Nicht wie im Leben des Brian
Replik auf Anna Veronika Wendlands Kritik
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Abstract
Anna Veronika Wendlands Vorwurf, die Osteuropäische Geschichte als Disziplin habe angesichts der Russland-Ukraine-Krise und des Krieges versagt, ist unhaltbar. Historikerinnen und Historiker haben sich vielfältig zu Wort gemeldet. Ob Fachleute in der Öffentlichkeit auftauchen, hängt mehr von den Gesetzen der Medien als von der Streitkultur der Historiker ab. Weder trifft die eine These zu, dass Ukraine-Kompetenz ein Karriererisiko darstellt, noch die andere, dass die Ukraine in der Lehre nicht behandelt werde. Allerdings bedarf es mehr Anstrengung, um die Ukraine in der transregionalen Geschichte Osteuropas zu verankern.
(Osteuropa 1-2/2015, S. 193207)
Volltext
In Osteuropa hat Anna Veronika Wendland jüngst der Osteuropäischen Geschichte als Disziplin vorgeworfen, in der aktuellen Russland-Ukraine-Krise vollkommen versagt zu haben.[1] Die Aussagen des Beitrags teile ich insoweit, als es um die politische Analyse des Russland-Ukraine-Konflikts geht. Seit dem Herbst 2013 hat die ukrainische Nationsbildung eine neue Dimension erreicht. Eine bilinguale Nation, die sich auf Ukrainisch und Russisch über Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verständigt und gegen Korruption und autoritäre Herrschaft wendet, widerlegt seitdem Tag für Tag das Klischee einer in West und Ost gespaltenen Ukraine. Mitten in einem Krieg, den Putin der Ukraine unerklärt aufgezwungen hat, haben die Ukrainer den Präsidenten und das Parlament neu gewählt. Jene rechten Kräfte, die die Propaganda des Kreml als vermeintlich mächtige und bedrohliche Gruppierungen an die Wand malt, haben lediglich minimale Stimmenanteile erhalten. Die Krise der Herrschaft Putins lässt sich in der Tat auf ukrainischem Territorium beobachten. Es ist eine doppelte Krise. Sie besteht aus der geringen Attraktivität der Eurasischen Union, in der Moskau neoimperial den Ton angibt. Seit den Demonstrationen gegen Wahlfälschungen in Russland im Winter 2011/12 scheint Putins Furcht, eine farbige Revolution könne auch seine Herrschaft erschüttern, zugenommen zu haben. Der Majdan wurde so zu einem Beispiel, das es in Putins Welt nicht geben darf.
Mit partieller Zustimmung, aber auch mit Zweifel und Unverständnis habe ich den Teil des Beitrags von Anna Veronika Wendland gelesen, der die Osteuropäische Geschichte im Angesicht der Russland-Ukraine-Krise in den Blick nimmt. Folgen kann ich noch der Forderung, dass Vertreter der Gewaltgeschichte Russlands Kriegsexport in die Ukraine als eigenes Themenfeld erkennen, analysieren und kommentieren sollten. Damit verbunden wird es Jörg Baberowskis Geheimnis bleiben, warum er in seinem Artikel in der Zeit aus dem März 2014 den in mehreren Synthesen gut dokumentierten Kenntnisstand zur Geschichte der Ukraine größtenteils außer Acht gelassen hat.[2] Ich teile die Aufforderung, die Geschichte der Ukraine als wichtigen Teil der Osteuropäischen Geschichte zu begreifen und in Lehre und Forschung zu berücksichtigen. Den Vorwurf, die Osteuropäische Geschichte habe angesichts der Russland-Ukraine-Krise durch Schweigen versagt, kann ich nicht nachvollziehen. Ebenso reizt es zum Widerspruch, wenn Anna Veronika Wendland Ukraine-Kompetenz als Karriererisiko in der Osteuropäischen Geschichte einstuft. Geopolitischer Fatalismus ist in Teilen von Politik und Medien zu erkennen, jedoch nicht in der Osteuropäischen Geschichte.
