber ihre Zahl steigt ständig. Das muslimische, exotische „Orientale“ ist im Grunde nur ein Werbeslogan für Touristen, nicht aber der Stand der Dinge. Die Regierung ist nicht bereit, in Baku viel Islam zuzulassen. Der Adhān, der zu laut ist, eine türkische Moschee in der Nähe des Parlaments, die „nicht unsere“ ist, Salafisten, die zu aktiv sind und zu zahlreich beim Freitagsgebet erscheinen, bereiten der Regierung Kopfschmerzen.

In dieser Haltung des Regimes zur Religion sind Widersprüche unausweichlich. Die Regierung stellt Aserbaidschan strikt als säkularen Staat dar und betrachtet die religiösen Strukturen des Landes als eigene Domäne. Mit Hilfe des „Staatskomitees für die Arbeit mit religiösen Organisationen“ und der „Geistlichen Verwaltung der Muslime des Kaukasus“ versucht der Staat, über alle Bürger, die dem Islam anhängen, Kontrolle auszuüben. Gleichzeitig bekundet die Regierung nicht weniger strikt die Idee, dass Aserbaidschaner qua Geburt Muslime sind. Es verwundert kaum, dass einige Intellektuelle zu dem paradoxen Schluss gelangen, dass „in Aserbaidschan spontan eine Art neuer ‚weltlicher Islam‘ entsteht, was für Muslime wie Nonsens klingt“.[36]

Dass im städtischen Raum von Baku Menschen mit unterschiedlichem Verhalten und Lebensweisen leben, macht in erheblichem Maße die kulturelle Landschaft der Stadt aus. In Baku leben Seite an Seite Menschen, die auf ihre Zugehörigkeit zu einem kosmopolitischen städtischen Milieu stolz sind, und Islamisten, die Baku zur Hauptstadt eines „wahrhaft muslimischen Staates“ machen wollen. Verbunden sind sie durch den Umstand, dass die einen in der Vergangenheit den Druck der Regierung zu spüren bekommen haben, die anderen spüren ihn heute.

Das Regime hat seine eigene Vorstellung, wie das Verhalten eines „guten“ Bürgers auszusehen hat. Angesichts des zunehmend populären Islam schwindet die Attraktivität des mythischen Bildes von einer kosmopolitischen Stadt immer deutlicher. Dieser Imagewechsel bestimmt in vielerlei Hinsicht den allmählichen Wandel der sozialen und kulturellen Landschaft der Stadt und wird wohl auch die immer stärker „muslimische“ Zukunft der Stadt prägen.

Aus dem Russischen von Hartmut Schröder, Berlin

 

 


[1]   Kurban Said: Ali i Nino. Baku 2013, S. 10–13.

[2]   Jörg Baberowski: Der Feind ist Überall: Stalinismus im Kaukasus. München 2003, S. 11–44.

[3]   Autor des Romans ist aller Wahrscheinlichkeit nach Lew Nussimbaum; Tom Reiss: The Orientalist: Solving the Mystery of a Strange and Dangerous Life. New York 2005.

[4]   Leonid Bretanickij: Baku. Architekturno-chudožestvennye pamjatniki. Leningrad, Moskva 1970, S. 117–217.

[5]   Razvitie turizma, <www.azerbaijans.com/content_1037_ru.html>.

[6]   Das Jahr 2011, als der Clip über die Bildschirme flimmerte, war in Aserbaidschan zum „Jahr des Tourismus“ erklärt worden; „Azerbaijan. European Charme of the Orient“, <www.youtube.com/watch?v=pJoakkDFT3Q>.

[7]   2014 erschien ein kurzer Dokumentarfilm von Marija Ibragimova, der die Entwicklung des Tourismus fördern sollte. Der Titel war dem Werbespot entlehnt: Azerbajdžan – evropejskoe očarovanie Vostoka – lučšij turističeskij fil’m na festivale v Serbii, <www.trend.az/life/tourism/2320503.html>.

[8]   Yury Sigov: Azerbaijan. Bridge Between East and West. London 2015.

