Einheit und Identität
Sprachenpolitik nach dem Majdan
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Abstract in English
Abstract
In einem multinationalen Land wie der Ukraine ist die Sprachenfrage ein sensibles Thema. Schnell wird Sprache zum Politikum. Das zeigte der ungeschickte Versuch, kurz nach dem Sturz Viktor Janukovyčs das Sprachengesetz von 2012 aufzuheben und den Status des Russischen abzuwerten. Dies war Wasser auf die Mühlen der Gegner des Majdan. Die Ukraine braucht eine neue Sprachenpolitik. Ausgangspunkt müssen die Menschenrechte sein. Eine positive Einstellung zur sprachlichen Vielfalt und zur besonderen Rolle des Ukrainischen als Symbol der nationalen Unabhängigkeit sollte Kernelement der Sprachenpolitik sein. Es gilt, die russischsprachigen Bürger ihrem Land nicht zu entfremden und gleichzeitig Bedingungen für eine bessere Beherrschung und breitere Verwendung des Ukrainischen zu schaffen.
(Osteuropa 5-6/2014, S. 227238)
Volltext
Soll man in Kriegszeiten Diskussionen über trennende Fragen aufschieben? Patriotisch gesinnte Ukrainer, die sich gegenwärtig vor allem darüber Gedanken machen, was Russlands Aggression auf der Krim und in der Südostukraine entgegengesetzt werden könnte, plädieren dafür, vorerst nicht über sprachliche, religiöse und politische Differenzen in der ukrainischen Gesellschaft zu sprechen. Sie fordern, man solle sich auf den Kampf gegen den äußeren Feind und seine Kollaborateure konzentrieren. Allerdings hat die gerade die Bedrohung der Einheit des Landes der Frage nach dem Status der russischen Sprache neue Aktualität verliehen. Dieser Status sollte die Einheit fördern und die ukrainische Identität nicht bedrohen.
Die Sprachenfrage ist vor allem durch das ungeschickte Handeln der Interimsregierung und der Verchovna Rada nach dem Majdan zu einem der wichtigsten Themen der öffentlichen Debatte geworden. Am 23. Februar 2014, unmittelbar nach dem Sturz Viktor Janukovyčs, stimmte die neue Mehrheit in der Verchovna Rada, dem ukrainischen Parlament, für die Aufhebung des geltenden Sprachengesetzes aus dem Jahr 2012. Das Russische sollte seinen Status als „Regionalsprache“ wieder verlieren. Dies bot den Gegnern der neuen Regierung in der Ukraine und außerhalb des Landes eine willkommene Vorlage für heftige Kritik.
Das von den Abgeordneten der Partei der Regionen Sergej Kivalov und Vadim Kolesničenko eingebrachte Sprachengesetz aus dem Jahr 2012 hatte jede Sprache, die in einer Region von mindestens zehn Prozent der Bevölkerung gesprochen wird, zu einer Regionalsprache erklärt und so deren Verwendung im Alltag erleichtert. Dies führte insbesondere zur Aufwertung des Russischen. Das Gesetz war trotz massiver Proteste der Hüter der ukrainischen Sprache und unter Missachtung der Geschäftsordnung des Parlaments verabschiedet worden und wurde schlagartig zu einem Symbol der antidemokratischen und antiukrainischen Politik des Janukovyč-Regimes.
Nach dem Sturz von Janukovyč versprachen viele Politiker der offen nationalistischen Partei Svoboda (Freiheit) und der nationalkonservativen Bat’kivščyna (Vaterland) eine rasche Aufhebung dieses Gesetzes. Sie wollten ihren Wählern wohl auf ähnliche Weise demonstrieren, dass sie sich um die ukrainische Sprache bemühen, wie Viktor Janukovyč zwei Jahre zuvor mit einem Sprachengesetz unter Beweis zu stellen versucht hatte, dass er sich um die Bedeutung des Russischen kümmert.
Keine Gedanken hatten sich diese Politiker offenbar darüber gemacht, wie die russischsprachigen Bürger im Osten und Süden der Ukraine, die bereits Janukovyčs Absetzung nicht mit Wohlwollen aufgenommen hatten, auf die Herabsetzung des Status ihrer Sprache reagieren würden. Nicht einmal die Tatsache schien sie zu beeindrucken, dass mit der Aufhebung des Sprachengesetzes von 2012 das sowjetische Sprachengesetz aus dem Jahr 1989 wieder in Kraft tritt. Dieses hatte dem Russischen zwar den untergeordneten Status einer „Sprache der interethnischen Kommunikation“ in der Ukraine (und einer Sprache der Kommunikation zwischen den Völkern der UdSSR) verliehen. Doch aufgrund zahlreicher ungenauer Formulierungen gestattete es den Gebrauch des Russischen in den meisten Bereichen des öffentlichen Lebens neben oder sogar anstelle des Ukrainischen, je nachdem wie die entsprechenden Regelungen ausgelegt wurden.[1]
Die Reaktion der russischsprachigen Bevölkerung ließ nicht lange auf sich warten. Die Gegner der neuen Regierung ließen eine derart günstige Gelegenheit nicht verstreichen, jene zu diskreditieren, die sie von den Schalthebeln der Macht und den Finanztöpfen verdrängt hatten. Einflussreiche Politiker aus der Ost- und Südukraine stellten die Aufhebung des Gesetzes von 2012 in den von ihnen kontrollierten Medien als Ausdruck der Feindseligkeit der neuen Regierung gegenüber den russischsprachigen Bürgern dar. Moskau, das schon seit Jahren darauf gedrängt hatte, der russischen Sprache den Status einer zweiten Amtssprache zu verleihen, und die Aufwertung des Russischen zur einer „Regionalsprache“ 2012 als ersten Schritt in die richtige Richtung begrüßt hatte, sprach von einer Unterdrückung der russischsprachigen Bevölkerung.