Osteuropäische Geschichte, Medien und Politik
Zur größten Unterlassungssünde der jüngeren Fachgeschichte erhebt Anna Veronika Wendland die vermeintliche Abstinenz der Osteuropäischen Geschichte in Medien und Politik:
In der Stunde ihrer größten Herausforderung seit 1989, die inzwischen ein Jahr dauert, hat die historische Osteuropaforschung fast auf ganzer Linie versagt – sowohl durch Unterlassen als auch durch Handeln. Nicht alle Schuld trifft die handelnden oder nicht handelnden Personen. Auch strukturelle Ursachen, die in unserer jüngsten Fachgeschichte liegen, spielen eine Rolle. Die größte Sünde war die Unterlassung. Als die Revolution auf dem Majdan eskalierte und der Erklärungsbedarf kulminierte, tat sich ein Vakuum auf. Die Osteuropa-Experten konnten oder wollten es nicht füllen. In den Talkshows und Feuilletons, ja selbst in der Politikberatung von Parlament und Regierung übernahm eine ganze Phalanx von selbsternannten oder von den Medien zu solchen bestimmten „Ukraine-Experten“ und von „Russlandkennern“ die Interpretationshoheit – ohne auf wesentlichen Widerstand von Seiten der Wissenschaft zu treffen.[3]
Weiter heißt es im Text:
sie [die Osteuropahistorikerinnen und -historiker, M.A.] schweigen. Gewiss, wir hatten inzwischen einige Seminare, Ringvorlesungen und Podien an den Universitäten. Was aber fehlte, war eine klare und notwendigerweise auch politische Sprache, die außerhalb des geschützten Raumes der Hochschule zu hören gewesen wäre.[4]
Diese Darstellung ist nicht haltbar – nicht zuletzt weil Anna Veronika Wendland strukturelle Umstände zwar erwähnt, sie jedoch nicht analysiert.
Die anlässlich der jüngsten Entwicklung in der Ukraine anberaumten Veranstaltungen der Osteuropäischen Geschichte haben mehr verdient, als in einem Absatz als Gesprächsrunden in einem geschützten und apolitischen Hochschulraum disqualifiziert zu werden. Ein vollständiger Überblick kann hier nicht erfolgen. Die Graduiertenschule für Ost- und Südosteuropastudien der LMU München und der Universität Regensburg hat ihre Veranstaltungen auf ihrer Webseite verzeichnet.[5] Die Erfahrungen aus München von anderen Hochschulen zeigen, dass diese Veranstaltungen ein breites Publikum ansprachen und dass Osteuropahistorikerinnen und -historiker sich dort sehr wohl der politischen Diskussion stellten.
Die Klage, allein „Solitäre wie die Emeriti Andreas Kappeler oder Gerhard Simon“ hätten die Kastanien aus dem Feuer geholt, greift zu kurz.[6] Sie übersieht die Beiträge von Kolleginnen und Kollegen des Mittelbaus in den Medien.[7] Wenn Emeriti als Solitäre erscheinen und der Mittelbau überhaupt nicht wahrgenommen wird, reduziert das die Repräsentanz des Faches auf die Professoren. Diese Wahrnehmung wird dem Wandel der Wissenschaft als Beruf nicht gerecht. Angehörige des Mittelbaus nehmen viel stärker als früher an Diskussionen teil. Mancher Emeritus ist beim Schreiben von Büchern produktiver und damit in der Öffentlichkeit stärker präsent als die primär mit Betreuungs-, Organisations- und Managementaufgaben beschäftigten Professoren.
Auch haben viele Kolleginnen und Kollegen auf die von Anna Veronika Wendland geforderte klare, politische Sprache nicht verzichtet. Im April 2014 verabschiedete die DGO eine Resolution, die Russlands Annexion der Krim verurteilt. Zu den Erstunterzeichnern gehören auch Osteuropahistoriker.[8] Es mag am früheren Redaktionsschluss liegen, doch der von Andreas Umland initiierte Aufruf der 100 Osteuropa-Experten als Reaktion auf den Aufruf der 60 zur Wahrung des Friedens in Europa findet in Anna Veronika Wendlands Text keine Erwähnung.[9] In diesem Aufruf haben zahlreiche Osteuropahistorikerinnen und -historiker eindeutig Position bezogen gegen den Aufruf der 60, der vorgibt, Russland im Interesse des Friedens zu verstehen, jedoch allein Putins Aggression legitimiert, ohne Russlands Konfliktstrategien auf der Krim, in Doneʼck, Luhansʼk, Transnistrien, Abchasien und Südossetien zu erwähnen.
