Titelbild Osteuropa 5-6/2013

Aus Osteuropa 5-6/2013

Fatale Kontinuitäten
Vom sowjetischen Totalitarismus zu Putins Autoritarismus

Lev Gudkov

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Abstract in English

Abstract

Mit der Auflösung der Sowjetunion endete das Machtmonopol der Kommunistischen Partei. Auch die zentrale Planungsbehörde wurde aufgelöst. Aber zentrale Pfeiler der sowjetischen totalitären Herrschaft wie die Geheimdienste, die Armee, die Staatsanwaltschaft und das Gerichtswesen bestehen fort. Auf ihnen gründet der autoritäre Staat, der unter Putin entstanden ist. Die Schule, die zentralen Medien und die Wehrpflichtarmee reproduzieren Werte und Praktiken der Sowjetunion. Auf Rechtsnihilismus und Gewalt reagieren die Menschen wie in der Vergangenheit: mit Anpassung. Bürokratische Willkür und Repression gelten als unvermeidlich, ja als „normal“. Dies ist die typische Mentalität des Homo Sovieticus, die auch nach dem Untergang der Sowjetunion von Generation zu Generation weitergegeben wird.

(Osteuropa 5-6/2013, S. 283–296)

Volltext

Mit der Auflösung der Sowjetunion endete das Machtmonopol der Kommunistischen Partei. Auch die zentrale Planungsbehörde wurde aufgelöst. Aber zentrale Pfeiler der sowjetischen totalitären Herrschaft wie die Geheimdienste, die Armee, die Staatsanwaltschaft und das Gerichtswesen bestehen fort. Auf ihnen gründet der autoritäre Staat, der unter Putin entstanden ist. Die Schule, die zentralen Medien und die Wehrpflichtarmee reproduzieren Werte und Praktiken der Sowjetunion. Auf Rechtsnihilismus und Gewalt reagieren die Menschen wie in der Vergangenheit: mit Anpassung. Bürokratische Willkür und Repression gelten als unvermeidlich, ja als „normal“. Dies ist die typische Mentalität des Homo Sovieticus, die auch nach dem Untergang der Sowjetunion von Generation zu Generation weitergegeben wird. Woraus ist dein Panzer, Schildkröte? Fragte ich und erhielt eine Antwort: „Ich habe ihn aus Angst gewebt, nichts auf der Welt ist so solide. Lev Chalif Die Demokratisierung der osteuropäischen Staaten und Gesellschaften galt nach 1989 als etwas, das mit einer Rezeptur aus ökonomischen, politischen und sozialen Maßnahmen zu bewerkstelligen sei. Vergessen wurde die Möglichkeit, dass eine grundsätzlich konservative Gesellschaft sich allen Veränderungen widersetzen könnte. Gerade Russland galt vielen als eine Gesellschaft, die sich in einem postkommunistischen Übergangsstadium befinde. Diese Sicht unterstellt, dass es einen „revolutionären“ Anfang des Wandels im Jahr 1991 sowie Akteure mit entsprechenden Motiven gegeben habe. Tatsächlich zerstörten die Reformen, die nach dem gescheiterten Putsch der kommunistischen Nomenklatura unter Präsident Boris El’cin eingeleitet wurden, anders als es klassische Revolutionstheorien vorsehen, nur einige der Institutionen totalitärer Herrschaft – wenn auch überaus wichtige. Beseitigt wurden zunächst lediglich die beiden Grundpfeiler des sowjetischen Totalitarismus: Zum einen das Machtmonopol der Kommunistischen Partei; damit entfielen auch das bisherige Rekrutierungsprinzip, nach dem nur Angehörige der Nomenklatura Posten im Machtapparat bekommen konnten, und ihre Kontrolle über die Sozialstruktur und die soziale Mobilität der Bevölkerung. Zum anderen wurde die zentrale Planungsbehörde, die Schlüsselorganisation der Kommandowirtschaft aufgelöst. Jene Institutionen allerdings, die entscheidend für das Machtmonopol des „vertikal“ organisierten Machtstaates sind, die Zwangsapparate, waren gegen Veränderungen resistent. Ihr Überdauern wurde lediglich rhetorisch kaschiert, als von Demokratie, Rechtsstaat und Sozialstaat die Rede war. Auf eine Phase der relativen Freiheit – nicht zuletzt der Medien – zwischen 1991 und 1997 folgte die Wiederherstellung des Zwangssystems. Eingeleitet wurde sie, indem die Putin-Administration all jene Fernsehkanäle, Zeitungen und Radiosender unter ihre Kontrolle stellte, die viele Zuschauer, Leser und Hörer an sich gebunden hatten. Zwar übernahmen formal oft Unternehmer Kontrollpakete an diesen Medien oder kauften unabhängige Medien. Da es sich jedoch um Vertraute Putins – ausgewählte Oligarchen oder Direktoren der größten Staatsunternehmen wie etwa Gazprom – handelte, wurden diese Medien faktisch verstaatlicht. Danach kam es zu personalpolitischen Veränderungen, mit denen die Redaktionspolitik der Administration des Präsidenten unterstellt wurde. Diese hatte damit wieder die Deutungsmacht über die Vorgänge im Land. Dadurch scheint es, als spiele das staatliche Zwangssystem heute eine geringere Rolle als zu sowjetischen Zeiten, als sei es diffuser. Dies erschwert das Verständnis dieses Zwangssystems und seiner Folgen. Drei Problemfelder gilt es, bei der Analyse der postkommunistischen Gesellschaft Russlands zu beachten: 1) die institutionelle Seite: Welche sozialen Institutionen sind durch die Transformation verschwunden, welche haben sich erhalten? 