Als nun die Hüter der ukrainischen Sprache versuchten, den Status des Russischen wieder abzuwerten, forderte die Gegenseite nun erst recht, den Status des Russischen zu erhöhen. Somit hat die Sprachenfrage zum wiederholten Male eine politische Aktualität gewonnen, obwohl sie angesichts der ökonomischen Krise und des drohenden Kriegs für die meisten Ukrainer eher unwichtig ist.
Selbst ukrainischsprachige Intellektuelle, die sich zwei Jahre zuvor gegen Janukovyčs Sprachengesetz ausgesprochen hatten, kritisierten den Beschluss zu seiner Aufhebung scharf. Angesichts der Bedrohung der territorialen Integrität der Ukraine bewerteten sie die Aufhebung des Gesetzes als gefährlich. Eine Gruppe bekannter Lemberger Intellektueller rief die Regierung und die Öffentlichkeit auf, „nicht zuzulassen, dass politische Randgruppen mit Blut spekulieren und die territoriale Einheit unseres Landes aufs Spiel setzen“. Dieser Appell richtete sich offensichtlich gegen die Führung von Svoboda, die mit dem Kampf für die ukrainische Sprache nationalistisch gesonnene Wähler hinter sich scharen wollte.
Am 26. Februar 2014 bekundeten ukrainischsprachige Bürger in L’viv ihre Solidarität mit den russischsprachigen Bürgern im Osten. Die Teilnehmer an einem Flashmob verpflichteten sich, öffentlich und privat einen Tag lang nur Russisch zu sprechen.[2] Einige prominente ukrainischsprachige Intellektuelle unterstützten ihre russischsprachigen Kollegen durch einen Aufruf, Russisch zur zweiten Amtssprache oder offiziellen Regionalsprache zu machen. Sie betonten, dass ein derartiger Schritt die nationale Einheit und Unabhängigkeit stärken würde. In der Aufwertung des Russischen sahen sie auch eine Geste des Dankes an jene Russischsprachigen, die sich als ukrainische Patrioten gezeigt und die Moskauer Behauptung, die Rechte von „Landsleuten“ würden verletzt, zurückgewiesen hatten.[3]
Die Welle der Kritik zwang die Politiker der Parlamentsmehrheit zur Rechtfertigung und zum Rückzug. Selbst Svoboda-Chef Oleh Tjahnybok, erklärte, dass seine Partei nicht die Absicht hat, den Gebrauch des Russischen zu verbieten, sondern lediglich ein schlechtes und mit prozeduralen Mängeln verabschiedetes Gesetz aufheben wollte, um so schnell wie möglich ein neues zu verabschieden, das es allen Bürgern ermöglichen würde, ihre jeweilige Sprache frei zu gebrauchen. Interimspräsident Oleksandr Turčynov beschloss, nicht zu warten, bis das Parlament ein solches neues Gesetz verabschieden würde, sondern legte sein Veto gegen die Aufhebung des schlechten alten ein. Damit blieb es in Kraft.
Die Parlamentarier hielten derweil an ihrem Plan fest, so schnell wie möglich ein neues Gesetz zu verabschieden. Andernfalls hätten sie das Sprachengesetz von 2012 rückwirkend legitimiert. Dies wäre für viele Anhänger der Parteien der neuen Mehrheit nicht hinnehmbar gewesen wäre. Daher beschloss das Parlament Anfang März 2014 die Einsetzung einer Arbeitsgruppe aus Abgeordneten und Experten, die innerhalb eines Monats einen Gesetzesentwurf ausarbeiten sollten.
Obwohl Vertreter aller Fraktionen an der Kommission beteiligt waren, wurde das Vertrauen in diese Kommission vom ersten Moment an durch zwei Personalien getrübt. So wurde nicht nur ein Vertreter der radikalen Svoboda Vorsitzender, sondern auch noch die Sprachextremistin Iryna Farion in die Kommission berufen. Farion ist bei den Anhängern der russischen Sprache ungefähr so angesehen wie Vadim Kolesničenko bei den Hütern des Ukrainischen.[4] Die Arbeit der Gruppe wurde vor allem dadurch behindert, dass die meisten Mitglieder nicht an ihren Sitzungen teilnahmen. Ende Mai 2014 hatte die Kommission dem Parlament den versprochenen Gesetzesentwurf noch nicht vorgelegt.
Selbst die beschwichtigenden Erklärungen der Vertreter der parlamentarischen Mehrheit, die versprechen, mit einem neuen Sprachengesetz würden alle Probleme beseitigt, enthalten besorgniserregende Zwischentöne. Turčynov etwa versicherte, dass das neue Gesetz „eine Möglichkeit für die Entwicklung aller Sprachen biete“ und dass es
in der Ukraine keinerlei Einschränkungen nach sprachlichen oder nationalen Kriterien geben werde, ebenso wenig wie danach, wer in welche Kirche geht oder wer welcher Konfession angehört.[5]
Diese Äußerung zeigt, dass es Turčynov offenbar an einem Grundverständnis für die Bedeutung von Sprache in einem demokratischen Staat mangelt. Bei der Religion lassen sich die staatliche und die private Sphäre klar voneinander trennen. Die Rolle des Staates kann darauf beschränkt werden, allen Bürgern die gleichen Rechte zu garantieren, unabhängig davon, in welche Kirche sie gehen – oder auch nicht gehen. Eine derartige Trennung ist bei der Sprache unmöglich, da das Funktionieren eines Staates unabdingbar mit dem Gebrauch einer bestimmten Sprache oder mehrerer Sprachen verbunden ist. Deshalb bedarf es auch eines eigenen Sprachengesetzes – oder spezifischer Regelungen für einzelne gesellschaftliche Bereiche – und nicht nur eines Paragraphen in der Verfassung, der Diskriminierung aufgrund des Gebrauchs einer bestimmten Sprache verbietet.