Ob Vertreter der Osteuropäischen Geschichte in den Medien auftauchen, hat weniger mit ihnen als vielmehr mit deren eigenen Gesetzen und der Logik zu tun, Aufmerksamkeit zu erzielen. Fernsehredaktionen orientieren sich bei der Einladung ihrer Gäste zu Talkshows am politischen Gewicht und der medialen Bekanntheit der Gäste. Das – und nicht der Unwille der Kolleginnen und Kollegen, etwas zu sagen – führt in den zahlreichen Talkrunden zu dem beklagenswerten Befund, dass Osteuropahistorikerinnen und -historiker nicht vertreten sind. Umso mehr Erwähnung verdienen die Fernsehinterviews, die Gerhard Simon und Karl Schlögel im deutschen sowie Benjamin Schenk im Schweizer Fernsehen gegeben haben.[10] Hinzu kommen unzählige Radiointerviews von Kolleginnen und Kollegen.
Anders ist die Lage in den Printmedien. Sie greifen entweder auf bestehende Kontakte in die Wissenschaft zurück oder orientieren sich in ihrer Auswahl von Gastbeiträgen überwiegend an Autoren, die aufgrund ihrer Monographien in größeren und publikumswirksamen Verlagen bekannt sind, was häufig auf ein- und dasselbe hinausläuft.[11] In der Schweiz haben Beiträge des St. Galler Slavisten und Kulturwissenschaftlers Ulrich M. Schmid in der Neuen Zürcher Zeitung einen festen Platz.[12]
Wir könnten das als Anlass begreifen, auf dieses Auswahlraster zu reagieren. Wenn Printmedien Geisteswissenschaften primär über Monographien in Publikumsverlagen wahrnehmen, sollten wir mehr Zeit darauf verwenden wissenschaftliche Erkenntnisse in lesbaren Monographien zu präsentieren. Das würde in der Praxis bedeuten, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wieder mehr Freiheiten erhalten oder sich nehmen, um Bücher zu schreiben und sich vielleicht vom Gebot zu emanzipieren, groß dimensionierte, drittmittelgestützte Forschungsprojekte zu organisieren.
Organisatorisch kann es nicht schaden, dem Beispiel amerikanischer Universitäten zu folgen. Sie werben für ihre Presseabteilungen gezielt gut vernetztes Personal aus dem Journalismus ab, um so den Zugang von Wissenschaft zu den Medien zu erleichtern.
Die Berichterstattung und die politische Meinungsbildung halten an, solange die Russland-Ukraine-Krise nicht überwunden ist. Die Nachfrage nach geschichtswissenschaftlicher Information nimmt zu. Die öffentliche Diskussion über die künftige Russland- und Ukrainepolitik in Deutschland und Europa sowie die historischen Hintergründe bleiben auf der Tagesordnung.
Profile und Professuren
„Ein Ukraineschwerpunkt im eigenen Portfolio war und ist für junge Wissenschaftler immer auch ein Karriererisiko“, schreibt Anna Veronika Wendland.[13] Ich bin mir nicht sicher, dass sich dies so allgemein sagen lässt. Kerstin Jobst und Tanja Penter sind auf der Grundlage von Qualifikationsschriften zur Geschichte der Ukraine nach Wien und Heidelberg berufen worden.[14] Auch ließe sich einwenden, dass Anna Veronika Wendlands eigene Ukraine-Kompetenz sie zur Forschungskoordinatorin und aktuell Vertreterin der Institutsleitung des Herder-Instituts gebracht hat. Zu den Ländern, die das Herder-Institut zum Bestand seiner regionalen Kompetenz zählt, gehört auch die Ukraine.[15]
Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob einzelne regionale Profile in der Osteuropäischen Geschichte als Gunst- oder Risikofaktor auf dem Weg zu einer Professur zu identifizieren sind. Meines Erachtens gibt es keine Region, die unter der Hand als Risikofaktor für eine Karriere gehandelt werden würde. Man könnte allenfalls mutmaßen, dass eine häufig gewählte und scheinbar sichere Variante auf dem Weg zu einer Professur in der Osteuropäischen Geschichte in der Kombination von Qualifikationsschriften über das späte Zarenreich und einen Zeitabschnitt sowjetischer Geschichte besteht. Zumindest gibt es eine ganze Reihe von Lehrstühlen, auf die Wissenschaftler mit einem solchen Profil berufen wurden.