2) die individuelle Seite: Wie passt sich der „Sowjetmensch“ an den repressiven Staat an. Das ist der Faktor, der entscheidet ob sich die Gesellschaft Veränderungen widersetzt. 3) die zentralen Werte und Symbole: Die Absage an die kommunistische Ideologie und der Bruch mit der sowjetischen Vergangenheit unter El’cin dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die zentralen Werte, welche die sowjetische Identität bestimmten, erhalten geblieben sind. Bis heute dienen sie der Elite und der breiten Gesellschaft als Ausgangspunkt zur Deutung von Russlands Vergangenheit und seiner Gegenwart. Der Kern der von Traumata geprägten postsowjetischen kollektiven Identität ist die untrennbare Verbindung von nationaler Größe und Gewalt über das Individuum. Das alltägliche Gefühl der Erniedrigung und der Wehrlosigkeit gegenüber der Willkür des Staates wird durch einen Kult der Stärke und der Gewalt kompensiert. Das eine ist ohne das andere nicht ausdrückbar. Die Symbole der kollektiven Einheit – „das riesige Land“ – rufen dazu auf, stolz auf die Militärmacht des Imperiums zu sein, sie verlangen Rituale des nationalen Ruhms, festigen das Gefühl der Überlegenheit über andere Völker und fordern Bereitschaft zur Mobilisierung. Gleichzeitig schützen sie vor einer rationalen Kritik am sakralen Status des Machtstaats, der von seinen Untertanen Opfer und Leidensfähigkeit verlangt. Wir haben es mit einer Faszination vom Bösen und der Gewalt zu tun. Es ist kein Zufall, dass die Menschen in Russland bei Umfragen in den vergangenen 25 Jahren auf die Frage nach den bedeutendsten Persönlichkeiten in der Geschichte Russlands, der Sowjetunion, der Welt fast ausschließlich Gewalttäter nannten: Zaren, mit deren Namen Kriege gegen andere Länder oder gegen das eigene Volk verbunden sind, Generäle und totalitäre Führer: Lenin, Stalin, Peter den Großen, den Generalstabschef der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg, Georgij Žukov, den Heerführer Katharina der Großen Aleksandr Suvorov, Hitler, Napoleon, dessen Gegenspieler Michail Kutuzov, Alexander den Großen, Ivan den Schrecklichen, den Gründer der sowjetischen Geheimpolizei Feliks Dzeržinskij und Leonid Brežnev. Dieses kollektive Bewusstsein erklärt zu einem gewissen Maße, weshalb es in Russlands Gesellschaft so wenig Solidarität gibt, woher der anomische Individualismus kommt, weshalb die Gesellschaft selbst unter repressiven Bedingungen aus fragmentierten Gruppen besteht, aber auch, warum der Wert des einzelnen Menschenlebens so gering und die deklarierte Bereitschaft, die eigenen Interessen jenen des Staates unterzuordnen, so hoch ist – während faktisch alles getan wird, um das eigene „Überleben“ und das der Familie sowie der Freunde zu sichern. Die Ambivalenz derartiger Grundhaltungen ist durchaus funktional. Sie erlaubt es, sich auf jede Herrschaft einzustellen, indem man sich innerlich von ihr distanziert, nach außen aber seine Loyalität und Untergebenheit demonstriert. Dieses kollektive Bewusstsein lähmt die Fähigkeit zu politischen Veränderungen und führt zu einer „Sterilisierung“ oder Neutralisierung des autonomen Subjekts angesichts der vom Staat verkörperten nationalen Größe. Diese Mischung aus gesellschaftlich verankerten Werthaltungen und alltäglichen Strategien des Umgangs mit unerträglichen Zumutungen des Staats führt entweder zu einem spezifischen Typ des konformistischen Zynismus und des morallosen Opportunismus. Oder es führt – wie unter den gegenwärtigen Bedingungen eines ideologischen Vakuums und schwindender Legitimität der herrschenden Elite – dazu, dass große Teile der Gesellschaft Zuflucht bei Neotraditionalismus, religiösem Fundamentalismus oder kompensatorischem Nationalismus suchen. Auch die Trägheit der unreformierten Sozialisationsinstitutionen wie etwa der Schulen und der Hochschulen oder der Jugendorganisationen ist in Rechnung zu stellen. Diese setzen in Form und Inhalt das sowjetische Modell de facto fort. Erschwerend kommt hinzu, dass nach dem Zerfall der UdSSR auch die sowjetische Intelligencija abgetreten ist, die – wenn auch nicht mit allzu viel Nachdruck – eine Entstalinisierung und eine moralische Auseinandersetzung mit dem kommunistischen System gefordert hatte. Diese beiden Umstände – sowie die stillschweigende Rehabilitierung Stalins im vergangenen Jahrzehnt – haben dazu geführt, dass die schreckliche Vergangenheit verdrängt und vergessen wurde. An die Stelle des Strebens nach einem „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ und einer Verurteilung der Stalinschen Repressionen, wie es für die Gorbačev-Ära charakteristisch war, ist Apathie getreten. War es in der späten Sowjetunion für die gebildeten Schichten ein Akt der Sinnstiftung, wenn sie sich innerlich von dem totalitären System abwendeten oder – viel seltener – sich ihm aus ethischen Gründen offen widersetzen, so will heute kaum noch jemand von dem Großen Terror hören. Es herrscht eine Unfähigkeit zu trauern, die Menschen entziehen sich der moralischen Pflicht, die Natur der Gewalt zu verstehen, sowie der Notwendigkeit, das