Sprache und Staat
Ein moderner Staat kann nur durch die Interaktion mit seinen Bürgern funktionieren. Die Wahl einer Amtssprache bedeutet daher zwangsläufig, dass den Bürgern in ihrem Sprachgebrauch gewisse Beschränkungen auferlegt werden und folglich auch ihre Rechte geschützt werden müssen. Ein Sprachengesetz sollte nicht nur den faktischen Sprachgebrauch regeln, sondern auch eine symbolische Garantie für das Recht auf den Gebrauch der Sprache sein. Es definiert den Status der Sprachen und sichert die Legitimität und Würde der Sprecher. Denn die Bürger nehmen an, dass ein Gesetz den Sprachen einen sicheren Status verleiht. Dies ist auch der Grund, weshalb gerade die Statusfrage bei den Debatten über frühere Gesetzesentwürfe am heftigsten diskutiert wurde. Allerdings scheinen sich viele Politiker der Tragweite dieser Aufgabe nicht bewusst zu sein.
So entspricht es der aktuellen Sprachsituation und den gesellschaftlichen Erwartungen nicht, wenn etwa Oleh Tjahnybok versprach, dass die Mehrheitsfraktionen gemeinsam mit „Vertretern der nationalen Minderheiten im Parlament“ in nächster Zeit ein neues Sprachengesetz verabschieden werde, „das alle zufriedenstellen wird. Ich versichere, dass keine nationale Minderheit unterdrückt werden wird, auch nicht in der Sprachenfrage.“[6] Diese Aussage zeugt davon, dass Tjahnybok davon ausgeht, dass eine Gesellschaft aus einer nationalen Mehrheit sowie nationalen Minderheiten besteht. In dieser Vorstellung kann jede Bevölkerungsgruppe im Privatleben ihre jeweilige Sprache versprechen, in der offiziellen Kommunikation muss jedoch vor allem die Sprache der Mehrheit verwendet werden – außer in bestimmten Bereichen, in denen auch die Sprachen der zahlenmäßig stärksten Minderheiten gestattet sind.
Dieses Verständnis steht weitgehend in Einklang mit dem Sprachgebrauch in den stabilen Nationalstaaten Europas, entspricht aber nicht der Situation in den postkolonialen und postimperialen Ländern, wo ein Großteil der Bevölkerung eine andere Sprache als die Sprache der Titularnation spricht und wo zudem Sprache und ethnische Zugehörigkeit nicht unbedingt deckungsgleich sind. In der Ukraine liegen die Dinge so, dass die meisten Menschen, die sich selbst als Ukrainer bezeichnen, vor allem Russisch sprechen. Diese Folge der Russifizierungspolitik des Zarenreichs und der Sowjetunion versuchen die einen Politiker und Intellektuellen zu überwinden, indem sie die Ukraine in Richtung der europäischen „Norm“ führen wollen, während sich die anderen bemühen, den Status quo zu erhalten und in dem Raum zu verbleiben, der aktuell als russkij mir (russische Welt) bezeichnet wird.[7]
Mehr als zwei Jahrzehnte Unabhängigkeit zeigen deutlich, dass es unrealistisch ist, auf einen raschen Wechsel im Sprachgebrauch der russischsprachigen Ukrainer zu hoffen. Nicht nur entsprach die tatsächliche Politik nicht dem Sprachengesetz, wenn etwa nicht einmal Staatsbediensteten untersagt wurde, Russisch zu sprechen. Vor allem widersetzte sich die Mehrheit der russischsprachigen Bürger selbst vorsichtigen Versuchen, sie zu einem Wechsel zum Ukrainischen zu bewegen. Wie Bevölkerungsstatistiken und soziologische Umfragen belegen, gab es dennoch einige Veränderungen zugunsten des Gebrauchs der ukrainischen Sprache oder zumindest ihrer Anerkennung als Muttersprache. Aber vor allem hat sich das Selbstverständnis verändert, was einen Ukrainer zum Ukrainer macht. An die Stelle eines rein ethnonationalen Verständnisses rückt zunehmend ein staatsnationales. Besonders junge Menschen, die nach 1991 geboren wurden oder zumindest ihre politische Sozialisation nach der Unabhängigkeit der Ukraine erfahren haben, bestimmen ihre Identität heute so: „Ich bin Ukrainer, weil ich in der Ukraine lebe.[8]
Russlands Aggression gegen die Ukraine trägt sicher dazu bei, dass dieses staatsnationale oder staatsbürgerliche Bewusstsein stärker werden wird. Damit wird aber auch die Kluft zwischen diesem Staatsverständnis und dem Sprachgebrauch größer. Die größte Herausforderung für die Sprachenpolitik in der Ukraine liegt daher darin, die russischsprachigen Bürger ihrem Land nicht zu entfremden und gleichzeitig Bedingungen für eine bessere Beherrschung und breitere Verwendung des Ukrainischen zu schaffen. Anders ausgedrückt: der russischen Sprache einen für ihre Sprecher akzeptablen Status einzuräumen und zugleich Bedingungen für einen adäquaten Gebrauch des Ukrainischen als Sprache der ukrainischsprachigen Bürger zu schaffen – und als Sprache, die die Einheit einer vielsprachigen Nation symbolisiert.