Ein zweiter Blick relativiert dieses Phänomen. Denn seit die russländische und die sowjetische Geschichte als die Vergangenheit von Vielvölkerreichen und Imperien akzeptiert werden, differenzieren sich auch die regionalen Schwerpunkte in der Russland- und Sowjetunionforschung aus. Erwähnt seien exemplarisch die Arbeiten von Maike Lehmann über Armenien als sowjetische Nation seit 1945, über Zentralasien von Julia Obertreis über Bewässerung und Baumwollanbau sowie von Jörn Happel über den Aufstand von 1916, von Malte Rolf über das russländische Teilungsgebiet Polens, von Felix Schnell über Gewalträume in der Ukraine sowie von Jörg Baberowski über den Kaukasus im Stalinismus.[16] Vom Karriererisiko Ukraine kann ebenso wenig die Rede sein wie von einer russozentrierten Osteuropäischen Geschichte, die vom imperialen turn vollkommen unberührt ist.
Subjektstatus der Ukrainer
Ein weiterer Kritikpunkt von Anna Veronika Wendland lautet, in Deutschland habe bislang niemand gelernt, die Ukraine und die Ukrainer als Subjekte anzuerkennen. Stattdessen herrsche ein geopolitischer Fatalismus vor, der die Ukraine allein als Streitobjekt anderer Einheiten kenne:
Es ist die Renaissance eines geopolitischen Fatalismus, der uns als Realismus verkauft wird. Hauptmerkmal dieses vermeintlichen Realismus ist das Denken in Einflusssphären, die als quasi-naturgesetzlich imaginiert werden. In dieser Optik wird die Ukraine ausschließlich als Objekt des Handelns mächtiger äußerer Kräfte und als territorialer Zankapfel wahrgenommen.[17]
Weiter heißt es da:
Prinzipiell verstanden Beobachter aller Couleur die Ukraine jedoch, je nach Position, als legitimen Teil der russländischen Einflusssphäre oder als Spielfläche amerikanischer, europäischer und russländischer Ambitionen. Sämtliche Fehleinschätzungen der politischen, ethnischen und sozialen Gegebenheiten in der heutigen Ukraine gehen auf diese Denkfigur zurück. Man hat in Deutschland nie gelernt, die Ukrainer als Subjekte ihrer Geschichte wahrzunehmen, die ihre Geschichte selbst machen – wenn auch nicht aus freien Stücken. Es wurde nicht mit der Ukraine gesprochen, es ging immer nur „um“ die Ukraine „zwischen“ anderen Akteuren, um ihre Funktion in einem je nach historischer Perspektive polnisch-russischen, europäisch-russischen oder amerikanisch-russischen Verhältnis.[18]
Diese Einschätzung trifft mit Sicherheit zu, wenn es um Teile des politischen Spektrums und der Medien geht. Erst recht in den Online-Foren und -Kommentaren war und ist eine geopolitische Simplifizierung zu beobachten, die ihresgleichen sucht. So weit, so schlecht. Jedoch verknüpft Anna Veronika Wendland auch diesen Befund mit dem vermeintlichen Versagen der Historiographie. So gerät der Podiumstitel „Der Konflikt um die Ukraine“ des Historikertags 2014 in Göttingen in das Fadenkreuz der Polemik.[19] Unterstellt dieser Titel wirklich, die Ukrainer gehörten gegenwärtig nicht zu den Handelnden? Wenn Ukrainer sich auf dem Majdan und in Wahlen für eine demokratische und europäische Ukraine aussprechen und Putin daraufhin in der Ukraine interveniert, was soll das anderes sein als ein Konflikt zwischen Ukrainern und Putin um die Ukraine, ihre Verfassung und ihre Werte? Um weitere Belege für den geopolitischen Fatalismus in der Historiographie herbeizuschaffen, muss in einer Fußnote ein Verweis auf einen Buchtitel von mir herhalten, der lautet: Polen und Russland im Streit um die Ukraine. Konkurrierende Erinnerungen an die Kriege des 17. Jahrhunderts in den Jahren 1934 bis 2006.