Geflecht von Ideologie, Staat und Terror zu entzaubern. Zum Wesen der Gewalt gehört es, dass der, der sie ausübt, seinem Opfer bewusst menschliche Eigenschaften abspricht, seinen Wert als Individuum und Teil der Gemeinschaft, seine Autonomie und Unabhängigkeit. Jegliche Gewalt, sei es psychische, soziale oder physische, bedeutet, dass der Täter das Opfer entweder grundsätzlich entwertet oder entmenschlicht. Daher die verbreitete Diffamierung von Opfern der Gewalt als „Lagerstaub“ oder „Material“. Es geht hier um mehr als um die bloße Einteilung in Freund und Feind. Der Täter konstituiert sich durch die Gewalt als Subjekt der Gewalt und zementiert durch die Gewalt seine vermeintliche moralische Überlegenheit. Daher ist die Anwendung von physischer und symbolischer Gewalt eine Voraussetzung für das psychische Wohlbefinden all jener, die auf illegitime Weise an die Macht gekommen sind, an einem Minderwertigkeitskomplex leiden, zu Aggressivität neigen, autoritäre Strukturen benötigen oder Wege der extremen Selbstdarstellung suchen. In einer Gesellschaft, in der Gewalt als Zeichen der Stärke verstanden wird, als „angemessenes“ Sozialverhalten, ist der Besitz von Gewaltinstrumenten ein Ausweis für einen hohen sozialen Status eines Einzelnen oder einer Gruppe, er verleiht ihm Autorität und Prestige. Schauen wir uns dies anhand einiger Institutionen – der Armee, des Justizwesens, des Verhältnisses von Staat und Wirtschaft – sowie am Beispiel des Verhältnisses zur Stalinzeit genauer an. Gewaltinstitutionen waren die Voraussetzung zur sowjetischen Staatsbildung. Sie waren das zentrale Mittel, um den Staat zu konsolidieren und die sowjetische Gesellschaft dem Staat zu unterwerfen. Die Geheimpolizei Tscheka, die Arbeiter- und Bauernarmee, die mit physischer Gewalt zusammengetrieben wurde, die Arbeitsfronten, die Säuberungen, die Entrechtung, die Enteignung der Bürger und der Bauern waren von Anfang an die fundamentalen Institutionen der Sowjetunion. Auch wenn sie natürlich vielfach umgestaltet wurden, blieben sie nicht nur bis zum Ende der Sowjetunion erhalten, sondern bestehen bis heute. Das Sowjetregime rechtfertigte sie ideologisch und propagandistisch stets als Hilfsinstrumente, die beim Aufbau einer „neuen Gesellschaft“ und der Schaffung eines „neuen Menschen“ unabdingbar seien und nach dem „Sieg des Kommunismus“ verschwänden. Die Geschichte hat jedoch gezeigt, dass die Armee, die politische Polizei, die Geheimdienste und auch die sogenannten Rechtsschutzbehörden (die Staatsanwaltschaft, das Untersuchungskomitee, die Miliz, die Gerichte) bis zum heutigen Tag die stabilsten und am wenigsten reformierten Institutionen sind. 25 Jahre nach Gorbačevs Perestrojka tritt wieder in aller Deutlichkeit zu Tage, welch zentrale Rolle diese Institutionen bis heute für die Organisation und Reproduktion der Gesellschaft spielen. Ihre Aufgabe ist es keineswegs nur, als Exekutivapparate den Staat zu schützen, sie haben eine äußert wichtige Funktion für die symbolische Integration der Gesellschaft. Das sowjetische Gewaltsystem war extrem zentralisiert, die Ausführung der Parteidirektiven wurde auf allen Ebenen streng kontrolliert. Ideologie und Propaganda arbeiteten mit aller Kraft an seiner Rechtfertigung: Die „Umstände“ würden es unerlässlich machen, wegen äußerer Feinde und innerer Gegner des Sozialismus sei es unverzichtbar, die „ungebildete“ Bevölkerung müsse zum Aufbau einer besseren Zukunft gezwungen werden. Das heutige Gewaltsystem ist hingegen dezentral und wird von keiner Ideologie mehr gerechtfertigt. Es ist extrem korrupt, was ab und an dazu führt, dass die Bevölkerung aufbegehrt. Dass seine Funktionen die alten sind, ist spätestens deutlich geworden, seit die Unterstützung für das autoritäre Putin-Regime zurückgegangen ist. Entsprechend wurden seit Beginn der Proteste im Dezember 2011 die Ausgaben für die Staatsbürokratie als ganzes, insbesondere aber für die Gewaltstrukturen – die Armee, die Geheimdienste, das Innenministerium und andere Behörden – deutlich erhöht, sodass heute die Ausgaben für die „nationale Sicherheit“ 2,5–2,7mal so hoch sind wie jene für Gesundheit, Bildung und Wissenschaft zusammen. Entscheidend ist nicht nur, dass die zentralen Institutionen der organisierten Gewalt die gleichen wie zu sowjetischen Zeiten sind, sondern vor allem, dass sie die entscheidenden Machtinstrumente sind, ohne die alle anderen Ministerien und Behörden handlungsunfähig sind. Ohne diese totalitären Gewaltinstitutionen funktioniert Russlands Exekutive nicht. Zu den staatlichen Zwangsanstalten sind auch die Sozialisierungsinstitutionen zu zählen, insbesondere die Schule, die bis heute der Abrichtung immer neuer Schülergenerationen dient, sowie die Propagandaagenturen, die Anhänger des Regimes produzieren sollen, also die staatlichen oder vom Staat abhängigen Medien, insbesondere das von der Präsidialverwaltung kontrollierte Staatsfernsehen. Die Schulen und Hochschulen, denen die Erfüllung ideologischer Funktionen wie die