Titelbild Osteuropa 8/2013

Aus Osteuropa 8/2013

„Szczettinstan“ und „Nowa Amerika“
Regionsbildung von unten im deutsch-polnischen Grenzraum

Sebastian Kinder, Nikolaus Roos

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Abstract in English

Abstract

Europäisierung beeinflusst die Integration der innereuropäischen Grenzgebiete. Das zeigt sich auch am deutsch-polnischen Grenzraum. Obwohl dessen sozioökonomische Strukturprobleme gewaltig sind, findet im Großraum Szczecin Regionsbildung von unten statt. Regionale Enthusiasten leisten Pionierarbeit. Sie überwinden Barrieren und schaffen Anlässe, sich mit der Region zu identifizieren. Der gemeinsame Kulturraum, den Initiativen wie „Transkultura“ oder das Kunstprojekt „Nowa Amerika“ verfechten, mutet wie eine bloße Konstruktion an. Doch nach und nach verwandelt sie sich in Realität. Die Grenze in den Köpfen verschwindet.

(Osteuropa 8/2013, S. 3–18)

Volltext

„Eine neue Welt, mithin neue Gesetze,
neue Menschen und eine neue Mentalität.
Keine polnische oder deutsche,
sondern einfach eine einheimische.“
[1]

„Ohne Enthusiasmus, der die Seele
mit einer gesunden Wärme erfüllt,
wird nie etwas großes zu Stande gebracht werden.“
[2]

In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Grenze zwischen Polen und Deutschland fundamental verändert. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden deutsche Territorien dem polnischen Staat angegliedert. Die Bevölkerungsbewegungen von damals beeinflussen bis heute die Alltagskultur. Auf der östlichen Seite der Grenze wurden vorwiegend Menschen aus Zentral- und Ostpolen angesiedelt. Aber auch westlich der Grenze veränderte sich die Bevölkerung erheblich. Während Flüchtlinge und Vertriebene aus den deutschen Ostgebieten in Vorpommern und Brandenburg eine neue Heimat fanden, floh ein bedeutender Teil der ansässigen Bevölkerung vor der sowjetischen Besatzung und später der Zwangskollektivierung. Im polnisch-deutschen Grenzgebiet dauerte es mehrere Generationen, ehe die Menschen einen Sinn für die lokale Gemeinschaft und oder gar Heimatverbundenheit entwickeln konnten.

Regionale Identitätsbildung wurde auch dadurch erschwert, dass der völkerrechtliche Status der Grenzlinie seit ihrer Festlegung 1945 bis zur Bestätigung durch die Bundesrepublik im Jahr 1990 umstritten war. Erst mit der definitiven Anerkennung des Grenzverlaufs wurde das Grenzregime gelockert. 55 Jahre waren die Volksrepublik Polen und die SBZ und DDR Nachbarn. Nur zwischen 1972 und 1980 war es einem größeren Teil der Bevölkerung möglich, die Grenze zu überschreiten. Das strikte Grenzregime verhinderte es ansonsten weitgehend, dass sich die Menschen im Grenzraum begegneten. Die Wende von 1989 machte die Grenze nicht auf einen Schlag durchlässig; die rechtlichen Barrieren wurden schrittweise abgebaut. Die regionale Integration vollzog sich langsam. Erst seit Polen 2007 das Schengener Abkommen ratifizierte, gewinnt sie an Tempo. Das sichtbarste Zeichen war die Demontage der materiellen Befestigung des Grenzstreifens. An den Grenzübergängen wird nicht mehr kontrolliert. Die letzte Barriere fiel im Mai 2011, als die Bundesrepublik die Einschränkung der Freizügigkeit für polnische Arbeitnehmer und Dienstleister aufhob. Heute unterscheidet sich die polnisch-deutsche Grenze kaum mehr von jener zwischen Frankreich und Deutschland. Es herrschen scheinbar „normale“ europäische Verhältnisse.

Die Europäisierung schärft jedoch den Blick für die nach wie vor existierenden Barrieren an den Grenzen innerhalb des Schengenraums. „Europäisierung“ ist einerseits die institutionelle Angleichung der EU-Staaten auf verschiedenen Politikfeldern, andererseits eine spezifische Handlungsorientierung verschiedener Akteure aus Politik und Verwaltung im Grenzgebiet. Zwischen Polen und Deutschland sind die Grenzbefestigungen zwar beseitigt, doch gibt es nur wenige ausgebaute Grenzübergänge. Auch institutionelle Differenzen stellen ein Problem dar. Unterschiede im Aufbau der Behörden, der Verantwortungsstrukturen und der Verwaltungskulturen erschweren eine intensivere und bessere Zusammenarbeit. Hinzu kommt die Kommunikationsbarriere: Nur sehr wenige Deutsche sprechen Polnisch, und in Polen wird Deutsch immer seltener gelernt. Wegen der demographischen und sozialen Struktur im Grenzgebiet wird auch Englisch auf absehbare Zeit nicht zur Verkehrssprache werden. Der öffentliche Austausch von Informationen und Meinungen ist begrenzt. Zwar haben Stiftungen und Vereine grenzüberschreitenden Journalismus gefördert, doch eine gemeinsame polnisch-deutsche Öffentlichkeit in Form von zweisprachigen Zeitungen oder Radios ist die Ausnahme.[3] Das alles macht es schwierig, dass dies- und jenseits der Grenze ein gemeinsames Sozialkapital entsteht, Vertrauen oder gar ein Zusammengehörigkeitsgefühl wächst, das die historischen Animositäten zwischen Polen und Deutschen überwinden kann.

Lokale Eliten im polnisch-deutschen Grenzgebiet vertreten die These, dass mit der Zeit die regionale Integration von ganz alleine erfolgen werde; die Grenzen in den Köpfen ähnlich wie in anderen Grenzgebieten der EU verschwinden würden. Die Forschung hat jedoch gezeigt, dass es kein allgemeingültiges Modell gibt, nach dem sich Grenzräume entwickeln. Vielmehr ist jede Grenzregion durch höchst spezifische Entwicklungspfade gekennzeichnet.[4] Von fundamentaler Bedeutung ist, wer die Triebkräfte grenzüberschreitender Integration sind. Im polnisch-deutschen Großraum Szczecin–Vorpommern–Uckermark sind es Menschen vor Ort, die durch innovatives Handeln eine grenzüberschreitende Integration „von unten“ anstoßen.