[20] Anna Veronika Wendland zufolge hätten die Resultate des Buches auch einen anderen Titel gerechtfertigt: Die Ukrainer im Streit um Polen und Russland.[21] Wissenschaftlich lässt sich trefflich um die Prägnanz des Titels diskutieren. Der alternative Titelvorschlag trifft den Inhalt des Buches jedoch noch weniger als der von mir gewählte. Verwahren möchte ich mich gegen den Versuch, meinen Titel als Dokument einer Renaissance geopolitischen Fatalismus in Anspruch zu nehmen. Das Buch teilt explizit den Imperativ, die Ukrainer als Subjekte ihrer Geschichte zu beschreiben. Wenn ich etwas an dem Buch bedauere, dann dass es fertig wurde, bevor eine Reihe ukrainischer Historienfilme über die Kosakenzeit in die Kinos kamen. Sie bestätigen die Konzeption des Buches, ukrainische Artefakte als Reaktionen auf polnische und russische Lesarten ukrainischer Vergangenheit zu begreifen. 2009 kamen parallel zwei Verfilmungen von Gogolʼs Taras Bulba in die Kinos: in Russland von Vladimir Bortko und in der Ukraine unter dem Titel Duma pro Tarasa Bul’bu von Evgenij Bereznjak und Petr Pinčuk. Bereits 2008 war unter der Regie von Mykola Maščenko der Film Bohdan-Zynovyj Chmel’nyc’kyj erschienen, der sich als Gegenerzählung zu Jerzy Hoffmans Verfilmung von Ogniem i mieczem von 1999 lesen lässt. Maščenkos Bohdan-Zynovyj Chmel’nyc’kyj teilt mit Hoffmans Ogniem i mieczem die filmische Machart des althergebrachten Historienfilms. Er erzählt die Geschichte jedoch aus einer exklusiv ukrainischen Perspektive, die sich der polnischen Mythologie entgegenstellt.[22]
Der Vorsatz, Menschen als Subjekte zu beschreiben, die handeln und verschiedene Optionen haben, speist sich in der Geschichtswissenschaft aus mehreren Quellen. Dazu gehören die Postcolonial Studies wie alle Arbeiten, die seit den 1990er Jahren aus Unbehagen an den anonymen Strukturen der Sozialgeschichte den Menschen in den Mittelpunkt der Geschichtsschreibung gerückt haben.[23] Die ukrainische Selbständigkeit 1991, die Orange Revolution 2004 und der Majdan 2013/14 haben das ihre dazu beigetragen, nach der Geschichte ukrainischer Staatlichkeit und nach Ukrainern als dem Subjekt der Geschichte zu fragen. Es hieße jedoch, das Kind mit dem Bade auszuschütten, wenn dabei die erheblichen Machtasymmetrien aus der Geschichte der Ukraine getilgt würden. Die rahmensetzende Herrschaft des Russländischen Reiches und der Habsburgermonarchie, der Zweiten Polnischen Republik und der Sowjetunion sowie die mit dem Anspruch auf Deutungsmacht einhergehenden polnischen und russischen Lesarten ukrainischer Geschichte bis in die Gegenwart dürfen nicht aus dem Blickfeld der Analyse verschwinden. Das Diskussionsforum, das im Ukrajin’skyj Istoryčnyj Žurnal seit 2012 Beiträge über ein neues Narrativ ukrainischer Geschichte bringt, trägt dem Rechnung. Diskutiert werden bislang vor allem die räumlichen Maßstäbe ukrainischer Geschichte, die vom lokalen und regionalen über das nationale bis zum europäischen und weltgeschichtlichen Kontext reichen.[24] Auch konkurrierende Nationsbildungen und die ukrainische Verflechtungsgeschichte sind Teil der Debatte.[25]
Geschichte der Ukraine und transregionale Geschichte Osteuropas
Dass die Ukraine historisch beides ist, Osteuropa und Ostmitteleuropa, wäre eine herrliche Chance für eine integrierte Osteuropaforschung. Die Räume und Geschichtsregionen im Inbetween werden in Sonntagsreden zur Transnationalität, Interdisziplinarität und postkolonialen Sensibilisierung unsrer Forschung immer wieder beschworen.[26]