Erziehung zum Patriotismus und zu religiösem Denken aufgezwungen wird, befinden sich in einer Dauerkrise oder sogar in einem Zustand des schleichenden Zerfalls. Die Kerninstitutionen des alten Systems konnten nur durch radikale Einschnitte in die staatliche Sozialpolitik erhalten werden. Als der Staat das Ziel der sozialen Umverteilung aufgegeben hatte, bedurfte es keiner Planwirtschaft mehr. Dies führte zu einem Wechsel des Regulierungsregimes: Macht wurde in Geld konvertiert. Die Führung des Landes konnte die Fesseln der Ideologie abstreifen und sich des Parteiapparates, der die staatlichen Behörden gespiegelt hatte, entledigen. Das Regime benötigt keine Ideologie mehr, es beabsichtigt keine totale Umgestaltung der Gesellschaft und keine Schaffung eines „neuen Menschen“ mehr. Der Machtstaat ist Selbstzweck geworden und daher ausschließlich mit seiner Selbsterhaltung beschäftigt. Seit Mitte der 1990er Jahre ist das zentrale Ziel aller staatlichen Politik in Russland der Schutz der herrschenden Elite vor ihren Gegnern – vor unzufriedenen Bevölkerungsgruppen ebenso wie vor einzelnen Fraktionen aus den eigenen Reihen. Wurde in der Sowjetunion Macht durch einen weitverzweigten Kontrollapparat ausgeübt, der über die ideologische Loyalität wachte, so sind es heute die Steuerbehörden, die Strafverfolgungsbehörden sowie die Gerichte, die ökonomischen und juristischen Druck ausüben: Schutz des Eigentums wird nur im Tausch gegen Loyalität gewährt. Zentrale Aufgabe der Staatsanwaltschaft, des Untersuchungskomitees, des Innenministeriums, der Polizei, der Gerichte und der staatlichen Medien ist es, die Gegner des Putin-Regimes zu diskreditieren und sie ihrer Ressourcen zu berauben. Dazu müssen sie nicht umgebracht werden, es genügt, ihnen den Einfluss auf die Gesellschaft zu nehmen – etwa indem man ihnen den Zugang zu den wichtigen landesweiten Fernsehsendern und den auflagenstarken Zeitungen versperrt, sie von Wahlen aussperrt, ihnen ihr Eigentum nimmt. Dieses halbgeschlossene, ausschließlich auf Selbsterhaltung ausgerichtete autoritäre Regime formierte sich, als einerseits die kommunale und regionale Selbstverwaltung zunächst eingeschränkt und ab 2004 gänzlich aufgehoben und andererseits die Unternehmenspolitik sämtlicher Großkonzerne den Interessen der politischen Führung untergeordnet wurden. Damit wurde auch allen zivilgesellschaftlichen Organisationen, die durch die bloße Tatsache ihrer Unabhängigkeit und ihrer gesellschaftlichen Legitimität eine Gefahr für das Regime darstellten, der Zugang zu einer aus Russland stammenden Finanzierung abgeschnitten. Dieses Regime befindet sich seit Mitte 2008 in einer Krise, deren Ausgang unklar ist. Während der totalitäre Sowjetstaat seine Macht durch straffe Kontrolle der Gesellschaft und Lenkung sämtlicher Lebensbereiche aufrechterhalten wollte, verfügt das heutige Regime über wesentlich flexiblere Lenkungs- und Zwangsmechanismen. Der Verzicht auf die Fähigkeit, Ressourcen in großem Maßstab umzuverteilen, hat das Regime wesentlich stabiler gemacht, da mit der Verantwortung des Staates für die Gesellschaft auch seine Abhängigkeit von der Gesellschaft verringert wurde. Der Staat benötigt keine umfassenden Kontrollmechanismen mehr. Bis vor kurzem gewährte das Putin-Regime der Gesellschaft in all jenen Sphären recht viel Freiheit, die nicht unmittelbar sein Selbsterhaltungsinteresse betrafen: insbesondere im Bereich der Kultur und des Konsums. Kleinunternehmen können sich frei entwickeln, sozialer Aufstieg ist möglich. Besonders wichtig ist die Verbreitung dezentraler Kommunikationsmittel wie Handy und Internet sowie die Entstehung unabhängiger kommerzieller Fernseh- und Radiosender, Verlage und Zeitungen. Gleichzeitig stützt sich das Regime auf wichtige Pfeiler zentraler und autoritärer Herrschaft. Von herausragender Bedeutung zur Reproduktion sowjetischer Werte und Praktiken bleiben die Armee und die Gerichte. DIE ARMEE Wehrpflichtarmeen haben nicht nur die Aufgabe, die nationale Sicherheit zu gewährleisten und das Land vor Angriffen von außen zu schützen. Eine solche Armee ist auch innenpolitisch eine bedeutende Machtressource. Entscheidend ist jedoch nicht, dass im Falle eines offenen Konflikts zwischen einzelnen Machtcliquen mit dem Einsatz der Armee gedroht werden kann. Auch ist Russlands Armee wie schon die sowjetische weit davon entfernt, eine Prätorianergarde zu sein, die zu einem Militärputsch in der Lage wäre. Die zentrale Funktion der Armee ist die einer Sozialisationsinstanz. Mit ihrer Hilfe übt die Führung des Landes Sozialkontrolle aus. Die Armee bewahrt und repräsentiert grundlegende Werte einer totalitären Gesellschaft. In der Armee werden Bevölkerungsgruppen, die sich am Rande der Gesellschaft befinden, ideologisch geformt. Jungen Männern aus armen und rechtlosen Bevölkerungsgruppen – insbesondere aus den von sozialem Niedergang gekennzeichneten Kleinstädten und Dörfern –, denen entweder das Geld fehlt, um sich mittels Bestechung von der Wehrpflicht freizukaufen, oder