„Regionale Enthusiasten“

Wer sind in europäischen Grenzgebieten die Triebkräfte einer Regionsbildung „von unten“? Das sind primär Personen, die besonders in der Lage sind, Grenzen physisch und mental zu überwinden. Tom O’Dell und Orvar Löffgren prägten für sie den Be­griff des „Regionauten“. [5] Am Beispiel der Øresund-Region zeigte sich, dass diese Regionauten spezifische grenzüberschreitende Kompetenzen erwarben und die Grenzen überwanden. Dadurch unterwanderten sie auch die Vorstellungen formaler Organisationen. Charakteristisch für Regionauten sind eine hohe Mobilität sowie eine pragmatische Analyse der Marktbedingungen: Wo kann ich welches Produkt billiger erwerben? Lohnt sich der Fahrtaufwand? Wie lassen sich Steuern sparen? Es entwickelte sich nicht nur ein lebhafter grenzüberschreitender Einkaufstourismus. Da die Grundstückspreise in Malmö günstiger als in Dänemark sind, verlagerten viele Dänen ihren Wohnort nach Schweden. Dadurch nahm die Zahl der grenzüberschreitenden Pendler zu. Viele dieser heute alltäglichen grenzüberschreitenden Bewegungen der Regionauten übertrafen die Erwartungen der Politik und Raumplanung. Teilweise widersprachen sie ihr sogar, wenn einige etwa den Wohnort wechselten, um Steuern zu sparen.

Grenzüberschreitende räumliche Bewegung ist eine konstitutive Eigenschaft der Regionauten. Sie suchen beidseits der Grenze nach optimalen Bedingungen für ihre Aktivitäten, sei es die Erwerbstätigkeit oder der tägliche Einkauf. Auch im polnisch-deutschen Grenzgebiet gibt es derartige Regionauten. Aber etliche sind sich der Bedeutung ihres Handelns für die Region stärker bewusst als der bloße Regionaut. Sie bieten anderen Menschen Orientierung und Identifikation. Sie sollen deshalb als „regionale Enthusiasten“ bezeichnet werden. Auch der regionale Enthusiast pendelt zwischen den Systemen, reist physisch und mental im Grenzraum. Doch er agiert stärker kognitiv, versteht sich als Vorreiter, der die Bedeutung der Grenze durch seine grenzüberschreitenden Aktivitäten verringern und damit die Regionsbildung „von unten“ beschleunigen will.[6] Regionale Enthusiasten bilden keine stabile soziale Gruppe. Sie übernehmen eine soziale Rolle, die bislang nur in Ansätzen fixiert ist.

Formalisierte soziale Rollen tendieren dazu, Grenzen und Zugangsbarrieren zu reproduzieren. Dies ist bei der informellen Rolle des regionalen Enthusiasten nicht der Fall. Für sie ist die formale Trennung von polnischer und deutscher Seite irrelevant. Die trennende Wirkung der Geschichte, der nationalstaatlichen Zugehörigkeit oder der Sprache sind nicht von der Hand zu weisen. Um sich darüber hinwegzusetzen, bedarf es eines kreativen Herangehens. Regionale Enthusiasten engagieren sich freiwillig, sind hochmotiviert und setzen sich mit neuen Situationen und Ambivalenzen auseinander. Sie kreieren ihre eigenen Realitäten und animieren andere, die traditionelle Perspektive aufzugeben und sich mit der gemeinsamen Region zu identifizieren.

Der polnisch-deutsche Großraum Szczecin-Vorpommern-Uckermark

Der Großraum stellt den nördlichen Teil des polnisch-deutschen Grenzgebietes dar. Er ist durch mehrere geographische Besonderheiten gekennzeichnet. Auf der Potsdamer Konferenz 1945 fiel die Entscheidung, die vormals deutsche Stadt Stettin, obwohl am linken Ufer der Oder gelegen, der Volksrepublik Polen zuzuordnen. Nach dem Deutsch-Polnischen Grenzvertrag 1990 und dem Deutsch-Polnischen Nachbarschaftsvertrag 1991, Polens Beitritt zur EU 2004 und der Zugehörigkeit zum Schengenraum 2007 wird der Großraum Szczecin nun lediglich durch eine „grüne Grenze“ zerschnitten. Anders als im restlichen polnisch-deutschen Grenzgebiet, wo die Neiße und Oder die Grenzlinie bilden, kann man hier an jeder beliebigen Stelle die Grenze überschreiten. Eine vergleichbare „grüne Grenze“ gibt es nur noch auf der Insel Usedom. Eine geographische Besonderheit ist Szczecins periphere Lage innerhalb Polens. Szczecin ist infrastrukturell nur unzureichend an die anderen polnischen Agglomerationen angebunden. Zudem leidet die Stadt unter einem schlechten Image. Seit der Nachkriegszeit gilt Szczecin als „Wildwest“-Stadt, die im Vergleich mit anderen polnischen Großstädten kulturell schwach entwickelt und unattraktiv ist.[7]