Amtssprache Russisch?
Einige ukrainische Intellektuelle schlagen vor, dem Russischen den Status einer zweiten Amtssprache zu verleihen. Dies soll die Identifizierung der Russischsprachigen mit dem ukrainischen Staat erleichtern. Die Sprachenfrage verschwinde von der Tagesordnung und Moskau sei ein wichtiges Argument genommen. Die Unabhängigkeit der Ukraine werde so gestärkt, was der Verbreitung der ukrainischen Sprache sogar förderlich sei.
Kritiker solcher Vorschläge argumentieren, auf diese Weise würde die Sprachenfrage gerade wieder in den Vordergrund gerückt. Wenn man die Sprache der Unabhängigkeit opfere, könne man letztendlich beides verlieren. Sie sind überzeugt, dass für jene russischsprachigen Ukrainer, welche die Unabhängigkeit unterstützen, der Status der russischen Sprache von geringer Bedeutung sei und gleichzeitig eine Aufwertung dieses Status Moskau und seine Kollaborateure nicht aufhalten würde.[9]
Zwar steht es außer Frage, dass Moskau die Sprachenfrage in der Ukraine instrumentalisiert. Entscheidend ist dennoch die Suche nach einer Lösung in der Ukraine. Um einschätzen zu können, ob die Entscheidung, Russisch zur zweiten Amtssprache zu machen, tatsächlich dazu beitragen würde, den Streit über die Sprachenfrage zu entschärfen, muss zunächst geklärt werden, ob dieser Schritt den russischsprachigen Bürgern das geben würde, was ihnen wichtig ist, ohne gleichzeitig den ukrainischsprachigen Bürgern das zu nehmen, was ihnen wichtig ist. Denn zu symbolischen und moralischen Dankesgesten wie dem eintägigen Sprachwechsel der Lemberger sind nicht sehr viele Menschen bereit – und auch diese nicht für lange Zeit. Die meisten sind von ihren persönlichen Interessen oder jenen der eigenen ethnischen oder sozialen Gruppe geleitet und nur solange bereit, die Interessen anderer zu berücksichtigen, wie sie ihre eigenen nicht bedroht sehen. Natürlich gehört die Wahrung der Einheit des Landes zu den Schlüsselinteressen vieler Bürger, und zwar nicht nur der ukrainischsprachigen. Aber dieses Interesse ist bei weitem nicht für alle stärker als das Interesse am Erhalt der eigenen Sprache und der Möglichkeit, sie zu sprechen.
Was also wünschen sich die russischsprachigen Bürger am meisten – und sähe die ukrainischsprachige Bevölkerung in der Verwirklichung dieser Wünsche eine Bedrohung ihrer Interessen? Diskussionen in Fokusgruppen sowie Umfragen zeigen, dass die Mehrheit der russischsprachigen Bürger neben einem angemessenen Status des Russischen vor allem daran interessiert ist, Russisch in verschiedenen Lebensbereichen zu verwenden, ohne dass dieser Sprachgebrauch andere daran hindert, das Ukrainische zu gebrauchen.[10] Diskussionsteilnehmer aus Donec’k und Odesa beklagten am häufigsten, dass sie alle möglichen Formulare auf Ukrainisch ausfüllen müssen, dass es kaum Beipackzettel zu Medikamenten auf Russisch gebe oder ihre Kinder den Schulunterricht auf Ukrainisch absolvieren und sogar russische Literatur in ukrainischer Übersetzung lesen müssten.
Die Klage über den Schulunterricht betrifft den staatlichen Bereich, so dass es dem Staat nicht schwerfallen sollte, auf sie zu reagieren: Die freie Wahl der Unterrichtssprache sollte gesetzlich geregelt sein. Die Behörden sollten keinen Druck auf die Eltern ausüben und die Lektüre russischer Schriftsteller im Original zulassen, sofern die Mehrheit der Eltern dies wünscht. Die beiden anderen Beispiele gehören ganz oder teilweise in den Bereich der Privatwirtschaft. Doch der Staat könnte es bei der Zulassung von Medikamenten oder bei der Erteilung anderer Lizenzen zur Bedingung machen, dass Informationen nicht nur wie bisher in der Amtssprache zur Verfügung gestellt werden, sondern auch in einer oder mehreren anderen Sprachen, die im jeweiligen Gebiet verbreitet sind. Das würde den Behörden und Unternehmen etwas mehr Umstände bereiten, aber die Bürger und Verbraucher entlasten.
Der Verbreitung einer Sprache in einem bestimmten Gebiet, gemessen an einem bestimmten Prozentsatz an Sprechern bezogen auf die Gesamtbevölkerung, sollte dadurch Rechnung getragen werden, dass diese Sprache den Status einer lokalen Amtssprache – oder in der derzeit gültigen Terminologie: einer Regionalsprache – erhält. Damit wäre das Recht auf ihren Gebrauch in gesetzlich festgelegten Bereichen garantiert. Obwohl die Mehrheit der russischsprachigen Bevölkerung den prestigeträchtigeren Status einer Amtssprache bevorzugen würde, wäre zumindest für den konstruktiv und patriotisch eingestellten Teil auch ein Status akzeptabel, der ihnen die Möglichkeit garantiert, ihre Sprache zu sprechen, zu schreiben und zu lesen – erst recht, wenn die Regierung überzeugend darlegen kann, dass es sich um einen Kompromiss handelt. Zudem müssten die russischsprachigen Bürger anerkennen, dass diese Möglichkeit auch für die Sprecher des Ukrainischen und in einigen Gebieten auch anderer, dort verbreiteter Sprachen gilt. Die Bürger sollten somit selbstverständlich das Recht haben, die von ihnen bevorzugte Sprache zu wählen. Staatsbedienstete hingegen müssen sowohl die Amtssprache als auch die Regionalsprache beherrschen. Dies ist keine Diskriminierung, sondern ein Ausweis ihrer beruflichen Eignung.