die den Wehrdienst als Möglichkeit zu sozialem Aufstieg und beruflicher Qualifikation sehen, wird in der Armee Nationalismus – oder, wie es offiziell heißt: Patriotismus – eingeimpft. Diese Gewalt- und Zwangsinstitution, die das Prinzip einer streng hierarchischen Gesellschaft reproduziert, in der anstelle der Gleichheit vor dem Gesetz und der Idee universeller Moralvorstellungen die Rechte, die Pflichten und der Wert des Einzelnen von seinem Rang abhängen, in der die Welt auf archaische Weise in Gut und Böse eingeteilt ist, durchlaufen heute trotz der Krise der Armee immer noch ein Drittel aller Männer. Knapp die Hälfte der heutigen Bevölkerung wurde hier sozialisiert und auf jene antimoderne Werthaltung abgerichtet, die sie zur sozialen Basis des Putin-Regimes macht. Die Armee ist wie zu Sowjetzeiten eine Schule der Grausamkeit, sie reproduziert durch das unter Wehrpflichtigen unterschiedlichen Dienstalters verbreitete informelle Herrschafts- und Gewaltverhältnis der Kadettenschinderei (dedovščina) archaische Vorstellungen von Gewalt und Gerechtigkeit. Anderthalb bis zwei Millionen Männer haben durch ihren Dienst in der Armee an den Kriegen in Tschetschenien und dem Konflikt in Dagestan teilgenommen. Bei ihnen hat sich ein gewaltiges posttraumatisches Aggressionspotential aufgestaut, das sie in die gesamte Gesellschaft hineintragen. Am deutlichsten ist dies in jenen sozialen Schichten zu spüren, die über die geringsten sozialen Ressourcen in Form von Bildung, Berufsqualifikation, Einkommen und Zugang zu unabhängigen Informationen verfügen, vor allem also in den Provinzstädten und Dörfern. DIE GERICHTE Eine ebenso wichtige Rolle wie die Armee spielen die Gerichte zur Aufrechterhaltung institutionalisierter Gewalt. Die Bevölkerung sieht sie wie zu Sowjetzeiten in erster Linie als Straforgane, die mit Repression die herrschende Elite schützen sollen. Die Bürger Russlands versuchen um jeden Preis, Gerichtsverfahren zu vermeiden. Selbst eine Zivilklage gilt nur als allerletztes und sehr unangenehmes Mittel. In Fragen des Zivilrechts und des Wirtschaftsrechts – vorausgesetzt, es sind keine Interessen eines Staatskonzerns berührt – glaubt die Bevölkerung immerhin, dass die Wahrscheinlichkeit eines gerechten Urteils bei 50 Prozent liegt. Geht es allerdings um das Strafrecht oder um eine juristische Auseinandersetzung zwischen einem einfachen Bürger und einem Staatsbeamten, so halten 80–85 Prozent der Befragten die Sache für aussichtslos. Der weitaus größte Teil der Bevölkerung fühlt sich der Willkür der Staatsbürokratie wehrlos ausgesetzt und glaubt, dass der Korpsgeist der herrschenden Klasse dazu führt, dass deren Angehörige niemals zur Verantwortung gezogen werden. Dieser Rechtsrelativismus ist Folge der Anpassung an die Doppelstruktur des russländischen Gemeinwesens. Auf der einen Seite steht der Staatsapparat, der keiner gesellschaftlichen Kontrolle unterliegt, auf der anderen Seite befinden sich die neuen gesellschaftlichen Institutionen, für die es keine adäquaten rechtlichen Regelungen gibt. Das zynische Verhältnis zum Recht wird täglich schon dadurch gefördert, dass die Realität den in der Verfassung deklarierten Prinzipien Hohn spricht und die Praxis der Rechtsanwendung offen den Gesetzen zuwiderläuft. Es handelt sich nicht um einzelne Abweichungen oder kleinere Mängel. Vielmehr hat sich eine politische und juristische Macht etabliert, die außerhalb der Verfassung steht. Dazu gehören das autoritäre Regime im Zentrum und auch die Strukturen des informell dezentralisierten Staates, regionale oder lokale Behörden also sowie die Staatskonzerne, die sich die Mittel und Ressourcen der Staatsmacht angeeignet haben. Strafverfahren werden von den Untersuchungsbehörden und der Staatsanwaltschaft dominiert. Ursachen sind ein Korpsgeist, personelle Verflechtung – Richter werden in der Regel aus den Untersuchungsbehörden, aus der Polizei oder aus dem Justizapparat rekrutiert – sowie die tradierte Vorstellung, dass die Sicherheitsorgane und die mit der Aufrechterhaltung der „öffentlichen Ordnung“ befassten Behörden über der Gesellschaft stehen. Die Folge ist, dass Anklage und Verteidigung nicht gleichberechtigt sind und praktisch nie Freisprüche ergehen: Weniger als ein Prozent der Strafverfahren enden mit Freisprüchen. Wenn heute die Hälfte der Bevölkerung Russlands glaubt, sie habe keine Möglichkeit, sich mit Hilfe des Rechts vor der Willkür einflussreicher sozialer Gruppen zu schützen, so ist dies nicht einer Reaktion auf ein bestimmtes Ereignis zuzuschreiben, sondern ist Ergebnis der Erfahrungen, die die Menschen in Russland mit dem Staat gemacht haben. Das selektive Vorgehen der Gerichte fördert die berühmte Duldsamkeit der Russen, bei der es sich bei genauerer Betrachtung um politische Passivität und eine Taktik des „wegduckenden Anpassens“, um eine Adaption an ein aus Sicht der Bevölkerung teilweise irrationales Regime handelt, dessen Handlungen unvorhersehbar sind. All dies dient natürlich auch dazu, die