Demographisch fällt im Großraum Szczecin eine starke Asymmetrie zwischen der polnischen und der deutschen Seite auf: Urbanisierten Räumen mit andauernd hohem Siedlungsdruck stehen ländliche Gebiete mit demographischen Problemen in Vorpommern und der Uckermark gegenüber. Besonders ausgeprägt ist die Asymmetrie im wirtschaftlichen Bereich: Während das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in der Region Westpommern (Wojewodschaft Zachodniopomorskie) 2010 bei 54,6 Mrd. Złoty lag, wurde in der Uckermark ein BIP von 2,7 Mrd. € und im Landkreis Vorpommern-Greifswald 4,6 Mrd. € erwirtschaftet.[8] Die in absoluten Zahlen größere Wirtschaftskraft der polnischen Grenzregion relativiert sich, wenn man das BIP pro Einwohner (Pro-Kopf-Einkommen) vergleicht. Es betrug im Jahr 2010 in Westpommern mit 32 268 Złoty weniger als die Hälfte des Pro-Kopf-Einkommens, das im Landkreis Uckermark (20 224 €) bzw. im Landkreis Vorpommern-Greifswald (18 759 €) erzielt wurde. Noch ausgeprägter sind die Unterschiede im Haushaltseinkommen pro Kopf. 2011 lagen die Werte für Westpommern bei 1241 Złoty, im Landkreis Uckermark bei 14 807 € und im Landkreis Vorpommern-Greifswald bei 16 317 €. Im direkten Vergleich der Arbeitslosenquoten fällt hingegen auf, dass die Quoten in Vorpommern-Greifswald und in der Uckermark Mitte 2013 mit 13,5 Prozent bzw. 14,3 Prozent deutlich höher lagen als auf der polnischen Seite der Grenze. So wies Szczecin eine Arbeitslosenquote von 6,4 Prozent, Dobra 5,8 Prozent und Gryfino 6,3 Prozent auf. Lediglich in Police (9,3 Prozent) und Nowe Warpno (12,3 Prozent) lag die Arbeitslosenquote höher.[9] Die Differenzen sind zwar teilweise verschiedenen Erhebungsmethoden sowie soziokulturellen Unterschieden wie der traditionell hohen Frauenerwerbstätigkeit geschuldet. Sie geben aber dennoch einen verlässlichen Eindruck von der höheren Wirtschaftsdynamik auf der polnischen Seite der Grenze. Diese Dynamik äußert sich auch darin, dass es eine zwar noch geringe und nicht genau zu beziffernde, aber zunehmende Zahl von Deutschen gibt, die in Szczecin Arbeit finden. Insgesamt ist das Pendleraufkommen von Polen nach Deutschland noch immer höher als umgekehrt. Allein in den ehemaligen Landkreis Uecker-Randow pendeln rund 1000 Polen zur Arbeit.[10] Inzwischen haben sich auch einige Dutzend polnische Unternehmen auf der deutschen Seite der Grenze niedergelassen. Es handelt sich meistens um Dienstleistungsbetriebe (oft Selbstständige ohne angestellte Mitarbeiter). Häufig wird eine deutsche Niederlassung auch nur wegen der Adresse gegründet, um auf diese Weise größere Chancen bei der Vergabe öffentlicher Aufträge etwa im Bausektor zu gewinnen. Die Zahl produzierender Unternehmen, die auch Angestellte beschäftigen, ist mit weniger als 20 hingegen noch sehr gering.

Die Stadt Szczecin mit ihren über 400 000 Einwohnern ist das historische und, so die Hoffnung zahlreicher Politiker, Unternehmer oder Wissenschaftler, auch zukünftige Zentrum für die angrenzenden Gebiete Vorpommerns und der Uckermark.[11] Obwohl Szczecin für sein deutsches Hinterland bisher nicht die Funktion als Wachstumsmotor und Zentrum erfüllt,[12] sind bemerkenswerte Entwicklungen zu beobachten. Viele Deutsche waren überrascht, als ab 2007 polnische Staatsbürger Grundstücke und Häuser in Dörfern auf der deutschen Seite der Grenze erwarben und sich dort dauerhaft einrichteten.[13] Die teilweise sehr niedrigen Immobilienpreise in Vorpommern und der Uckermark ermöglichten es Familien der polnischen Mittelschicht, den Traum vom Eigenheim zu verwirklichen. Günstige Kredite der Sparkasse, der Anspruch auf Kindergeld bei Erstwohnsitz in Deutschland und die gute öffentliche Infrastruktur machten einen Umzug attraktiv. Auch das Angebot von Mietwohnungen etwa in den Plattenbauten von Löcknitz und Pasewalk, wurde von Polen gerne genutzt.

Ende 2012 waren im Landkreis Vorpommern-Greifswald (ohne die Stadt Greifswald) 2044 Polen mit Erstwohnsitz registriert.[14] Im benachbarten brandenburgischen Landkreis Uckermark waren es Ende Juni 2013 1482 Personen.[15] Die tatsächliche Zahl polnischer Einwohner in der deutschen Grenzregion dürfte allerdings deutlich höher sein. Denn viele Zugezogene haben sich bislang nicht mit ihrem Erstwohnsitz angemeldet. Zu beobachten ist auch, dass viele Menschen, die aus Polen stammen, aber in den 1980er Jahren in die Bundesrepublik auswanderten und heute deutsche Staatsbürger sind, sich hier niederlassen. Diese Zuzügler, die inzwischen Rentner sind, wollen ihren Lebensabend zwar in Deutschland, aber in der Nähe zu Polen verbringen. Stichproben in einzelnen grenznahen Dörfern haben ergeben, dass die tatsächliche Zahl zugezogener Polen etwa vier- bis fünfmal höher ist, als die offizielle Meldestatistik ausweist.

Dank der Zuzügler sehen die grenznahen Dörfer heute gepflegter aus und sind belebter als Siedlungen, die weiter entfernt von der Grenze liegen und nicht vom polnischen Zuzug profitieren. Auch kommunale Betreuungseinrichtungen konnten erhalten oder gar ausgebaut werden, weil viele polnische Eltern ihre Kinder in deutschen Kindertagesstätten und Schulen unterbringen.[16] Dank der höheren Einnahmen aus der Einkommenssteuer und dem Anstieg der lokalen Kaufkraft verbessert sich auch die wirtschaftliche Situation der Gemeinden. Einzelne gut gebildete Bürger aus Polen treten gar den Ortsverbänden der Parteien bei.[17]

Hoffnungen auf eine authentische regionale Integration erhielten dadurch Nahrung, dass die Grenze nach dem Abbau des Stacheldrahtzauns allmählich aus der Landschaft verschwindet. Im Winter 2007/2008 beseitigte ein Teil der lokalen Bevölkerung die Schranken und den Stacheldraht. Auch wurden einige alte Wege wieder in Betrieb genommen. Dazu mussten Gräben aufgefüllt und Vegetation beseitigt werden. Solche Aktionen waren selbstorganisierte Arbeitseinsätze, teilweise arbeiteten Polen und Deutsche zusammen. Bis heute fasziniert der Wandel des Grenzgebiets die Bevölkerung vor Ort. Etliche Bewohner suchen mit dem Rad nach alternativen Grenzübergängen oder sammeln im ehemaligen Niemandsland Pilze.