Dem ist unbedingt zuzustimmen. Wenn die anvisierte „polyphone Geschichte des Territoriums und Landes Ukraine“[27] geschrieben werden soll, um dieses Inbetween aus den Sonntagsreden in die Forschung zu holen, stellt sich allerdings die Frage, wie vielstimmig die Polyphonie sein soll, in welchem konzeptionellen Rahmen sie stehen und wie sie institutionalisiert sein sollte.[28] Zwar gibt es „keine Universität mit osteuropahistorischer Abteilung, in der die Geschichte der Ukraine wirklich etabliert wäre“.[29] Andrij Portnov hat jüngst vorgeschlagen vor, Ukrainestudien in Deutschland zu institutionalisieren, im Idealfall in einem eigenen Institut.[30]
Doch ob der Sache gedient wäre, wenn allein ein Ort in Deutschland für die Ukraine zuständig wäre, sei dahingestellt. Das könnte andernorts als Entlassung aus der Zuständigkeit für die Ukraine gedeutet werden. Konzeptionell ist es von Vorteil, dass die Osteuropäische Geschichte als Disziplin eine gesellschafts-, staaten-, nationen- und imperienübergreifende Großregion behandelt. Die Lehre trägt dem Rechnung. Zwar ist nicht unbedingt jede Veranstaltung als eine zur ukrainischen Geschichte gekennzeichnet. Die Vergangenheit der Ukraine ist jedoch integraler Teil des Lehrpensums. Eine systematische Auswertung der Vorlesungsverzeichnisse und eine Umfrage unter Kolleginnen und Kollegen würden vermutlich ergeben, dass ukrainische Geschichte in der Lehre häufiger behandelt wird und nicht nie, wie die Unterstellung lautet.
In der Tat wäre es vielversprechend und faszinierend, die Geschichte der Ukraine quer zu den gewohnten Subregionen Osteuropäischer Geschichte zu lesen. Osteuropäische Geschichte sollte dann jedoch auch ähnliche Fälle behandeln. Analog zur Ukraine als Region, in der sich der ostmitteleuropäische Geschichtsraum und der osteuropäische mit Russland im Zentrum überlagern, wären weitere Kontaktzonen der Osteuropäischen Geschichte relevant, die nicht zu den etablierten Subregionen gehören: das Baltikum zwischen Russland, Ostmitteleuropa und Nordosteuropa; Ungarn zwischen Ostmittel- und Südosteuropa; das Schwarze Meer und der Kaukasus, welche die Geschichten Südosteuropas, Russlands und des Osmanischen Reiches verbinden sowie Zentralasien und der Ferne Osten, die zwischen Russland und Asien vermitteln.
In diesem Rahmen sollte die Geschichte der Ukraine unbedingt ihren festen Platz in der Osteuropäischen Geschichte haben.
Anlass zu entsprechenden Hoffnungen gibt das seit einigen Semestern zu beobachtende steigende Interesse der Studierenden an der Geschichte der Ukraine. Wenn die Slavistik – wie etwa an der Universität München – über ein Ukrainisch-Lektorat verfügt oder Studierende das Angebot des Ukrainicums in Greifswald nutzen, um sich Grundlagen des Ukrainischen anzueignen, sind die Voraussetzungen nicht so schlecht wie landläufig angenommen. Solange ein Ukraine-Institut an deutschen Hochschulen fehlt, könnte die Vernetzung von Ukraine-Kompetenzen nach dem Modell der Tagung deutscher Polenforschung ein sinnvoller Ansatz sein.
Mit der deutsch-ukrainischen Historikerkommission existiert eine Einrichtung, die der Geschichte der Ukraine in Wissenschaft und Öffentlichkeit zu mehr Aufmerksamkeit verhelfen kann. Wenn entsprechende Bemühungen zur Gründung eines Ukraine-Instituts führen, ist das sicherlich begrüßenswert. Bis auf weiteres wäre schon viel gewonnen, wenn wir nicht wie die Judäische Volksfront und die Volksfront von Judäa im Leben des Brian übereinander herfallen.
[1] Anna Veronika Wendland: Hilflos im Dunkeln. „Experten“ in der Ukraine-Krise: eine Polemik; in: Gefährliche Unschärfe. Russland, die Ukraine und der Krieg im Donbass. Berlin 2014 [= Osteuropa, 9–10/2014], S. 13–33, hier S. 14.