Würde ein derartiger Status der russischen Sprache die ukrainische in ihren Verwendungsmöglichkeiten und Entwicklungsperspektiven bedrohen? Ganz und gar nicht, sofern das Gesetz und die Verwaltung den freien Gebrauch der ukrainischen Sprache gewährleisten, sowie Mittel und Wege finden, deren Nachteile im Wettbewerb mit dem Russischen auf dem freien Markt zu kompensieren und sofern die Möglichkeit existiert, dass das Ukrainische als Symbol nationaler Eigenständigkeit und staatlicher Unabhängigkeit dient.
Wären diese Bedingungen erfüllt, würde das jene ukrainischsprachigen Bürger beruhigen, welche die Marginalisierung des Ukrainischen in den Medien, die verbreitete Ignoranz gegenüber dem Gebrauch des Ukrainischen im Parlament oder in den Behörden beklagen. Vor allem Teilnehmer der Fokusgruppen-Gespräche in L’viv und Luc’k beschwerten sich darüber, dass unter Mitarbeitern staatlicher und nichtstaatlicher Einrichtungen die Praxis weit verbreitet sei, auf Ukrainisch gestellte Fragen Antworten auf Russisch zu geben. Die meisten ukrainischsprachigen Ukrainer würde es nicht stören, wenn Formulare, Beipackzettel oder Speisekarten neben Ukrainisch auch auf Russisch erhältlich wären oder wenn Angestellte jenen, die sie auf Russisch ansprechen, auch auf Russisch antworten würden – solange sie Ukrainischsprechern auf Ukrainisch antworten. Selbst im recht nationalistisch eingestellten Galizien hat die Mehrheit nichts dagegen, dass es in der Ukraine russischsprachige Zeitschriften und Fernsehprogramme gibt. Aber sie hat etwas dagegen, dass die Zahl der ukrainischsprachigen Medien erheblich geringer ist, was es nicht nur erschwert, das gewünschte Produkt in ukrainischer Sprache zu finden, sondern auch den Eindruck der völligen Russifizierung der Medienlandschaft erweckt, was für sie in einem ukrainischen Staat nicht hinnehmbar ist.[11]
Um die Wünsche der ukrainischsprachigen Bürger zu erfüllen, ist es nicht notwendig, den russischsprachigen das zu verwehren, was für sie wichtig ist – oder den russischsprachigen das zu gewähren, was für die ukrainischsprachigen Bürger heikel ist. Die Beachtung bestimmter Quoten von Produktionen und Sendungen in ukrainischer Sprache im Fernsehen oder von ukrainischsprachigen Filmen in den Kinos ist erforderlich. Nur so lässt sich verhindern, dass sie aufgrund des ungleichen wirtschaftlichen Wettbewerbs mit russischsprachigen Produktionen marginalisiert werden. Denn da der transnationale Markt für russischsprachige Produktionen um ein Vielfaches größer ist als der Markt für ukrainischsprachige, haben erstere immer einen komparativen Wettbewerbsvorteil. Alle, die das wünschen, könnten gleichzeitig die entsprechenden Produktionen weiterhin auf Russisch schauen, lesen oder hören. Steuerbegünstigungen für ukrainischsprachige Bücher würden keinen Protest in der russischsprachigen Bevölkerung hervorrufen, solange dieser ausreichend Bücher in ihrer Sprache zur Verfügung stehen, die dann zwar nicht mehr deutlich billiger, aber eben auch nicht teurer wären.
Es hat keinen Sinn, von allen Taxifahrern und Kellnern zu verlangen, dass sie ihre Dienstleistungen auch auf Ukrainisch anbieten. Eine solche Einmischung des Staates in die Privatsphäre von Tausenden Menschen würde Unbehagen und Unzufriedenheit auslösen und dazu führen, dass sie an die „gewaltsame Ukrainisierung“ glauben, von der die Verteidiger der russischen Sprache seit Jahren reden. Der Staat sollte sich jedoch dafür stark machen, dass Dienstleister auf die sprachlichen Präferenzen ihrer Kunden eingehen. Hier geht es um zivilisierte Geschäftsformen und sprachliche Toleranz in der Gesellschaft. Wenn Beamte und Angestellte in den Behörden dagegen die Amtssprache nicht beherrschen oder sie ignorieren, sollte dies nicht als unvermeidbares Übel, sondern als klarer Gesetzesverstoß betrachtet werden. Deshalb sollte die Regierung bei allem Nutzen, den die Ernennung von vermeintlich patriotisch gesinnten Oligarchen wie Ihor Kolomojskyj zum Gouverneur des Gebiets Dnipropetrovs’k und Serhij Taruta zum Gouverneur des Gebiete Donec’k auch bringen mögen, darauf bestehen, dass diese nach einer bestimmten Zeit des Ukrainischen mächtig sind. Das bedeutet nicht, dass sie in der Öffentlichkeit nur Ukrainisch sprechen sollen, da dies von einem Teil der lokalen Bevölkerung wiederum als Respektlosigkeit gegenüber dem Russischen aufgefasst würde.