Neben den grenzübergreifenden Steuerungsaufgaben, die sich aus Szczecins Rolle als faktisches oder potenzielles Zentrum für die gesamte Region ergeben, gibt es zahlreiche Entwicklungsprobleme, die nur gemeinsam zu lösen sind: die strukturelle Wirtschaftsschwäche, die Abwanderung junger Leute, die Präsenz von Rechtsradikalen in der Öffentlichkeit, die sich in Wahlerfolgen der NPD äußert, die seit der Öffnung der Grenzen wachsende Zahl von Diebstählen,[18] die unzureichende Förderung des Spracherwerbs und die Entwicklung interkultureller Kompetenz.[19] Die Herausforderungen für eine grenzüberschreitende Regionalentwicklung sind so groß, dass die bloße institutionelle Nutzenmaximierung alleine keine hinreichende Grundlage für Zusammenarbeit bildet. Ein mögliches Modell zur Europäisierung des Großraums Szczecin stellt die Idee des „offenen Regionalismus“ dar. Es handelt sich um kein klar umrissenes Konzept, sondern um eine aus der Praxis abgeleitete Idee, die sich explizit gegen ethnozentrische Sichtweisen richtet und das gemeinsame Erleben der Region als Quelle des Zusammenhalts befördert.[20] Der „offene Regionalismus“ der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit baut auf der Kultur als gemeinsames Erbe auf.[21] Er zielt darauf, die „Grenzen in den Köpfen“ zu überwinden.[22] Diese existieren bis heute und sind viel hartnäckiger als angenommen. Nachdem sie die Hürden auf dem Weg zur Zusammenarbeit im polnisch-deutschen Grenzgebiet untersucht hatten, zogen Tomasz Kaczmarek und Tadeusz Stryjakiewicz das Fazit:

Mehr Anstrengung und Ausdauer bedarf [. . .] die Überwindung mentaler Hemmnisse und eine emotionale Annäherung der Bewohner beiderseits der Oder und Neiße.[23]

Reproduktion der Grenze durch formale Kooperation

In allen gesellschaftlichen Bereichen des Grenzgebietes spielt die polnisch-deutsche Kooperation eine wichtige Rolle. Davon zeugen zig Dokumentationen, Untersuchungen und Veröffentlichungen.[24] In Politik und Verwaltung, in der Wirtschafts­förderung, im Bildungs- und Gesundheitswesen treffen polnische und deutsche Partner Vereinbarungen und erwarten Nutzen durch Kooperation. Bilaterale Projekte sind häufig „Mittel zum Zweck“, um Fördermittel zu akquirieren oder um sozioökonomische Asymmetrien bei den Löhnen, Preisen, dem Angebot und der Nachfrage auszunutzen. Damit wird die Grenze zwangsläufig reproduziert. Dies symbolisiert auch das Leitbild der Partnerschaft, das in fast jeder polnisch-deutschen Kooperation beschworen wird. Denn Partnerschaft bedeutet die fortdauernde Dualität des Grenzgebiets. Ohne den Fortbestand der Staatsgrenze würden die Förderprogramme in der bestehenden Form nicht existieren.

Im Großraum Szczecin engagieren sich sehr unterschiedliche Akteure und Organisationen in der polnisch-deutschen Kooperation. Auch die Landesregierung Mecklenburg-Vorpommerns und das polnische Außenministerium wirken mit. Zentrale Bedeutung für die Entwicklung und Umsetzung von Förderprojekten hat die Euroregion Pomerania. Die Pomerania wurde 1995 auf Initiative grenznaher Gemeinden im nördlichen deutsch-polnischen Grenzabschnitt gegründet. 1998 trat auch der Gemeindeverband Schonen (Schweden) der Euroregion bei. Zu den wichtigsten Aufgaben der Euroregion Pomerania zählt die Verwaltung der INTERREG-Mittel, welche die EU der öffentlichen Hand und der Privatwirtschaft für grenzüberschreitende Investitionsprojekte in der Region zur Verfügung stellt. Dadurch konnten zahlreiche polnisch-deutsche Projekte realisiert werden. Diese formelle Kooperation ist ein großer Erfolg. Gleichzeitig gibt es eine informelle Annäherung, die bisher kaum beschrieben wurde.

Demontage der Grenze durch informelle Regionsbildung „von unten“

Die Bildung einer grenzüberschreitenden Region vollzieht sich dann „von unten“, wenn sie nicht von Institutionen hierarchisch organisiert wird, sondern Menschen informell und situativ handeln. Dieses informelle Handeln lässt Gemeinschaften entstehen, bleibt offen für spontane zwischenmenschliche Begegnung. Die Unterscheidung zwischen „formell“ und „informell“ oder Organisation „von oben“ und „von unten“ lässt sich nicht trennscharf vornehmen. Als informelles Handeln gilt jenes, das sich nicht eindeutig der polnischen oder deutschen Seite zuordnen lässt und in dem die formale Existenz der Staatsgrenze jede Bedeutung verloren hat. Dafür gibt es einige Beispiele.

Das Transkultura-Netzwerk und die Bewerbung Szczecins als Kulturhauptstadt Europas 2016

Seit dem Jahr 1985 kürt die EU jedes Jahr eine Stadt als Europäische Kulturstadt. Seit 2000 wird der Titel „Kulturhauptstadt Europas“ verliehen, seit 2004 an mindestens zwei Städte pro Jahr. Nach dem Rotationsprinzip waren für 2016 Spanien und Polen an der Reihe, Städte für den Auswahlwettbewerb zu nominieren. In Polen startete das Kultusministerium im November 2009 einen Wettbewerb zur nationalen Vorauswahl. Eine Szczeciner Bürgerinitiative hatte bereits im Jahr 2007 der Stadtregierung vorgeschlagen, sich an dem Wettbewerb zu beteiligen.[25] Das Stadtparlament beschloss die Einrichtung eines Projektbüros, das die Arbeiten an der Bewerbung koordinierte und schließlich im August 2010 die offizielle Bewerbung einreichte. Bei der nationalen Vorauswahl im Juni 2011 schied Szczecin aus. Das Kultusministerium nominierte drei Städte, von denen schließlich Wrocław das Rennen machte. 2016 werden also Wrocław und San Sebastián Kulturhauptstädte Europas sein.

