Editorial
Kompromisslos
Volker Weichsel, Manfred Sapper
Abstract in English
(Osteuropa 4/2013, S. 34)
Volltext
Ungarn steht erneut im europäischen Rampenlicht. Die EU-Kommission sieht durch die jüngste Änderung des erst 2012 in Kraft getretenen ungarischen Grundgesetzes europäisches Recht verletzt. Ein Verfahren ist bereits vor dem Europäischen Gerichtshof anhängig, ein weiteres könnte folgen, wenn sich erweist, dass die ungarische Regierung die – als rechtswidrig erkannte – Pensionierung von Richtern nach der Änderung des zugrundeliegenden Gesetzes nicht wie versprochen zurückgenommen hat. Wer verstehen will, was geschieht, muss zu den Anfängen zurückkehren. In Ungarn verabschiedete das Parlament mit den Stimmen des Fidesz kurz nach dessen Erdrutschsieg bei den Wahlen vom April 2010 eine „Politische Deklaration über die nationale Zusammenarbeit“. Dort heißt es, Ungarn habe sich „nach sechsundvierzig Jahren Besatzung und Diktatur und nach zwei Jahrzehnten des verworrenen Übergangs“ das „Recht und die Fähigkeit zur Selbstbestimmung zurückerobert“. Im Frühjahr 2010 habe eine „im konstitutionellen Rahmen zum Sieg geführte Revolution“ stattgefunden. Parlament und Regierung seien von der ungarischen Nation dazu verpflichtet worden, ein neues „System der nationalen Zusammenarbeit“ aufzubauen – „ohne Kompromisse und unerschütterlich“. Die Radikalität ist Programm. Erst jüngst erklärte Viktor Orbán deutschen Journalisten, das „alte System“ sei bankrott gewesen, der Fidesz habe eine „Mission“, die neue Verfassung Ungarns weiche von vielem ab, was „im alten Westeuropa“ gemacht wird. Solch Offenheit vor internationalem Publikum ist selten. Gewöhnlich antwortet Ungarns Regierung all jenen, die hinter der neuen Verfassung, den Gesetzen zu ihrer Änderung, den ebenfalls nur mit Zweidrittelmehrheit zu ändernden Kardinalgesetzen sowie den vielen einfachen Gesetzen und Verordnungen den systematischen Aufbau einer autoritären Ordnung erkennen, all diese Regelungen fänden sich auch in anderen europäischen Rechtsordnungen. Dies schreibt auch Ungarns Justizminister Tibor Navracsics in seinem Beitrag für den vorliegenden Band. Osteuropa hat die Klage der Orbán-Regierung ernstgenommen, sie bekäme keine Möglichkeit eingeräumt, ihren Standpunkt darzulegen und Irrtümer auszuräumen. Ob seine Darlegung überzeugt, sei dahingestellt. Den Gegenstandpunkt vertritt László Sólyom, dem man nicht vorwerfen kann, er sei eingefleischter Gegner des Fidesz, war er doch 2005 mit den Stimmen der Fraktion von Orbáns Partei sowie einiger abtrünniger Abgeordneter der damaligen Regierungskoalition zum Staatspräsidenten gewählt worden. Sólyom kommt zu dem Schluss, mit der vierten Änderung der Verfassung sei der Rubikon überschritten: An die Stelle der Gewaltenteilung ist die Mehrheitsherrschaft getreten. Bei genauerer Betrachtung dürfte dieses Urteil nicht einmal auf den Widerspruch der Orbán-Regierung stoßen. Welche Bedeutung Orbán Rechtsstaatlichkeit und den Institutionen, die diese garantieren, beimisst, erklärte er in dem erwähnten Interview: „Ich bin nicht der Auffassung, dass man Demokratie mit Institutionen gegen das Volk verteidigen soll“.