Diese Anforderungen sollten den sprachlichen Bedürfnissen und der Bevölkerungsstruktur vor Ort entsprechen und somit in Galizien andere sein als im Donbass. Es besteht keinerlei Notwendigkeit, dem Russischen den Status einer Amtssprache zu verleihen, seine Verwendung also auch dort verbindlich vorzuschreiben, wo es kaum gesprochen wird und gleichzeitig die ohnehin schon weit verbreitete Auffassung zu verstärken, dass das Ukrainische in seinem vollwertigen Funktionieren bedroht sei. Die führenden Politiker der neuen Regierung scheinen das zu verstehen, weshalb sie trotz des Drucks aus Moskau und von den Separatisten aus dem Donbass dem Russischen nicht den Status einer Amtssprache in der gesamten Ukraine verleihen wollen, sondern den einer Amtssprache im jeweiligen Verbreitungsgebiet.
National denken, lokal handeln
Genauso sollte auch mit anderen verbreiteten Sprachen verfahren werden, vor allem mit dem Rumänischen, dem Ungarischen, dem Bulgarischen und – da das Gesetz für die gesamte Ukraine und somit auch für die okkupierte Krim gelten sollte – dem Krimtatarischen. Das Gebiet, auf dem diese Sprachen jeweils den Status einer Amtssprache hätten, was das Recht auf ihren Gebrauch garantiert, wäre natürlich analog zur Zahl ihrer Sprecher, weitaus kleiner als für das Russische.
Den Gebrauch von Sprachen in bestimmten sozialen Bereichen zu garantieren, in denen sie zuvor nicht verwendet werden konnten, ist natürlich erst möglich, wenn entsprechendes Personal ausgebildet und die nötige Infrastruktur geschaffen ist, was nicht nur Zeit, sondern auch finanzielle Mittel erfordert. Für diese Sprachen könnten entsprechende gesetzliche Regelungen somit erst nach einer Übergangsperiode in Kraft treten, die klar und verantwortungsvoll umrissen werden sollte, erst recht vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise in der Ukraine. Das Gesetz sollte nicht nur ein Kompromiss, sondern auch realistisch und implementierbar sein. Nur dann lässt sich seine Umsetzung auch einfordern und seine Verletzung bestrafen.
Interessanterweise argumentieren einige Anhänger der Idee, dem Russischen den Status einer Amtssprache zu verleihen, damit würden Vorwürfe, die russischsprachige Bevölkerung werde diskriminiert, der Boden entzogen, während sich an der Sprachpraxis absolut nichts ändern würde, also alle weiterhin dieselben Sprachen wie bisher gebrauchen würden. Anders gesagt, sie sehen einen Vorteil der vorgeschlagenen gesetzlichen Regelungen darin, dass man sie ignorieren könnte. Doch genau das sollte vermieden werden, da eine europäische Demokratie wohl kaum auf dem Ignorieren von Gesetzen gründen kann.
Ironischerweise erfüllt das diskreditierte Sprachengesetz von 2012 viele der genannten Forderungen. Insofern ließe sich auf dieser Grundlage relativ einfach ein für die heutige Ukraine gut zugeschnittenes Gesetz erarbeiten. Das bedeutet jedoch keinesfalls, dass dieses Gesetz adäquat war und so verabschiedet werden musste.[12]
Erstens sah das Gesetz den Gebrauch des Russischen in einem Umfang vor, der einem vollwertigen Funktionieren des Ukrainischen schadete. Nicht nur, weil es mit zehn Prozent Sprechern, die in einem Gebiet eine Sprache sprechen müssen, eine sehr niedrige Schwelle festlegte, um einer Sprache den Status einer Regionalsprache zu verleihen. Dadurch erlangte das Russische diesen Status in der Hälfte des Landes. Vor allem eröffnete es die Chance, dass Russische selbst dort zu gebrauchen, wo es nicht den Status einer Regionalsprache hatte, sei es durch unklare Regelungen, die es gestatteten, „eine der Regionalsprachen“ zu gebrauchen (wie im Bildungsbereich), sei es durch den Verzicht auf eine staatliche Regelung des Sprachgebrauchs, wodurch die Sprache mit dem größeren Markt bevorzugt wurde (wie in den Medien).
Zweitens hätte der gesetzlich vorgesehene Umfang, Russisch und weitere Sprachen nun gebrauchen zu können, nur mit einem erheblichen Finanzaufwand verwirklicht werden können – um zweisprachiges Personal auszubilden, Gesetzestexte zu übersetzen oder Lehrbücher aufzulegen. Zwei Jahre nach Verabschiedung des Gesetzes waren dafür noch keine Mittel im Staatshaushalt zurückgestellt! Letztlich hatte das Janukovyč- Regime aber auch gar nicht vor, dieses Gesetz zu implementieren. Es war verabschiedet worden, um den russischsprachigen Wählern zu zeigen, dass das Wahlversprechen umgesetzt und der Status ihrer Sprache aufgewertet wurde. Dazu musste dieser Status – ganz im Sinne des Minderheitenschutzes – noch 17 weiteren Sprachen verliehen werden. Im Falle der meisten dieser Sprachen bot sich überhaupt nicht die Chance, dass sie in einem Umfang gebraucht würden, der diesem Status auch nur annähernd entsprochen hätte. Nicht zufällig betrafen die Beschlüsse lokaler Behörden über den Status einer Regionalsprache vor allem das Russische. Andere Sprachen erhielten diesen Status nur dort, wo sie ohnehin schon in Gebrauch waren: das Ungarische in einigen Teilen Transkarpatiens und das Rumänische in der Bukowina. Dem Krimtatarischen wurde dieser Status nirgendwo zuteil, obwohl die Sprecherzahl dies in vielen Gegenden der Krim erlaubt hätte.