Bei der Ausarbeitung der Bewerbung durch das Szczeciner Projektbüro spielte der Gedanke des gemeinsamen Kulturraums, der auf der grenzüberschreitenden Vernetzung von im Kulturbereich tätigen Menschen gründete, eine wichtige Rolle. Unter dem Begriff „Transkultura“ trafen polnische und deutsche Kulturschaffende im weitesten Sinne, Vertreter öffentlicher Einrichtungen, freie Künstler, engagierte Lehrer und Journalisten, in Workshops und Gesprächsrunden zusammen. Diese Treffen dienten dem Austausch von Informationen, der Aufnahme und Pflege persönlicher Kontakte, der Entwicklung gemeinsamer Strategien zur Verbesserung der grenzüberschreitenden Integration. Die Mitarbeiter des Projektbüros proklamierten die Idee eines gemeinsamen Kulturraums (wspόlna przestrzeń kultury), um möglichst breite Schichten der Bevölkerung zu integrieren. Dana Jesswein-Wόjcik, die für das Projektbüro arbeitete, brachte die Idee auf den Punkt:

Der gemeinsame Kulturraum ist kein territoriales oder formal administratives Gebilde, sondern er ist durch die Kooperation von Menschen, Organisationen, Institutionen und Künstlern entstanden. Nach der vereinbarten Ausdehnung umfasst der Raum gegenwärtig polnische und deutsche Städte sowie Gemeinden von Greifswald bis Kołobrzeg, von Świnoujście bis Gorzów Wielkopolski. Dies ist jedoch kein abgeschlossener Raum. Er wird ständig neu gefasst. Damit ist die Chance verbunden, dass sich neue Partner anschließen, auch unsere Freunde aus Skandinavien.[26]

Dieser gemeinsame Kulturraum mit fließenden Grenzen erinnert an das Konzept des offenen Regionalismus. Auch hier geht es darum, keine räumliche Festlegung vorzunehmen, sondern die durch konkretes Handeln entstandenen Beziehungen in einem Raum anzuerkennen und ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Zunächst bekannten sich die Teilnehmer des Transkultura-Netzwerkes mit der Unterzeichnung von Vereinbarungen zu dem gemeinsamen Anliegen, Informationen über kulturelle Veranstaltungen beiderseits der Grenze zu veröffentlichen. Der Rahmen der Transkultura-Treffen, bei denen die Mitarbeiter des Projektbüros hauptsächlich als Moderatoren fungierten, war sehr informell und gestattete eine große thematische Offenheit. In einem Wettbewerb konnten Bürger aus Polen und Deutschland Vorschläge für Kleinprojekte einreichen, die – falls Szczecins Kulturhauptstadt geworden wäre – hätten realisiert werden sollen. Zu diesem Wettbewerb kamen 105 Vorschläge von der deutschen, 116 von der polnischen Seite.[27]

Nachdem Szczecins Bewerbung gescheitert war, wurde das Projektbüro zunächst noch ein halbes Jahr weiterfinanziert. Auch fanden weitere Transkultura-Treffen statt. Doch das Netzwerk schaffte es nicht, sich zu etablieren. Heute existiert es nicht mehr. Einige der Transkultura-Aktivisten engagieren sich weiterhin im grenzüberschreitenden kulturellen Austausch. Die Bewerbung hatte einen Effekt. Die gesellschaftlichen Beziehungen zwischen Szczecin und dem deutschen Hinterland gewannen größere öffentliche Aufmerksamkeit.

Die Bewerbungsinitiative „von unten“ ging mit der „Entdeckung“ und Aneignung der Lokal- und Regionalgeschichte einher. Seit Mitte der 1990er Jahre ist das in Szczecin zu beobachten. Bogdan Twardochleb, leitender Redakteur der Tageszeitung Kurier Szczeciński, interpretiert dies als Suche nach einer neuen Identität.[28] Das gewachsene Interesse vor allem der jüngeren Generationen an dem materiellen Kulturerbe Stettins aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg äußert sich in vielfältigen Formen. Es beginnt beim Sammeln alter Ansichtskarten, geht über das ehrenamtliche Programmieren von 3D-Spaziergängen durch das Vorkriegs-Stettin[29] oder die Suche nach Spuren der deutschen Vergangenheit im Stadtbild, auf Friedhöfen oder an Hausfassaden und reicht bis zu Initiativen, alte Denkmäler wieder zu errichten.[30] Die Erforschung der Lokalgeschichte durch Hobbyhistoriker oder die Bürgerinitiative zur Rekonstruktion der Sedina-Statue[31] sind Ausdruck des Bedürfnisses nach einer stärkeren positiven Identifikation mit der Umgebung, was wiederum die soziale Integration stärkt. Die Initiatoren der Bewerbung und des Transkultura-Netzwerks waren typische Repräsentanten regionaler Enthusiasten.

Das Kunstprojekt Nowa Amerika

Das Kunstprojekt Nowa Amerika verfolgt das Ziel, eine neue Identität im polnisch-deutschen Grenzgebiet zu schaffen und in einer grenzübergreifenden Bürgergesellschaft zu leben. Träger des Projekts ist der Verein Słubfurt e.V. aus Frankfurt/Oder, Triebfeder der Künstler Michael Kurzwelly. Gemeinsam mit dem befreundeten Künstler Andrzej Łazowski aus Szczecin gründete er am 20. März 2010 Nowa Amerika. So übertrugen sie die Idee der grenzüberschreitenden Stadt Słubfurt (Słubice und Frankfurt/Oder), die bereits 1999 der gleichnamige Verein propagiert hatte, auf das gesamte polnisch-deutsche Grenzgebiet. Für Kurzwelly handelt es sich bei Słubfurt und Nowa Amerika um Konstruktionen, die sich allmählich in Realität verwandeln:

Nowa Amerika ist ein neuer Raum, ein Denkraum, ein Lebensraum. Nowa Amerika ist ein Werkzeug, das dazu dient, die Grenzen zwischen Deutschland und Polen wegzudenken. Nowa Amerika ist ein Überfall auf alte Wirklichkeiten. Das ist ganz einfach. Es funktioniert durch die Behauptung einer neuen Wirklichkeit. Obwohl sich eigentlich nichts ändert, ändert sich alles durch Verschiebung der Perspektive. [. . .] Unser Ausgangsmaterial sind die komplexen Energien der Menschen, die unser junges Land bevölkern. Durch die Verzahnung der unterschiedlichen Qualitäten aller Kreateure – und durch deren Verzauberung durch den Ruf Nowa Amerikas nach Freiheit, Kreativität und Pioniertum – wächst eine Kraft, die dem Land Gestalt geben kann. Nowa Amerika ist ein Kunstwerk, ein Labor und ein Modellversuch für eine engagierte grenzüberschreitend wirkende Bürgergesellschaft.[32]

Typisch für das Kunstprojekt sind die Vermischung der polnischen und deutschen Sprache sowie die Referenz an die Regionalgeschichte. Auf diese Weise entstand auch der Name Nowa Amerika als Zusammensetzung polnischer und deutscher Vokabeln. Er bezieht sich auf den historischen Landstrich „Neu Amerika“, ein ehemaliges Sumpfgebiet an der Mündung der Warthe in die Oder. Hier hatten sich im 18. Jahrhundert Siedler niedergelassen, die eigentlich nach Amerika hatten auswandern wollen, nach dem Willen des preußischen Königs stattdessen jedoch das Sumpfgebiet trockenlegten und urbar machten. Nowa Amerika bezieht sich nun auf das gesamte polnisch-deutsche Grenzgebiet, ohne es genauer zu definieren. Eine kartographische Darstellung illustriert die umformulierten Ortsbezeichnungen und zeigt eine Gliederung in die vier Provinzen Szczettinstan, Terra Incognita, Lebuser Ziemia, Schlonsk mit den Hauptstädten Szczettin, Chojnaberg, Słubfurt und Zgörzelic.

