Titelbild Osteuropa 6-8/2012

Aus Osteuropa 6-8/2012

Anatomie einer Blockade
Stillstand im Doppelstaat Russland

Richard Sakwa

Volltext als Datei (PDF, 93 kB)


Abstract in English

Abstract

Russland ist bis heute ein klassischer Transformationsstaat. Grundsatzentschei­dungen harren der Lösung. Doch das Regime ist handlungsunfähig. Die politische Ordnung ist gespalten, ein Doppelstaat entstanden. Der Verfassungsstaat mit seinen formalen Institutionen und Verfahren wird blockiert durch einen Verwaltungsstaat, in dem Gruppen ihre Interessen mit informellen Praktiken verfolgen und dadurch den Verfassungsstaat unterminieren. Liberale und traditionalistische Schichten blockieren sich gegenseitig. Die wirtschaftliche Modernisierung kommt nicht voran. Russland ist in einer Sackgasse. Ein Ausweg ist ohne die Herausbildung eines gesellschaftlichen Konsens und die Rückkehr zum Verfassungsstaat nicht möglich – mit oder ohne Putin.

(Osteuropa 6-8/2012, S. 45–54)

Volltext

Wann ist eine Transformation abgeschlossen? Offensichtlich gibt es auf diese Frage keine Antwort, denn politischer und gesellschaftlicher Wandel enden niemals. Dennoch weisen Gesellschaften, die sich in einer Periode beschleunigten Wandels befinden, einige Spezifika auf. Die Vergleichende Demokratieforschung liefert uns mit ihren Methoden und Erkenntnissen Anhaltspunkte, um diese zu verstehen. Allerdings müssen wir uns immer der Differenzen bewusst sein, wenn wir Begriffe und theoretische Konstrukte, die für einen Raum entwickelt wurden, auf einen anderen übertragen, der ganz andere Charakteristika aufweist. In der Transformationsforschung lassen sich zwei Ansätze unterscheiden. Der erste ist ein typologischer Ansatz mit teleologischen Elementen. Der zweite ist genealogisch und geht stärker von den realen Bedingungen in der jeweiligen Gesellschaft aus.[1]

In Russland ist der tiefgreifende politische Wandel längst nicht beendet. Zahlreiche Probleme der Innen- und Außenpolitik gilt es zu lösen. Dabei geht es weniger um politische Alltagsfragen als vielmehr um weltanschauliche Grundsatzentscheidungen. Insofern bleibt Russland eine „Transformationsgesellschaft“.

Stillstand und Gleichgewicht

Das Land befindet sich in einer Phase des Stillstands. Gesellschaftliche und politische Interessengruppen sowie verschiedene Denkschulen blockieren sich gegenseitig, was dem herrschenden „bonapartistischen“ Regime außerordentliche Handlungsfreiheit verschafft. Tatsächlich bezieht der Machtapparat (vlast’) seine Autorität daraus, dass er die Fraktionen und die beiden Säulen des Doppelstaates, den „Verwaltungsstaat“ und den „Verfassungsstaat“, im Gleichgewicht hält. Wir haben es mit einem klassischen „Stabilitätsregime“ zu tun, das seine Vorherrschaft permanent durch direkte Eingriffe in den politischen Prozess sichert. In dieser Lage wird die Transformation erst dann beendet sein, wenn der vom Stabilitätsregime erzeugte Stillstand in ein Gleichgewicht übergeht, das auf einem mehr oder weniger organischen Ausgleich der Interessen und Ideen basiert sowie einen gesellschaftlichen Konsens abbildet. Die Vorstellung des Gleichgewichts stammt aus der neoklassischen Wirtschaftstheorie und unterstellt, dass es nach einer Phase der Unruhe zur „Normalisierung“ kommt. Dieser Begriff des „Gleichgewichts“ legt die Vorstellung nahe, dass eine Übergangsperiode abgeschlossen sein kann und die Gesellschaft einen Zustand der Normalität erreichen wird, bis dann die nächste Periode des Zusammenbruchs und des Übergangs zu einem neuen Gleichgewicht einsetzt.