Anforderungen an ein neues Sprachengesetz
Ein neues Gesetz sollte diese Mängel beseitigen. Die Zahl der Sprecher, die erforderlich sind, um eine Sprache zur Amtssprache zu machen, sollte von zehn auf 20 oder sogar 30 Prozent erhöht werden. Das würde die Zahl der Gebiete mit offizieller Zweisprachigkeit reduzieren. Damit würde auch der finanzielle Aufwand geringer, um den umfassenden Gebrauch der zweiten Sprache auch tatsächlich zu gewährleisten. Der Status als Amtssprache sollte nicht auf regionaler, sondern auf lokaler Ebene festgelegt werden, damit die russischsprachigen Städte im Osten und Süden des Landes ihre Sprache nicht den umliegenden ukrainischsprachigen Dörfern aufzwingen können. Die Entscheidung über den Status einer Sprache sollte nicht nach den offiziellen Bevölkerungsstatistiken, sondern nach dem Willen der Bürger in lokalen Referenden erfolgen. Das Gesetz sollte das Recht auf den Gebrauch der lokalen Amtssprachen für alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens garantieren, aber zugleich eindeutig festlegen, dass sie parallel zur ukrainischen Amtssprache und nicht an ihrer Stelle verwendet werden. Das bedeutet, dass alle Dokumente zweisprachig ausgegeben werden und die Staatsbediensteten – zumindest jene, die im Kontakt zu Bürger stehen – einen Test für beide Sprachen ablegen und den Bürgern verpflichtend in der Sprache antworten müssen, die diese gebrauchen.
Damit künftig ausreichend viele Personen in den verschiedensten Bereichen diese Sprachen gut beherrschen, müssen sie in allen Schulen der entsprechenden Städte und Dörfer unterrichtet werden – wiederum neben dem Ukrainischen. Der Unterricht in den Schulen und den vorschulischen Einrichtungen könnte, je nach dem Wunsch der Eltern, entweder auf Ukrainisch oder in der lokalen Amtssprache – eventuell mit einem ukrainischsprachigen Anteil – oder in beiden erfolgen.
Die Berufsausbildung sollte sich nach dem Bedarf an Fachkräften mit einer entsprechenden Sprachbeherrschung richten. Auch hier gilt es nach Region und Fachgebiet zu differenzieren. Selbstverständlich sollte in jenen Gebieten, in denen keine Minderheitensprache so viele Sprecher hat, dass sie Anspruch auf den Status einer lokalen Amtssprache erheben können, nur der Gebrauch der nationalen Amtssprache gesetzlich garantiert sein. Zugleich sollten bei Bedarf anderssprachige Schulklassen eingerichtet werden, und vor Gericht sollte es gestattet sein, dass für alle, die des Ukrainischen nicht mächtig sind, gedolmetscht wird. Zu guter Letzt sollte ein realistischer Zeitpunkt für das Inkrafttreten der gesetzlichen Verordnungen festgelegt werden, der für die verschiedenen Sprachen und Bereiche, abhängig von der Personalsituation und Infrastruktur, durchaus unterschiedlich sein kann.
Durch die revolutionären Ereignisse auf dem Majdan haben die Vorschläge, die auf der Priorität von Demokratie und Menschenrechten basieren, nicht nur an Aktualität gewonnen, sondern können endlich auch Realität werden. Besonderes Gewicht bekommt das alte ukrainische Bedürfnis, einen Interessenausgleich zwischen den beiden größten Sprechergruppen herzustellen, um Einheit und Stabilität sowie eine postimperiale Emanzipation zu ermöglichen. Einerseits darf man den Gebrauch des Russischen nicht verbieten, um den Osten und Süden des Landes nicht vor den Kopf zu stoßen. Andererseits darf man auch nicht außer Acht lassen, dass durch den Majdan die symbolische Bedeutung des Ukrainischen noch stärker geworden ist.
Diese Balance lässt sich erreichen, indem man sprachliche Anpassung vor allem von den Staatsbediensteten verlangt und nicht von den Bürgern. Den Bürgerinnen und Bürgern sollte so weit wie möglich überall gestattet sein, so zu sprechen, wie sie es wünschen, während die Staatsbeamten in einem gesetzlich festgelegten Rahmen diesen Bedürfnissen entsprechen sollten. Dabei sollte klar sein, dass viele Menschen in verschiedenen Situationen beide Rollen einnehmen können und deshalb nicht nur über die entsprechenden sprachlichen Fähigkeiten, sondern auch ein entsprechendes Rechtsbewusstsein verfügen sollten. Die Herausbildung eines demokratischen Rechtsbewusstseins ist eine wichtige Aufgabe für die neue Regierung und eine aktive Öffentlichkeit, die sich nicht auf den Bereich des Sprachgebrauchs beschränkt.
Bei alldem sollte man nicht vergessen, dass einer gesetzgebenden Regulierung nur die offizielle und institutionelle Kommunikation unterliegt, während in informellen Kommunikationssituationen niemand darauf bestehen kann, dass nur seine Sprache gesprochen wird, oder sich gar in die Kommunikation anderer Menschen einmischen sollte, um sie darauf hinzuweisen, welche Sprache sie in diesem Land, dieser Stadt oder dieser Situation sprechen sollten.