Visualisierung ist ein wichtiger Bestandteil des Kunstprojektes. So wurde eine Flagge gestaltet, auf welcher der Verlauf von Neiße und Oder sowie das Stettiner Haff graphisch integriert sind. Diese Flagge wird im Film Nowa Amerika Tours, eine Art Roadmovie durch das polnisch-deutsche Grenzgebiet, genutzt, um Grenzpfosten zu überdecken oder um sie aus exponierten Gebäuden zu schwenken.[33] Die Mediathek für Nowa Amerika, die zunächst eine Wanderausstellung war und nun in der Bibliothek des Collegium Polonicum in Słubice untergebracht ist, beschäftigt sich mit der Frage nach der eigenen Identität in einem grenzüberschreitenden Raum.[34] Die Mediathek stellt eine Sammlung verschiedener Objekte mit den zugehörigen Geschichten dar, welche die persönliche Identitätsbildung von Bewohnern Słubfurts und Nowa Amerikas dokumentieren. All diese unterschiedlichen Formen der Visualisierung fordern zur Mitarbeit auf. Nicht nur die beiden Künstler Kurzwelly und Łazwoski, sondern zahlreiche andere Personen aus dem gesamten Grenzgebiet haben Artefakte geschaffen.

Das Ziel, dass die Bewohner sich stärker und positiv mit dem Grenzraum identifizieren, mündet in die Vorstellung einer grenzüberschreitenden Bürgergesellschaft. Das Selbstverständnis der Initiatoren von Nowa Amerika als Pioniere gründet auf der Idee, dass es an der Zeit sei, eine neue postnationale Form des Zusammenlebens zu erschaffen:

Wir kreieren hier einen neuen Raum, beiderseits unseres Rückgrats, der beiden Flüsse Oder und Neiße, und aus dem „wir und die anderen“, also hier die Deutschen, dort die Polen, die dann vielleicht noch so was wie deutsch-polnische Freundschaft praktizieren, sind jetzt Nowa-Amerikaner geworden. Das heißt, es gibt bei uns Postpolen und Postdeutsche und ansonsten sind wir alle Nowa-Amerikaner, und deshalb sind wir, und es gibt die anderen nicht mehr.[35]

Diese Vision eines nowa-amerikanischen Volkes wird in vielfältige Formen umgesetzt. Es gibt gut organisierte Treffen von Arbeitsgruppen zu den Themen Bildung, Förderpolitik in den Euroregionen oder grenzüberschreitender Informationsaustausch. Beim „Nowa Amerika Kongress“, der immer am 11. November im Kulturhaus Słubice stattfindet, treffen sich zahlreiche Personen, die nicht kontinuierlich an dem Projekt mitarbeiten, aber die Idee an sich unterstützen. Im öffentlichen Raum gibt es Happenings, so etwa kleine Umzüge zur Feier des Unabhängigkeitstags am 20. März. Michael Kurzwelly und die mit ihm befreundeten Künstler aus Polen und Deutschland sehen sich weniger als Urheber im Rahmen eines Kunstprojektes, als vielmehr als Moderatoren und Animateure. Ihre Aufgabe als Künstler erkennen sie darin, soziale Energien freizusetzen und die etablierten Denkmuster wie die strenge Unterscheidung zwischen zwei Nationen zu überwinden. Über sein Kunstverständnis sagt Kurzwelly:

Wir leben nicht mehr in Zeiten von Helden, in denen der große Künstler sich durchschlägt und sich von der Masse abhebt. Wir leben in einer Epoche von Netzwerken, die gemeinsame Energien schaffen.[36]

Und an anderer Stelle führt Kurzwelly aus:

Ein Künstler ist keine moralische Instanz, er ist nicht dazu da, zu sagen, was erlaubt ist und was nicht. Aber man kann die Absurdität der Stereotype aufzeigen und dazu eignet sich Humor am besten.[37]

Der anarchische Charakter des gesamten Projektes widerstrebt einer Vereinnahmung durch offizielle Strukturen. Obwohl Słubfurt e.V. eine finanzielle Förderung für das Nowa Amerika-Projekt durch die Kulturstiftung des Bundes erhält, ist die inhaltliche Freiheit des Kunstprojekts fundamental. Im Prinzip kann jeder mit seinen eigenen Ideen an der Realisierung Nowa Amerikas mitarbeiten. Das Beispiel des Nowa Amerika-Personalausweises, den sich jeder über das Internet selbst ausstellen und ausdrucken kann, illustriert diese maximale Offenheit. Repräsentanten offizieller Institutionen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, insbesondere die Euroregionen, standen dem Kunstprojekt zunächst kritisch gegenüber. Das Oszillieren zwischen Humor und Ernst verstand und schätzte nicht jeder auf Anhieb. Einige Beobachter könnten sich auch durch das subversive Potential der Aktion herausgefordert gefühlt haben. Doch gerade das spielerische Element, die Errichtung eines ästhetischen Raums, in dem die Bewohner des Grenzlandes sich auf eine neue und heitere Art begegnen, agieren und etwas Gemeinsames erleben, ist der große Gewinn des Nowa Amerika-Projekts. Was aus dem Kunstprojekt langfristig wird, hängt vom Engagement der Menschen ab, doch die Idee von Nowa Amerika ist offenbar nicht mehr aus der Welt zu schaffen.