eigene verächtliche Haltung zu den Gesetzen zu rechtfertigen. Funktional betrachtet stabilisiert der Rechtsrelativismus somit sowohl das tradierte Verhältnis von Bürgern und Staatsmacht als auch die traditionellen Beziehungen zwischen einzelnen Teilen der Gesellschaft. Er ist Voraussetzung dafür, dass sich die Untertanen an die bürokratische Willkür anpassen und diese Willkür als unvermeidlich, ja als „normal“ wahrnehmen. Dies ist die typische Mentalität des Homo Sovieticus, die auch nach dem Untergang der Sowjetunion von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Der Verstoß gegen Gesetze gilt in der Folge nicht mehr als kriminell, als Ausweis von Devianz. Vielmehr glauben die meisten Menschen in Russland, dass „alle“ gegen das Gesetz verstoßen – vom einfachen Bürger bis zu den Vertretern des Staates –, am häufigsten jedoch die Angehörigen der Bürokratie, die davon überzeugt ist, dass sie über dem Gesetz steht und ein Monopol auf dessen Auslegung hat. Gesetze verlieren somit ihren Wert als öffentliches Gut und verwandeln sich in das Gegenteil: in ein Instrument selektiv angewendeter Gewalt. Dies konnte man an einer Vielzahl von Prozessen beobachten: an den Verfahren gegen Umweltschützer wie Grigorij Pas’ko und Wissenschaftler wie den Atomphysiker Igor’ Sutjagin, die wegen Spionage verurteilt wurden, an den beiden Chodorkovskij-Prozessen sowie an den Verfahren gegen Teilnehmer der Moskauer Anti-Putin-Demonstration vom Mai 2012. Umgekehrt verlaufen Verfahren, in der es um organisierte Kriminalität mit Verwicklung lokaler Behörden und der örtlichen Polizei geht, ebenso im Sande wie die Untersuchungen zur Korruption im Verteidigungsministerium, im Landwirtschaftsministerium, im Bildungsministerium, in der Weltraumbehörde, in der Staatsanwaltschaft … Besonders deutlich zeigen sich die Folgen dieses Rechtsnihilismus in der Wirtschaft. Jeder sechste Unternehmer Russlands sitzt im Gefängnis, nachdem er in begründeten oder fabrizierten Verfahren verurteilt wurde. Es ist sehr schwierig, die Zahl der fabrizierten Verfahren in diesem Bereich abzuschätzen, da in neun von zehn Prozessen, in denen Anklage auf der Grundlage des Wirtschaftsstrafrechts erhoben wird, kein Urteil ergeht. Solche Verfahren müssen daher als ein Mittel im Kampf gegen Konkurrenten gesehen werden. Diese werden mit Hilfe der Untersuchungsbehörden und der Staatsanwaltschaft erpresst und gekapert. So kommt es unter Beteiligung der staatlichen Behörden zu einer ständigen Umverteilung von Einkommen. Die entstehende Mittelklasse Russlands hat erkannt, dass das Fehlen unabhängiger Gerichte das zentrale Hindernis für die Modernisierung des Landes ist. Ohne diese gibt es keine Garantie des Eigentums, und die Besitzer kleiner und mittlerer Unternehmen, die von den Behörden nicht gedeckt werden und der Willkür ausgeliefert sind, investieren nicht in moderne Produktionsanlagen. Die Zahl der offiziell registrierten Verbrechen ist von 1,8 Millionen im Jahr 1990 auf 3,6 im Jahr 2008 gestiegen. Mehr als 1,3 Millionen Menschen – 85 Prozent von ihnen Männer – befinden sich in Russland heute in Haft oder Untersuchungshaft. Das Gefängnis bricht viele, die dorthin geraten. Vier von zehn Verurteilen werden rückfällig. Schätzungen gehen davon aus, dass zwischen 15 und 18 Prozent der männlichen Bevölkerung Russlands bereits einmal in der „Zone“ war. Die meisten von ihnen kommen aus den unteren Schichten, wohnen in den von sozialem Niedergang gekennzeichneten Dörfern oder Provinzstädten, wo Kriminalität und Alkoholismus zum Alltag gehören. Dies ist genau jenes Milieu, aus dem ein Großteil der Wehrdienstleistenden stammt, das Reservoir, aus dem die Gewaltinstitutionen für ihre systematische Reproduktion schöpfen und dabei eine von alltäglicher „unmotivierter“ Aggression geprägte Subkultur produzieren. DIE WIRTSCHAFT Der zentrale Motor für die Umwandlung des totalitären sowjetischen Systems in das heutige autoritäre System waren die ökonomischen Interessen der Angehörigen der Staatsbürokratie. Verschiedene Gruppen aus der Bürokratie haben die Kontrolle über die Finanzflüsse übernommen. Putins Machtantritt und die Festigung der Machtposition von Ex-KGBlern in den Jahren 2000–2002 führten dazu, dass jegliche Opposition konsequent erstickt wird, Wahlen in großem Stile gefälscht werden, die Gouverneure der Regionen nicht mehr gewählt, sondern vom Präsidenten ernannt werden und die wichtigsten Medien zu Propagandaorganen und Instrumenten der Polittechnologie umgewandelt wurden. Darüber hinaus verteilten die von ehemaligen Geheimdienstlern dominierten Klans in großem Stile mit Hilfe der staatlichen Gewaltstrukturen Eigentum zu ihren Gunsten um. Die Verschmelzung des Staatsapparats mit der Wirtschaft bedeutet faktisch eine Dezentralisierung der Macht, die sich von außen betrachtet als Korrumpierung des Verwaltungsapparats darstellt. Heute befinden sich 60–70 Prozent der Volkswirtschaft unter staatlicher Kontrolle. Diese spezifische Form der Privatisierung von