Aus welchem Grund auch immer ein Mensch eine bestimmte Sprache spricht, sei es aus Gewohnheit, sei es, weil er die andere Sprache schlechter beherrscht oder sei es, weil er eine negative Einstellung zu unserer eigenen hat, sollten wir uns dieser Wahl gegenüber tolerant zeigen: Das ist sein gutes Recht, genauso, wie es unser gutes Recht ist, unsere Sprache zu sprechen. Der Gebrauch von zwei Sprachen in einer Unterhaltung ist in der Ukraine längst zur Gewohnheit geworden und allgemein akzeptiert.[13] Die Sprachsituation auf dem Majdan war vor allem durch Toleranz gekennzeichnet, nun müssen wir dafür sorgen, dass diese Toleranz auch in den Geschäften und Straßenbahnen herrscht, vor allem auch im Osten und Süden des Landes, wo dem Ukrainischen immer noch mit Befremden oder gar Feindseligkeit begegnet wird.
Toleranz lässt sich nicht qua Erlass oder durch Kontrollen erreichen, aber das öffentliche Auftreten von Staatsbediensteten, Politikern oder Prominenten könnte sie ebenso fördern wie staatliche Zuschüsse zu Fernsehproduktionen, die beispielhafte Kommunikation zeigen und Vorbildfunktion haben könnten. Eine positive Einstellung zur sprachlichen Vielfalt und zur besonderen Rolle des Ukrainischen als Symbol der nationalen Unabhängigkeit sollten Kernelemente der Sprachenpolitik nach der demokratischen und antiimperialen Revolution des Majdan sein.
Aus dem Ukrainischen von Lydia Nagel, Berlin
· Volodymyr Kulyk (1963), Dr. phil., Politikwissenschaftler, Institut für politische und ethnische Studien der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine, Kiew
Von Volodymyr Kulyk erschien zuletzt in Osteuropa: Gespaltene Zungen. Sprache und Sprachenpolitik in der Ukraine, in: Osteuropa, 2–4/2010, S. 391–402.
[1] Zu diesem Gesetz: Harald Christian Scheu: Die Rechte der russischen Minderheit in der Ukraine. Wien 1997, S. 64–80. – Bill Bowring: Language policy in Ukraine: International standards and obligations, and Ukrainian law and legislation, in: Juliane Besters-Dilger (Hg.): Language Policy and Language Situation in Ukraine: Analysis and Recommendations. Frankfurt/Main 2009, S. 57–100, besonders S. 78–83.
[2] Vo L’vove odin den’ budut govorit’ tol’ko po-russki iz solidarnosti s vostočnymi regionami. Telekanal „Dožd’“, 25.2.2014, <http://tvrain.ru/articles/vo_lvove_odin_den_budut_govorit_ tolko_po_russki_iz_solidarnosti_s_vostochnymi_regionami-363802>.
[3] Solche Vorschläge formulierten etwa der Medienexperte Jevhen Hlibovyc’kyj und der Historiker Serhij Bilen’kyj auf Facebook.
[4] Rada vključyla u movnu komisiju odioznu „šanuval’nicju“ rosijs’koї movy Farion i hrozu dytsadkiv, in: UNIAN, <www.unian.ua/politics/892665-rada-vklyuchila-u-movnu-komisiyu-odioznu-shanuvalnitsyu-rosiyskoji-movi-farion-i-grozu-ditsadkiv.html>.
[5] Turčynov poobicjav poky ne vidminjaty zakon pro movy nacmenšyn,
<www.pravda.com.ua/news/2014/03/3/7017381/>.
[6] Tjahnybok poobicjav pidhotuvaty novyj zakon pro rehional’ni movy. RBK Ukraїna, 23.2.2014, <www.rbc.ua/ukr/news/politics/tyagnibok-poobeshchal-podgotovit-novyy-zakon-o-regionalnyh-23022014132200>.
[7] Volodymyr Kulyk: Gespaltene Zungen: Sprache und Sprachenpolitik in der Ukraine, in: Osteuropa, 2–4/2010, S. 391–402. – Volodymyr Kulyk: Language policies and language attitudes in post-Orange Ukraine, in: Besters-Dilger, Language Policy [Fn. 1], S. 15–55.
[8] All-Ukrainian population census 2001, <http://2001.ukrcensus.gov.ua/eng/>. – Volodymyr Kulyk: Vplyv viku na movni praktyky i ujavlennja hromadjan Ukraїny, in: Naukovi zapysky Instytuty polityčnych i etnonatsional’nych doslidžen’ im. I.F. Kurasa NAN Ukraїny, 64/2013, S. 242–258. – Volodymyr Kulyk: Language and identity in post-Soviet Ukraine: Transformation of an unbroken bond, in: Australian and New Zealand Journal of European Studies, 2/2013, S. 14–23.
[9] Siehe die Diskussion der Facebook-Beiträge von Jevhen Hlibovyc’kyj vom 3. und 4. März 2014.
[10] Volodymyr Kulyk: Language policy in Ukraine: What people want the state to do, in: East European Politics and Societies, 2/2013, S. 279–306.
[11] Volodymyr Kulyk: Language Policy in the Ukrainian Media: Authorities, Producers and Consumers, in: Europe-Asia Studies, 7/2013, S. 1417–1443.
[12] Die folgenden Ausführungen basieren auf meinen Überlegungen, die ich zu verschiedenen Gesetzesentwürfe formuliert habe; Volodymyr Kulyk: Čomu zakon Kolesničenka ne vede do rozv’jazannja movnої problemy, <www.pravda.com.ua/articles/2012/06/4/6965668/>.
[13] Laada Bilaniuk: Language in the balance: The politics of non-accommodation on bilingual Ukrainian-Russian television shows, in: International Journal of the Sociology of Language, 201/2010, S. 105–133.
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