[2] Jörg Baberowski: Zwischen den Imperien. Warum hat der Westen beim Konflikt mit Russland derartig versagt? Weil er nicht im Ansatz die Geschichte der Ukraine begreift. Die Zeit, 12/2014, <http://zeit.de/2014/12/westen-russland-konflikt-geschichte-ukraine>. – Andreas Kappeler: Kleine Geschichte der Ukraine, 4. überarbeitete und aktualisierte Auflage. München 2014. – Kerstin Jobst: Geschichte der Ukraine. Stuttgart 2010. – Serhy Yekelchyk: Ukraine. Birth of a Modern Nation. Oxford 2010.
[3] Wendland, Hilflos [Fn. 1], S. 14.
[4] Wendland, Hilflos [Fn. 1], S. 30.
[5] <www.gs-oses.de>.
[6] Wendland, Hilflos [Fn. 1], S. 30.
[7] Franziska Davies: Die Ukraine – eine künstliche Nation. Der Freitag, 1.4.2014,
<https://freitag.de/autoren/franziska-davies/die-ukraine-eine-kuenstliche-nation>. – Jana Osterkamp: Zukunft der Ukraine. Eine simple Zweiteilung wäre nicht ausreichend. FAS, 11.5.2014, S. 12. – Jan C. Behrends: Der Ukrainekonflikt. Einige Bemerkungen aus zeithistorischer Perspektive. Zeitgeschichte-online, März 2014, <http://zeitgeschichte-online.de/ kommentar/der-ukrainekonflikt-einige-bemerkungen-aus-zeithistorischer-perspektive>. – Wilfried Jilge hat sich mehrfach in den Medien geäußert, z.B. im ARD Wochenspiegel 29.6.2014, <www.tagesschau.de/multimedia/video/video-5532.html>.
[8] <https://euromaidanberlin.wordpress.com/2014/04/08/deutsche-gesellschaft-fur-osteuropakunde/ #more-1556>.
[9] Der Aufruf der 60: <http://zeit.de/politik/2014-12/aufruf-russland-dialog>. –
Der Aufruf der 100 Osteuropa-Experten: <http://tagesspiegel.de/politik/gegen-aufruf-im-ukraine-konflikt-osteuropa-experten-sehen-russland-als-aggressor/11105530.html>.
[10] Gerhard Simon in der Tagesschau, 4.3.2014, <http://tagesschau.de/multimedia/video/video 1376842.html>. – Karl Schlögel im ZDF-Morgenmagazin, 5.3.2014, <http://zdf.de/ ZDFmediathek/beitrag/video/2103790/Kein-wirklicher-Ukraine-Konflikt-#/beitrag/video/2103790/ Kein-wirklicher-Ukraine-Konflikt>. – Benjamin Schenk im SRF, 11.5.2014:
<http://srf.ch/play/tv/news-clip/video/frithjof-benjamin-schenk-die-zukunft-der-ukraine-entscheidet-sich-ende-mai?id=b137bc8e-1910-437f-965b-16cd8143f7c0>.
[11] Einige Beispiele: Gerd Koenen: Russland ist kein Bär, sondern eine Sau, die ihre Jungen auffrisst. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.9.2014. – Karl Schlögel: Schläfrig geworden. Die Welt, 8.12.2014. – Andreas Kappeler: In Kiew entstand die Nation. Die Zeit, 3.4.2014.
[12] Exemplarisch Ulrich Schmid: Eine neue Kunstfigur des Kreml. Der Donbass-Kämpfer Igor Strelkow bringt sich ideologisch gegen Michail Chodorkowski in Stellung. NZZ, 2.11.2014.
[13] Wendland, Hilflos [Fn. 1], S. 31.
[14] Kerstin Jobst: Zwischen Nationalismus und Internationalismus: die polnische und ukrainische Sozialdemokratie in Galizien von 1890 bis 1914. Ein Beitrag zur Nationalitätenfrage im Habsburgerreich. Hamburg 1996. – Dies.: Geschichte der Ukraine. Stuttgart 2010. – Tanja Penter: Odessa 1917. Revolution an der Peripherie. Köln 2000. – Dies.: Kohle für Stalin und Hitler. Arbeiten und Leben im Donbass 1929–1953. Essen 2010.