Die neue Qualität der polnisch-deutschen Beziehungen

Diese Beispiele, die zeigen, wie auch die „Grenze in den Köpfen“ überwunden werden kann, stehen für eine neue Qualität der polnisch-deutschen Beziehungen. Sie „transzendieren“ diese Beziehungen nahezu, indem sie zur Bildung einer grenzüberschreitenden Region „von unten“ beitragen. Träger dieser Regionalisierung sind regionale Enthusiasten, welche die Relevanz der Grenze negieren und bestehende Barrieren überwinden. Szczecins Bewerbung als Kulturhauptstadt Europas und das Kunstprojekt Nowa Amerika haben die Menschen im Grenzgebiet enorm mobilisiert, gemeinsam eine Vorstellung davon zu entwickeln, was sie verbindet. Angesichts der zahlreichen sozioökonomischen Probleme im Großraum Szczecin-Vorpommern-Uckermark bedarf es eines beträchtlichen Enthusiasmus. Visionen für die gemeinsame Region zu entwerfen ist jedoch etwas, was nach Ansicht des Szczeciner Journalisten Andrzej Kotuła dringend benötigt wird: „Pragmatismus reicht nicht aus, wenn wir die Frage stellen, welchen Impuls, welchen Qualitätssprung das Grenzland benötigt.[38]

Nicht minder bedeutend ist, dass diese Initiativen Mut machen. Das Grenzgebiet gilt auf dem jeweiligen Staatsgebiet als peripher. Regionale Enthusiasten befreien den Grenzraum von diesem schlechten Image und arbeiten seine Vorzüge heraus. Die Initiative für Szczecin 2016 stellte die geopolitische Lage der Stadt sowie ihre komplizierte Geschichte als Besonderheiten von europäischem Rang heraus. Die Nowa Amerika-Bewegung knüpft an das positive Bild von Pionieren und Entdeckern an. Ob sich ein größerer Teil der Bevölkerung von diesem Enthusiasmus anstecken lässt, mag unwahrscheinlich sein. Doch diese Initiativen stiften in der Region, aus der seit Jahrzehnten die jungen Menschen abwandern, einen eigenen kulturellen Wert.

Von der Kreativität der regionalen Enthusiasten können auch andere Menschen profitieren. Wenn es gelingt, die positiv-neugierige und selbstbewusste Grundhaltung der regionalen Enthusiasten in der Alltagskultur des Grenzgebiets zu etablieren, wäre viel gewonnen. Denn das könnte bereits zur Schwächung des „pommerschen Minderwertigkeitskomplexes“ führen, wie er immer wieder beklagt wird.[39]

 


[1]   Sławomir Kufel: Ansichten aus dem Westen/Osten, in: Pro Libris, 4/2011, S. 5–7, hier S. 6.

[2]   Adolf Freiherr Knigge: Über den Umgang mit Menschen. Hannover 161878, S. 108.

[3]   Seit Kurzem gibt es Onlineangebote wie etwa transodra-online.net der Deutsch-Polnischen Gesellschaft Brandenburg oder das privat betriebene Portal nachstettin.com.

[4]   James Anderson, Liam O’Dowd: Borders, border regions and territoriality: contradictionary meanings, changing significance, in: Regional Studies, 7/1999, S. 593–604.

[5]   Tom O’Dell: Øresund and the Regionauts, in: European Studies, 19/2003, S. 31–54. – Orvar Löfgren: Regionauts: The Transformation of Cross-Border Regions in Scandinavia, in: European Urban and Regional Studies, 3/2008, S. 195–209.

[6]   Peter Oliver Loew, Robert Traba: Die Identität des Ortes. Die polnische Erfahrung mit der Region. Gespräch, in: Deutsches Polen-Institut: Jahrbuch Polen 2012. Regionen. Wiesbaden 2012, S. 95–106, hier S. 102.

[7]   PricewaterhouseCoopers (Hg.): Raporty na temat wielkich miast Polski. 2011,

    <www.pwc.pl/pl/wielkie-miasta-polski/raport_Szczecin_2011.pdf>.

[8]   Um die Angaben in Złoty und Euro zu vergleichen, sei als grober Richtwert ein Wechselkurs von 4:1 zugrunde gelegt.

[9]   Zur Größe der Städte im Grenzgebiet siehe: Urząd Statystyczny w Szczecinie 2012: Rocznik Statystyczny Wojewódstwa Zachodniopomorskiego, <www.stat.gov.pl/cps/rde/xbcr/szczec/ ASSETS_Rocznik_Woj_ Zachodniopom2012.pdf>; Statistisches Amt Mecklenburg-Vorpommern 2013: Bruttoinlandsprodukt und Bruttowertschöpfung der Wirtschaftsbereiche in den kreisfreien Städten und Landkreisen in Mecklenburg-Vorpommern <http://service.mvnet.de/statmv/daten_ stam_berichte/e-bibointerth12/volkswirtschaft/p-ii__/p213__/daten/p213-2011-00.pdf>; Statistisches Amt Mecklenburg-Vorpommern 2013: Einkommen der privaten Haushalte in Mecklenburg-Vorpommern <http://service.mvnet.de/statmv/daten_stam_berichte/e-bibointerth11/ einkommen--preise/p-i__/p133__/daten/p133-2011-00.pdf>. – Bundesagentur für Arbeit <http://statistik.arbeitsagentur.de/Statistikdaten/Detail/201306/iiia4/uebersicht/uebersicht-d-0-xls.xls>. – Urząd Statystyczny wi Szczecinie: Szczeciński Obszar Metropolitalny, <http://stat.gov.pl/vademecum/vademecum_zachodniopomorskie/portret_obszaru_metropolitalnego/szczecinski_obszar_metropolitalny.pdf>.

[10] Klaus Maack: Wachstumspol Szczecin: Entwicklung der deutsch-polnischen Grenzregion. Aktualisierung der Studie „Wachstumspol Stettin und Auswirkungen auf die Entwicklung der deutsch-polnischen Grenzregion“. Hamburg 2010.

[11] Statistisches Amt Mecklenburg-Vorpommern, <http://sisonline.statistik.m-v.de/sachgebiete/ A117302G_Bevoelkerung_am_3112_nach_Gemeinden_und_Kreisen>. – Amt für Statistik Berlin-Brandenburg: Statistischer Bericht Bevölkerung der Gemeinden im Land Brandenburg 2012, <www.statistik-berlin-brandenburg.de/publikationen/Stat_Berichte/2012 /SB_A01-02-00_2012hj01_BB.pdf> – Główny Urząd Statystyczny: Ludność. Stan i struktura w przekroju terytorialnym. 2012, <www.stat.gov.pl/cps/rde/xbcr/gus/l_Ludnosc_

    stan_struktura_30062012.pdf >.