Seit über zwanzig Jahren befindet sich Russland in einer ganz typischen Periode, die von Reformen und nachholender Modernisierung bestimmt ist. Vielfältige politische Zwänge, geopolitische Orientierungen und Entwicklungswege bestehen nebeneinander. Das schlägt sich in einem ausgeprägten Pluralismus verschiedener Denkschulen nieder. Sich ausschließende Weltbilder über Russlands Identität und Ziele konkurrieren miteinander. Das ist der Grund, weshalb es zu einem strukturellen Stillstand der Entwicklung gekommen ist. Höchst unterschiedlich sind denn auch die Rezepte, wie der Stillstand überwunden werden kann. Weder gibt es einen Konsens über die Mittel noch über das Ziel, das als überzeugende Vision für Russland gelten könnte. Dieses Manko war eine der Ursachen für jene scharfe Reaktion auf die „Rochade“, die Medvedev und Putin am 24. September 2011 angekündigt hatten. Selbst ehemalige Anhänger von Putin fanden die Aussicht auf weitere sechs Jahre Putinscher Stabilität erschreckend. Auch in Vladimir Putins virtuoser Selbstdarstellung als „Führer“ zeigt sich nichts anderes als der strukturelle Stillstand des politischen Systems.[2] In seinem Aktionismus ohne Bewegung erinnert das System an die Stagnation des späten Brežnev-Regimes und spiegelt die Agonie des Sowjetsystems in seiner Endphase wider.

Zu den Kennzeichen der Moderne gehört das Auftreten bürgerlicher Akteure, die Autonomie einfordern. Der Staat reagiert darauf mit verschiedenen Versuchen, die Gesellschaft neu zu ordnen und zu kontrollieren. In dieser Hinsicht repräsentiert Putin einen Widerspruch der Moderne. In Russland wird er dadurch verschärft, dass sich der Staat als unfähig erweist, die liberalen, demokratischen Ansprüche zu erfüllen. Der Staat wird durch ein bürokratisches Regime unterminiert, das er kaum mehr bändigen kann; die Macht ist in der Hand einer technokratischen, häufig korrupten Elite, die ihre eigenen Machterhaltungsinteressen als Synonyme für Stabilität, Sicherheit und Entwicklung des gesamten Staates darstellt. Nur eine evolutionäre, aber rasche Konsolidierung des Verfassungsstaats kann verhindern, dass es zu einer neuen Phase revolutionärer Aufstände kommt.

Der Doppelstaat

Der Gegensatz zwischen dem „Verwaltungsstaat“ und dem „Verfassungsstaat“ liefert einen Schlüssel, um die Entwicklungen im postkommunistischen Russland zu verstehen.[3] Das Regime leitet seine grundlegende Legitimität von der Verfassung ab und behauptet ununterbrochen, an sie gebunden zu sein. Vor allem in der Jukos-Affäre wurden aber Elemente eines Verwaltungsstaats deutlich, der eigene Privilegien durchsetzt.[4] Ein Charakteristikum der heutigen politischen Ordnung in Russland ist das Zusammenwirken eines legal-rationalen Verfassungsstaats und eines neopatrimonialen Verwaltungsstaats. Solange diese dynamische Spannung besteht, verbietet sich die Behauptung, Russland gehöre seinem Wesen nach ins Lager der autoritären Staaten; umgekehrt ist Russland eine mangelhafte Demokratie, zum einen wegen der willkürlichen Anwendung des Rechts, zum anderen wegen der fehlenden Chancengleichheit im politischen Wettbewerb. Deshalb waren bereits lange vor der Dumawahl im Dezember 2011 und der Präsidentschaftswahl im März 2012 selbst von führenden Mitgliedern des Apparats wie Finanzminister Aleksej Kudrin Forderungen laut geworden, dass diese Wahlen frei und fair sein müssten. Die Rechtsstaatlichkeit in Russland bleibt fragil, offen für Manipulationen durch die Machthaber, aber bis heute hat sich kein vollständig willkürlicher Verwaltungsstaat herausgebildet. Vielmehr bleibt Russland gefangen in der Grauzone zwischen dem Verwaltungsstaat und dem Verfassungsstaat. Auch deshalb steckt das Land in einem strukturellen Stillstand.

Das heutige Russland ist jedoch mehr als ein hybrides politisches Gebilde, in dem sich demokratische Institutionen mit autoritären Praktiken verbinden: Vielmehr ist es ein System, in dem Prinzipien, welche die neue Ordnung stützen, in einem grundsätzlichen Spannungsverhältnis stehen. Die Macht in diesem System entspringt den Netzwerken, die sich informeller Praktiken bedienen und die zugleich permanent die Grenzen in Frage stellen, die ihnen durch die formale verfassungsmäßige Ordnung gesetzt sind. Macht ist darum beides: einerseits formlos und unbeschränkt, andererseits strukturiert und gehegt. Die Vergleichende Demokratieforschung beschäftigt sich zu oft mit der bloßen Etikettierung und begnügt sich mit der Kategorienbildung. Danach ist Russland dann ein „autoritäres System“ in Reinform und alle weiteren Diskussionen basieren dann auf dieser Prämisse. Das ist der eingangs erwähnte typologische Zugang. Eine dynamischere Perspektive einzunehmen, die auf einem genealogischen Zugang basiert, ist fruchtbarer. Der Ausgangspunkt dieser Perspektive lautet: Russland ist eher eine schwache Demokratie mit autoritären Zügen als ein autoritäres System mit demokratischen Relikten. Das mag umstritten sein, insbesondere angesichts der aktuellen Dämonisierung Putins; aber dass historisch offen ist, wie die gegenwärtige Lage ausgehen wird, gerät so besser in den Blick.