Staatseigentum, bei der im Austausch gegen Loyalität zur Staatsführung bedingte Eigentumsrechte vergeben wurden, führte zu Monopolbildung und zu einer Dominanz des Rohstoffsektors. Gleichzeitig hatte sie zur Folge, dass die Bedingungen für kleine und mittlere Unternehmen wegen der Willkür der Behörden und Steuerschikanen extrem schlecht sind. Das Regime sieht in den kleinen und mittleren Unternehmen sogar in zunehmendem Maße eine Gefahr, da mit ihrem Wachstum unabhängige Wirtschaftssubjekte und eine gesellschaftliche Sphäre entstehen, die Reformen fordern und mehr Freiheit verlangen. Die Staatsmacht hat daher ein objektives Interesse daran, dass die Privatwirtschaft schwach ist. Je größer der Kreis der Privatunternehmer, desto größer wird die Mittelschicht, die eine echte Gewaltenteilung und vor allem unabhängige Gerichte fordert. Steuerschikanen und administrativer Druck haben dazu geführt, dass allein im Jahr 2012 die Zahl der kleinen Unternehmen und der Ein-Mann-Unternehmen um 300 000 zurückgegangen ist. Die soziale Basis des Putin-Regimes ist das Russland der siechenden Industriezonen, das sich paternalistischen Illusionen hingibt und immer noch hofft, dass der Staat ihm aus der Dauerkrise hilft. Genau in diesem sozialen Milieu sind auch die Gewaltinstitutionen nach wie vor fest verankert. Da das Regime vor allem auf Einnahmen aus dem Export von Rohstoffen setzt, also auf den Handel mit reichen und hochentwickelten Ländern, ist es nicht darauf angewiesen, dass es der Bevölkerung gut geht. Es achtet lediglich darauf, einen Teil der Überschüsse aus dem Rohstoffgeschäft so zu verteilen, dass kein relevantes Protestpotential entsteht. So hat das Regime die Abhängigkeit des Staates von der Gesellschaft verringert und die politische Repräsentation korporativer Interessen eingeschränkt. Damit wurde auch der wirtschaftliche Reformdruck verringert. Dieses spezifische Verhältnis von Staat und Wirtschaft verhindert Eigenverantwortung der Bürger. Es fördert die Erhaltung oder das Wiederaufleben einer paternalistischen Mentalität, das passive Erdulden von immer neuen Einschränkungen und die Anpassung an die staatliche Willkür. So wurde der sowjetische Totalitarismus nach der Aufgabe des ideologischen Monopols der Kommunistischen Partei schrittweise in einen Autoritarismus verwandelt. Russland erfüllt heute alle Kriterien eines autoritären Staats, die etwa Juan Linz benannt hat: Das Regime stützt sich auf oligarchische Gruppen, auf Machtapparate, die höhere Bürokratie und die Direktoren der großen Staatskonzerne. Die Ideologie der Schaffung einer neuen Gesellschaft und die weltpolitische Mission sind verschwunden. Stattdessen versucht das Regime, sich mit einem imitierten Traditionalismus (Orthodoxie und russischer Nationalismus) zu legitimieren, propagiert „russische Werte“ wie Duldsamkeit, Intellektuellenfeindlichkeit, Feindschaft gegenüber dem Westen, Hörigkeit und die Ablehnung liberaler Vorstellungen, spricht von einem „Sonderweg“ oder der „Einzigartigkeit der russischen Zivilisation“. Vor allem aber fördert es die politische Apathie der Gesellschaft. VERDRÄNGUNG DER VERGANGENHEIT – RÜCKKEHR STALINS Zur Rechtfertigung einer autoritären, niemandem verantwortlichen Herrschaft muss die Bedrohung des nationalen Kollektivs und seiner Werte beschworen, alles Private und Individuelle hingegen herabgesetzt und entwertet werden. Die Menschen sollen von Schuldgefühlen befreit werden, Scham über eine Vergangenheit des Terrors, der Armut und der alltäglichen Erniedrigung wird verdrängt. Dies führt zu jener Passivität, die organisierten öffentlichen Widerstand gegen das Putin-Regime unmöglich macht. Damit wächst der öffentliche Zynismus und eine offene Morallosigkeit. Dieser Mangel an gemeinsamen Werten zwingen das Putin-Regime dazu, auf der Suche nach Quellen der Legitimität auf ein Sammelsurium „nationaler Werte“ zurückzugreifen, die „Patriotismus“ stimulieren sollen: von der Orthodoxie bis zu den „Helden der Arbeit“ und den „Erbauern des Kommunismus“, von der Legende über die Vertreibung der Polen aus Moskau im Jahr 1612 bis zum Sieg über Napoleon im Jahr 1812. Seit dem Machtantritt Putins betreibt das Regime systematisch eine konservative Reideologisierung der Gesellschaft. Höhepunkt waren die Feiern zum 60. Jahrestag des Sieges über Hitler-Deutschland. Der Name Stalins, der während der Perestrojka vor allem mit dem Terror gegen die eigene Bevölkerung verbunden war, wurde zum Symbol für den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg gemacht. Schulbücher bringen Stalin heute in Zusammenhang mit Nationalstolz. Diese Propaganda zeigt Wirkung: Bei den regelmäßigen Umfragen des Levada-Zentrums landete Stalin im Jahr 2012 erstmals seit 1989 auf Platz 1 der „größten Persönlichkeiten der Weltgeschichte und der Geschichte unseres Vaterlandes“. Stalin wird als Generalissimus, als Oberkommandierender der Roten Armee, als einer der drei Führer der siegreichen Alliierten und Schöpfer der Nachkriegsordnung präsentiert. So ist