[9]   Es gibt einige Varianten dieser „orientalistischen“ Metaphern: „Baku – where East meets West“, <www.youtube.com/watch?v=UFIBuOt8qCs>. – „Eastern Temperament and Western Charisma: Baku City of Contrasts“, <www.youtube.com/watch?v=vsEy73cpGIo>.

[10]   José Casanova: Public Religions in the Modern World. Chicago 1994, S. 5–6, 11–15, 40–74.

[11]  I. Abbasov: A fine line between secularism and Islam, in: Islam in Caucasus – dialogue through research. Materials. Tbilisi 2015, S. 107–119. – Sergei Rumyantsev: Elusive modernity. Azerbaijan’s post-Soviet modernization, in: Salome Asatiani, Nino Lejava (Hg.): South Caucasus at a Crossroad: Thorny Realities and Great Expectations. Tbilisi 2014, S. 146–155.

[12]  Sara Ašurbejli, eine der angesehensten Historikerinnen Bakus, meint, dass sich auf dem Stadtgebiet sehr alte menschliche Siedlungen befanden. Baku als „antike Stadt“ sei vor nicht weniger als 2000 Jahren entstanden; Sara Ašurbejli: Istorija Goroda Baku. Period Srednevekov’ja. Baku 1992, S. 35–42. Das älteste, per Bauinschrift datierbare Architekturdenkmal ist das Minarett der Mohammed-Moschee von 1078/79. – Bretanickij, Baku [Fn. 4], S. 15.

[13]   A. Altstadt-Mirhadi: Baku. Transformation of a Muslim Town, in: M. Hamm (Hg.): The City in Late Imperial Russia. Bloomington, Ind. 1986, S. 283–318.

[14]   Šamil’ Fatullaev: Gradostroitel’stvo Baku XIX – načala XX vekov. Leningrad 1978, S. 23–77.

[15]  Oft wurden Gebäude und Anwesen kopiert, die in europäischen Ländern Gefallen erregt hatten. So entstand eines der bekanntesten Gebäude der Stadt, das Ismailiyya (ursprünglich eine karitative Gesellschaft); seit der Sowjetperiode beherbergt es das Präsidium der Akademie der Wissenschaften. Es war aus Mitteln des Millionärs Murtuza Muchtarov aus Baku errichtet worden. „Er unternahm mit seiner jungen Frau eine Reise durch Europa. Die Architektur Venedigs hatte es Muchtarov angetan. Und nach seiner Rückkehr baute er in nur einem Jahr (1911–1912) in Baku ein Palais im venezianischen Stil.“ Das Muchtarov-Palais in der Nähe wurde in französischem Stil gebaut. Der Architekt war jeweils Józef Ploško; Manaf Sulejmanov: Dni Minuvšie Istoričeskie očerki, <http://royallib.com/book/suleymanov_manaf/ dni_minuvshie_istoricheskie _ocherki.html>.

[16]  Zit. nach Leonid Bretanickij, Abdul Salamzade: Architektura sovetskogo Azerbajdžana. Moskva 1973, S. 33–34.

[17]   Hier folge ich Etkind, der das Konzept der „internen Kolonisierung“ entwickelt hat und der Ansicht ist, dass für die europäisierte russische Elite die russischen Bauern der Typus des exotischen Anderen und Objekt der Kolonisierung waren; Alexander Etkind: Internal Colonization: Russia’s Imperial Experience. Cambridge 2011.

[18]  Thomas M. Bohn: Von der „europäischen Stadt“ zur „sozialistischen Stadt“ und zurück? Zur Einleitung, in: Thomas M. Bohn (Hg.): Von der „europäischen Stadt“ zur „sozialistischen Stadt“ und zurück? Urbane Transformationen im östlichen Europa des 20. Jahrhunderts. München 2009, S. 7–10.

[19]   Traditionell flanieren die Menschen in Baku auf der Torgovaja-Straße (so wird dieser Teil der Nizami-Straße genannt), der Istiglaliyyat-Straße (der ehemaligen, nach Zar Nikolaj benannten Nikolaevskaja-Straße und späteren Kommunističeskaja-Straße), dem Fontänenplatz (dem ehemaligen Parapet) und dem Primorskij-Boulevard. In diesem Teil der Stadt ist nur das Gebäude einer armenischen Kirche erhalten geblieben, in der wegen des Karabach-Konflikts seit 1990 aber keine Gottesdienste mehr stattfinden.