Den zwei Idealtypen der Herrschaft, die Max Weber unterscheidet, nämlich die „traditionale“ (patrimoniale) Herrschaft und die „legale“ (rationale) Herrschaft, entsprechen zwei unterschiedliche politische Ordnungen: Ihr Nebeneinander hat in Russland zur Herausbildung eines „Doppelstaats“ geführt. Die neopatrimonialen Elemente im Herrschaftssystem führen zu einer strukturellen Unsicherheit darüber, welche Regeln in einer jeweiligen Situation gelten, weswegen die Akteure diverse informelle Praktiken anwenden müssen, um ihr Risiko zu mindern. Das erzeugt weitere Unsicherheiten und verhindert, dass sich die verfassungsmäßigen formalen Regeln und Verfahren der politischen Ordnung festigen und durchsetzen können. Die willkürliche Anwendung von Regeln und die ständigen Veränderungen der gesetzlichen Rahmenbedingungen, etwa zur Durchführung von Wahlen oder der Parteienbildung, berauben jeden einzelnen Menschen, aber auch jede Institution ihrer Planungs- und Handlungssicherheit. Dem stellt sich bislang keine Partei entgegen, die sich für ein System stark machen würde, das mehr Planungssicherheit bietet.[5] Formale und informelle Regeln existieren nebeneinander, sie reproduzieren den Dualismus auf allen Ebenen. Sie ermöglichen es den Akteuren, mal diese, mal jene Regeln anzuwenden, womit sie aber die interne Logik beider, sowohl die des informellen Verwaltungsstaats als auch des formalen Verfassungsstaats, unterminieren. Beamte, Staatsangestellte, Politiker ersinnen zahlreiche Strategien, um diese Unsicherheit zu überwinden, sie bedienen sich vor allem selbst „dualer“ Praktiken, indem sie sich gleichzeitig auf den Feldern informeller wie formaler Regeln bewegen. Auch das reproduziert Unsicherheit. Und diese ist eine wesentliche Bedingung dafür, wie das gesamte System funktioniert. Diese Mischung aus legal-rationalem Verhalten und patrimonialen Formen der Herrschaft ist typisch für neopatrimoniale Systeme. Das Konzept des „Doppelstaats“ bietet ein dynamisches Modell, um dieses Verhalten zu analysieren und den widersprüchlichen Charakter dieser Herrschaft zu begreifen.

Der Verfassungsstaat gründet auf der formalen Ordnung der Institutionen. Darum entsprechen seine Verfahren in der Regel nicht den politischen Praktiken des Verwaltungsstaats, der Gruppeninteressen bedient. Anhänger des Verfassungsstaats finden sich in den verfassungsmäßigen Strukturen, unter der liberalen Intelligencija sowie unter jenen Politikern, die über Wahlen in die Elite aufgestiegen sind. Doch dieser Weg ist unabhängigen Politikern zunehmend verstellt, seit der Verwaltungsstaat das Wahlverfahren durch den Erlass neuer Regelungen praktisch erstickt hat. Per definitionem vertreten die Verfechter des Verfassungsprinzips und der Rechtsstaatlichkeit Transparenz und ordnungsgemäße Verfahren. Das schließt allerdings nicht aus, dass auch sie sich informeller Methoden im politischen Kampf bedienen. Seit Michail Gorbačev proklamieren alle Politiker, dass das Recht für alle gleich sei. Selbst Putin und Medvedev als Juristen sprechen von der Vorherrschaft des Gesetzes (gospodstvo zakona). Aber die Praxis bleibt weit hinter der Theorie zurück.