Stalin selbstverständlicher Bestandteil eines pompösen Rituals der nationalen Selbstbeweihräucherung, bei der die Überlegenheit Russlands über andere Länder gefeiert wird. Stalin wird als jemand präsentiert, der die Modernisierung eines rückständigen Landes „erfolgreich gemanagt“ hat. Seine Methoden seien zwar hart gewesen, aber unter den gegebenen Bedingungen ohne Alternative. Zu diesem Bild gehört unabdingbar ein feindlicher und heuchlerischer Westen mit seiner „demokratischen Fassade“ und seiner „Menschenrechts-Demagogie“. So wie einst Stalin Russland rettete, habe nun Putin das Land vor dem Ausverkauf durch die Liberalen gerettet, die nach dem Zerfall der Sowjetunion zur Befriedigung ihrer Geldgier auch einen Zerfall Russlands hätten herbeiführen wollen. Dies ist das Mantra, das Putins Propagandamaschine täglich verbreitet. Mit dem Stalinismus und der Stalinzeit verbinden die Menschen in Russland heute auf der einen Seite eine irrationale Angst, auf der anderen Seite ein mythisches Heldentum. Die Angst gehört zum Individuum, das Heldentum zum Kollektiv, zur mobilisierten Gesellschaft, in der der Wert des Einzelnen an seiner Bereitschaft gemessen wird, sich dem Enthusiasmus der Masse hinzugeben und sich für das Ganze zu opfern. Zum heroischen Bild von der Stalinzeit gehört auch, dass diese als eine Epoche gesehen wird, die so tief in der Vergangenheit liegt, dass Mitgefühl mit den Opfern der Repressionen nicht möglich ist. Gemeinsam ist diesen beiden Schichten der kollektiven Erinnerung, der Angst und der Heroisierung, dass die traumatische Geschichte verdrängt wird, dass die Furcht vor einer Wiederkehr der Vergangenheit Widerstand gegen eine Beschäftigung mit der Vergangenheit produziert: „Davon will ich nichts mehr wissen.“ Somit wird ein moralisches Urteil über die Vergangenheit ebenso wie eine rationale Auseinandersetzung mit der Geschichte verhindert. Die Angst vor der Geschichte hat auch zur Folge, dass die Menschen nichts von der Gegenwart wissen wollen. Der Vergleich des vergangenen Regimes mit dem heutigen ist tabu, da die Menschen unterbewusst spüren, dass der Einzelne heute ebenso schutzlos der Willkür der Macht ausgeliefert ist wie damals, dass sein Lebensweg und sein Lebensglück ebenso wenig in seiner Hand liegen wie zu sowjetischen Zeiten. Die Beschäftigung mit der sowjetischen Geschichte und das Wissen, dass sie auf die Gegenwart wirkt, sind Voraussetzung dafür, dass das heutige System der institutionalisierten Gewalt verstanden werden kann. Zur Verdrängung der Vergangenheit gehört auch, dass sie im Fernsehen in unzähligen Unterhaltungsshows und Serien zerredet, dass die Stalinzeit in Doku-Soaps wie „Unser Stalin“ oder „Die Frauen des Kreml“ zu einem Glamour-Thema gemacht wird. All dies fördert die Bereitschaft, die Zumutungen der Gegenwart geduldig zu ertragen, und schwächt den Willen, Verantwortung zu übernehmen und sich politisch zu engagieren. Die Sinnfabrikanten des Putin-Regimes stellen somit ein äußerst wichtiges soziales Produkt her: Sie produzieren mit ihrer Propaganda eine passive Haltung zur Vergangenheit, ein Geschichtsbild, in dem es keine handelnden Personen gibt, so dass niemand für die Verbrechen des Staates verantwortlich gemacht werden kann. So wie die Menschen in Russland die Vergangenheit betrachten, so sehen sie auch die Gegenwart. Wem der Wille und die Möglichkeit zum Verständnis der Vergangenheit fehlt, der kann auch heute nur passiv sein und allenfalls versuchen, sich selbst und seine Nächsten zu schützen; seine Hoffnungen und Bedürfnisse beschränken sich darauf, in einer Atmosphäre der grundlosen Angst und der ständigen Bedrohung zu überleben. Es gibt in Russland heute niemanden mehr, der über ausreichend moralische und intellektuelle Autorität verfügt, um der Gesellschaft ein anderes Geschichtsbild zu vermitteln. Von sich aus ist die Gesellschaft angesichts der geschilderten Lage nicht im Stande, das dekorative Geschichtsbild durch ein authentisches zu ersetzen. Bei Umfragen erklären mehr als drei Viertel der Befragten, „die ganze Wahrheit über die Stalinzeit nie zu erfahren“, und fast ebenso viele sind der Meinung, es lohne sich auch nicht, diese zu suchen, da es „eine objektive Wahrheit in der Geschichte nicht geben kann“. Die einzige Reaktion auf das frustrierende Wissen um die Stalinschen Repressionen ist der Wunsch, all dies zu vergessen. Die Putinsche Herrschaftstechnologie war erfolgreich. Aus dem Russischen von Andrea Huterer, Berlin Erschienen in: Osteuropa, 5-6/2013, S. 283-295 Lev Gudkov (1946), Prof. Dr., Soziologe, Direktor des Levada-Zentrums, Moskau Von Lev Gudkov erschien zuletzt in Osteuropa: Sozialkapital und Werteorientierung. Mo-derne, Prämoderne und Antimoderne in Russland, in: OE, 6–8/2012, S. 55–83. – Russland in der Sackgasse. Stagnation, Apathie, Niedergang, in: OE, 10/2011, S. 21–45. – Staat ohne Ge-sellschaft. Zur autoritären Herrschaftstechnologie in Russland, in: OE, 1/2008, S. 3–16.

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