[12] Klaus Maack: Wachstumspol Szczecin: Entwicklung der deutsch-polnischen Grenzregion. Aktualisierung der Studie „Wachstumspol Stettin und Auswirkungen auf die Entwicklung der deutsch-polnischen Grenzregion“. Hamburg 2010.

[13] Paweł Ładykowski: The Emerging Polish–German Borderland: The Past and the Present, in: Baltic Journal of European Studies Journal of Tallinn University of Technology, 2/2011, S. 167–191.

[14] Melderegister des Landkreises Vorpommern-Greifswald 2013.

[15] Melderegister des Landkreises Uckermark 2013.

[16] Franziska Barthel: Auswirkungen der Immigration polnischer Bürger auf den Landkreis Uecker-Randow am Beispiel von Löcknitz. Im Fokus: Wohnungsmarkt, Siedlungsentwicklung sowie Bildungs- und Erziehungseinrichtungen. Neubrandenburg 2010.

[17] Adam Jarosz: Polnische Kandidaten zur Kommunalwahl 2009 im Landkreis Uecker-Randow. Toruń 2011.

[18] Trójkąt Bermudzki nad Odrą, in: Polityka, 16.7.2012.

[19] Birgit Deckers: Die raumstrukturelle Wirkung von Transformation und EU-Osterweiterung. Zur Rolle der ortsansässigen Bevölkerung bei der Regionalentwicklung im nördlichen deutsch-polnischen Grenzraum. Greifswald 2004.

[20] Robert Traba: Der „offene Regionalismus“ – eine neue Kategorie der europäischen Integration in Ostmitteleuropa?, in: Jochen D. Range (Hg.): Baltisch-deutsche Sprachen- und Kulturkontakte in Nord-Ostpreussen. Methoden ihrer Erforschung. Essen 2002, S. 164–171.

[21] Robert Traba: Regionalismus in Polen: Die Quellen des Phänomens und sein neues Gesicht, in: Philipp Ther, Holm Sundhaussen (Hg.): Regionale Bewegungen und Regionalismen in den europäischen Zwischenräumen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Marburg 2003, S. 275–285.

[22] Peter Weichardt: Territorialität, Identität und Grenzerfahrung, in: Peter Haslinger (Hg.): Grenze im Kopf. Beiträge zur Geschichte der Grenze in Ostmitteleuropa. Wien 1999, S. 19–30, hier S. 27.

[23] Tomasz Kaczmarek, Tadeusz Stryjakiewicz: Grenzüberschreitende Entwicklung und Kooperation im deutsch-polnischen Grenzraum aus polnischer Sicht, in: Europa Regional, 2/2006, S. 61–70, hier S. 67.

[24] Grenzüberschreitende Debatten 2010–2011, <http://bip.um.szczecin.pl/UMSzczecinBIP/ files/8B9FDB47241E4F1881E287739DB9F99B/Grenzueberschreitende%20Debatten.pdf>. – Vgl. das Onlineportal Küsteninformationssystem Odermündung, <www.ikzm-oder.de> Waldemar Okon: Raumordnung und Landesplanung in der deutsch-polnischen Region Odermündung, in: Michael Stoll (Hg.): Strukturwandel in Ostdeutschland und Westpolen. Hannover 2004, S. 171–178.

[25] Szczecin 2016, <www.szczecin2016.pl/esk2016/files/FA3EA51A38A7447A8AB4C8E55 14C6882/Szczecin%202016.pdf>.

[26] Wspólna Przestrzeń Kultury, in: Kurier Szczeciński, 19.11.2010.

[27] Ebd.

[28] Bogdan Twardochleb: Stettin: Eine Stadt auf der Suche nach einer neuen Identität, in: Dialog, 92/2010, S. 49–57.

[29] Spacer po starym Szczecinie – pierwsza trasa, in: Gazeta Wyborcza, 13.4.2012.

[30] Jan Musekamp: Archäologie des Lokalen. Schichten der Erinnerung in Stettin nach 1945, in diesem Heft S. xxx–xxx. – Ders.: Zwischen Stettin und Szczecin. Metamorphosen einer Stadt von 1945 bis 2005. Darmstadt 2010.

[31] Die Statue der sagenhaften Stadtgründerin von Stettin war Bestandteil eines 1898 zwischen Bahnhof und Innenstadt von Erich Manzel entworfenen Brunnens. 1942 wurde die Figur für Kriegszwecke eingeschmolzen. Der Brunnen überstand das Kriegsende weitgehend unzerstört. Statt einer Statue befindet sich auf ihm heute ein Anker. Eine Bürgerinitiative verfolgt das Ziel, die Statue der Sedina zu rekonstruieren und sie wieder auf dem Brunnen zu errichten. Die Idee ist seit 2009 umstritten.

    <www.sedina.pl> und <www.stop-sedina.szcecin.pl>

[32] Michael Kurzwelly: Eine Mediathek für Nowa Amerika?, in: Pro Libris, 4/2011, S. 11–12,

    hier S. 11.

[33] Der Film steht auf youtube zur Verfügung. – Zum Film:

    <www.arttrans.de/nowamerika/nowamerika/images/tours/Nowa%20 amerika%20tours.pdf>.

[34] In diesem Video stellt Michael Kurzwelly die Mediathek vor und erläutert ihren Ansatz: <www.youtube.com/watch?v=bxL6C0HW59A>.

[35] Michael Kurzwelly im Interview auf Deutschlandradio Kultur am 10.11.2012, <www.dradio.de/dlf/sendungen/kulturheute/1918646/>.

[36] Michael Kurzwelly, Anita Kucharska-Dziedzic: Ich habe mir meinen eigenen Raum erschaffen . . ., in: Pro Libris, 4/2011, S. 40–54, hier S. 54.

[37] Ebd., hier S. 46.

[38] Andrzej Kotuła: Moje pogranicze. Dwa rysunki. in: euroPOMERANIA, 1/2012, S. 1–8, hier S. 6.

[39] Erazm Kuźma: Reflekcje o kulturze Pomorskiej na przestrzeni wiekόw, in: Hubert Bronk, Edward Włodarczyk (Hg.): Kongres Pomorski. Od historii ku przyszłości Pomorza. Szczecin 1999, S. 59–74, hier S. 59.

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