[20]   Fatullaev, Gradostroitel’stvo Baku [Fn. 14], S. 123.

[21]   Auch drei orthodoxe Kirchen blieben erhalten, die von den belebtesten Punkten des Zen­trums aus „unsichtbar“ waren.

[22]   Fred Hallidey, Maxine Molyneux: Letter from Baku. Soviet Azerbaijan the 1980s, in: Middle East Report, 138/1986, S. 33. – Paşazadə wurde 1992 zum Vorsitzenden des Obersten Rates der Muslime des gesamten Kaukasus gewählt und amtiert bis heute.

[23]   Derart mitgliederstarke und aktive Gemeinden schiitischer Ausrichtung gibt es in Groß-Baku, wozu auch die Vororte gehören, nur in Nardaran oder Mashtaga.

[24]   Svante E. Cornell: The Politicization of Islam in Azerbaijan. Washington 2006. – S. Bedford: Islamic Activism in Azerbaijan: Repression and Mobilization in a Post-Soviet Context. Stockholm 2009, <www.silkroadstudies.org/resources/pdf/SilkRoadPapers/2006_10_ SRP_Cornell_Islam-Azerbaijan.pdf>.

[25]  Tadeuš Svetochovskij: Islam i nacional’noe samosoznanie na pograničnych territorijach: Azerbajdžan, in: Religija i politika na Kavkaze. Materialy meždunarodnoj konferencii. Erevan 2004, S. 20.

[26]   Cypylma Darieva: Sterilizuja publičnoe prostranstvo? Bakinskaja naberežnaja kak promenad istorii, in: Neprikosnovennyj zapas, 6/2011, S. 119–138.

[27]   Ašurbejli, Istorija Goroda [Fn. 12], S. 5.

[28]   Ebd., S. 159–160.

[29]   Posle kapital’noj rekonstrukcii i širokich stroitel’nych rabot sdan v ėkspluataciju kompleks mečeti Teze Pir. Bakinskij rabočij, 7.7.2009, S. 1–3, <www.anl.az/down/meqale/bakrabochiy/ bakrabochiy_iyul2009/85507.htm>. – Vozroždenie slavnych tradicij. Gazeta Kaspij, 8.7.2009, S. 1–2, <www.anl.az/down/meqale/kaspi/kaspi_iyul2009 /85722.htm>.

[30]  Il’cham Aliev prinjal učastie v otkrytii mečeti Gejdara v Baku, <http://ru.president. az/articles/13889>.

[31]   Die Dağ, wörtlich Bergler, sind wahrscheinlich Nachkommen des Volks der Taten, das eine iranische Sprache spricht und im Norden Aserbaidschans sowie in Dagestan lebt; Sergej Rumjancev: Stolica, gorod ili derevnja. Ob itogach urbanizacii v otdel’no vzyajtoj respublike na Južnom Kavkaze. Demoscope Weekly, 23.10.2005, <www.demoscope.ru/weekly/ 2005/ 0217/analit04.php>.

[32]   V Nardarane sožgli flagi Francii, Izralija i SŠA, <http://contact.az/docs/2015/Politics/ 012100103682ru.htm#.VigFoCtFUzE>.

[33]   Mechriban Alieva: Glavnoe – nikogda ne terjat’ dostoinstva. Day.Az, 19.3.2009, <http://day.az/news/politics/150758.html>.

[34]   Tadeuš Svetochovskij: Islam i nacional’noe samosoznanie na pograničnych territorijach: Azerbajdžan, in: Religija i politika na Kavkaze. Materialy meždunarodnoj konferencii. Erevan 2004, S. 26.

[35]  Seyla Benhabib: The Claims of Culture: Equality and Diversity in the Global Era. Princeton 2002.

[36]   Ali Abasov: Islam v sociokul’turnoj i političeskoj žizni postsovetskogo Azerbajdžana, in: Diaspora, neft’ i rozy. Čem živut strany Južnogo Kavkaza. Erevan 2005, S. 52.

Volltext als Datei (PDF, 1 MB)