[15] Karte auf der Webseite des Herder-Instituts:
<http://herder-institut.de/forschung-projekte.html>.
[16] Maike Lehmann: Eine sowjetische Nation. Nationale Sozialismusinterpretationen in Armenien seit 1945. Frankfurt/Main 2012. – Jörn Happel: Nomadische Lebenswelten und zarische Politik. Der Aufstand in Zentralasien 1916. Stuttgart 2010. – Jörg Baberowski: Der Feind ist überall. Stalinismus im Kaukasus. München 2003. – Felix Schnell: Räume des Schreckens. Gewalträume und Gruppenmilitanz in der Ukraine 1905–1933. Hamburg 2012. – Malte Rolf: Imperiale Herrschaft im Weichselland. Das Königreich Polen im Russischen Imperium (1864–1915). München 2015. – Julia Obertreis: Imperial Desert Dreams. Cotton Growing and Irrigation in Uzbekistan and Turkmenistan, 1860s–1991, unveröffentlichte Habilitationsschrift, eingereicht im Oktober 2011 an der Philosophischen Fakultät der Universität Freiburg.
[17] Wendland, Hilflos [Fn. 1], S. 25, 26.
[18] Wendland, Hilflos [Fn. 1], S. 27.
[19] Wendland, Hilflos [Fn. 1], S. 27.
[20] Martin Aust: Polen und Russland im Streit um die Ukraine. Konkurrierende Erinnerungen an die Kriege des 17. Jahrhunderts in den Jahren 1934 bis 2006. Wiesbaden 2009.
[21] Wendland, Hilflos [Fn. 1], S. 27, Fn. 28.
[22] Martin Aust: Wojny kozackie w polskiej, ukraińskiej i rosyskiej kulturze historycznej, in: Dialog kultur pamięci w regionie ULB. Pod redakcją Alvydasa Nikžentaitisa i Michała Kopczyńskiego. Warszawa 2014, S. 247–254.
[23] Sebastian Conrad, Shalini Randeria: Geteilte Geschichten. Europa in einer postkolonialen Welt, in: Dies. (Hg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. Frankfurt/Main 2002, S. 9–49. – Thomas Welskopp: Der Mensch und die Verhältnisse. „Handeln“ und „Struktur“ bei Max Weber und Anthony Giddens, in: Ders., Thomas Mergel (Hg.): Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte. München 1997, S. 39–70. – Volker Depkat: Autobiographie und die soziale Konstruktion von Wirklichkeit, in: Geschichte und Gesellschaft, 29/2003, S. 441–476. – Julia Herzberg: Gegenarchive. Bäuerliche Autobiographik zwischen Zarenreich und Sowjetunion. Bielefeld 2013.
[24] Den Auftakt machte V.A. Smolij: Sučasnyj ukrajins’kyj grand-naratyv: pidchody, koncepciji, realizija. Laboratorija ukrajin’skoho naratyvu, in: Ukrajin’skyj Istoryčnyj Žurnal, 5/2012, S. 4, 5. Seitdem ist in jeder Ausgabe ein Beitrag zu dieser Rubrik erschienen.
[25] V.A. Potul’nyc’kyj: Ščodo doslidnyc’kykh priorytetiv u spravi stvorennja novoho akademičnoho syntezy ukrajin’skoji istoriji v konteksti istoriji svitovoji, in: Ukrajin’skyj Istoryčnyj Žurnal, 1/2014, S. 4–20, hier S. 15.
[26] Wendland, Hilflos [Fn. 1], S. 31.
[27] Ebd.
[28] Andreas Kappeler, Russland und die Ukraine. Verflochtene Biographien und Geschichten. Wien 2012. – Georgiy Kasianov, Philipp Ther (Hg.): A Laboratory of Transnational History. Ukraine and Recent Ukrainian Historiography. Budapest 2009. – Anna Veronika Wendland: Ukraine transnational. Transnationalität, Kulturtransfer, Verflechtungsgeschichte, in: Andreas Kappeler (Hg.): Die Ukraine. Prozesse der Nationsbildung. Köln 2011, S. 51–66.
[29] Wendland, Hilflos [Fn. 1], S. 31.
[30] Andriy Portnov about the New Ukrainian Studies: <www.historians.in.ua>.
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