Russlands Machtsystem wird repräsentiert von einem Regime, das seine Stärke aus den beiden Flügeln des Doppelstaats bezieht. Anstelle eines Parteiensystems, in dem politische Konflikte ausgetragen werden, die Regierung bestimmt und die Politik festgelegt wird, entscheidet die Machtspitze (vlast’) alles. Obwohl die Parteien formal die zentralen Akteure in den Wahlen sind, sind sie bestenfalls schmückendes Beiwerk zu den Prozessen, die innerhalb des Regimes ablaufen. Das gilt für alle Parteien, auch für Edinaja Rossija (Einiges Russland), denn auch ihre Rolle als „Machtpartei“ ist begrenzt. In der Machtstruktur des Regimes sehen manche das Herzstück des ganzen Systems, das auf informellen Praktiken wie wechselseitigen Abhängigkeiten und Unterstützung basiert.[6] Mir scheint ein stärker strukturbezogener Zugang sinnvoller. Denn die informellen Beziehungen werden durch die formalen Normen und Verfahren der Institutionen begrenzt. Institutionen werden hier so verstanden, dass sie auch jene nicht verfassungsmäßigen Institutionen umfassen, die ebenso zu einem Kennzeichen des Putinismus geworden sind wie die Grauzone des Politischen, in der formale Beziehungen zwar nicht grundsätzlich ignoriert, aber immer wieder umgangen werden. Das herrschende Regime sieht sich einem Entwicklungsprogramm verpflichtet. Ziel ist eine Transformation: Es soll eine wettbewerbsfähige Wirtschaft aufgebaut werden, die in die Weltwirtschaft integriert ist, obwohl der Staat versucht, durch eine spezielle Industriestrategie die Bedingungen zu schaffen, unter denen Russland Teil der internationalen Arbeitsteilung wird.

Das postkommunistische Russland befindet sich permanent im Ausnahmezustand. Doch anders als in Ägypten, wo Hosni Mubarak jahrzehntelang bis zu seinem Sturz im Februar 2011 mit Notstandsgesetzen regierte, ist dieser Ausnahmezustand in Russland nie verfassungsmäßig erklärt worden. Er ist das Ergebnis informeller und unerklärter Abweichungen von den Verfassungsprinzipien. Verantwortlich dafür ist der Verwaltungsstaat, der auf lange Sicht die Funktionsfähigkeit der verfassungsmäßigen Ordnung zerstört. In Malaysia oder in Singapur erwiesen sich die Regimes des Ausnahmezustands als unfähig, zur verfassungsmäßigen Normalität zurückzukehren. Doch die Probleme, die mit dem Ausnahmezustand verbunden waren, wurden durch die Bereitstellung wichtiger öffentlicher Güter wie Sicherheit und Wirtschaftswachstum entschärft. In Russland ist der Ausnahmezustand nicht kodifiziert, sondern er existiert neben der alltäglichen Anwendung des Rechts. Genau deshalb ist die Situation so zweideutig und offen. Auch hier herrscht der Stillstand, der es dem Regime gestattet, über den beiden Säulen des Doppelstaats zu agieren.

Phänomene des Stillstands

Das gesamte System ist gefangen in diesem Stillstand. Das war bereits in den frühen 1990er Jahren der Fall. Damals mündete der Konflikt zwischen Parlament und Präsident im Oktober 1993 in der gewaltsamen Auflösung des Parlaments. Das Ergebnis war keineswegs „The winner takes all“. Denn die Macht des Präsidenten blieb insofern begrenzt, als neue Akteure auftraten, die ein Gegengewicht zur Exekutive bildeten. Boris El’cin konnte sich nicht gegen eine Duma durchsetzen, in der die Opposition die Mehrheit besaß. Putin löste diesen Knoten, indem er eine loyale „Partei der Macht“ gründete. Ihre Dominanz ging auf Kosten des politischen Pluralismus und guter Regierungsführung. Die politische Opposition wurde marginalisiert, bürokratisches Management von oben zur Norm. Ohne funktionierende Öffentlichkeit und allgemein zugängliche Massenmedien als Kontrollinstanzen blühen die Korruption und die Kämpfe von Seilschaften, Gefolgschaften und Interessengruppen innerhalb des Regimes. Die Immobilität des Regimes kommt in unterschiedlicher Gestalt zum Ausdruck.

Politischer Stillstand

Politisch kollidieren zwei Ordnungsmodelle: Auf der einen Seite stehen die Institutionen und Praktiken des Verfassungsstaats, auf der anderen die neopatrimonialen Züge des Verwaltungsstaats. Elemente beider Ordnungen lassen sich in den meisten Ländern ausmachen, in Russland hat diese Verschmelzung jedoch zu einer ganz eigenen Ordnung geführt. Beobachter versuchen jeden kleinsten Hinweis als Indikator dafür heranzuziehen, dass die eine Ordnung die Oberhand über die andere gewonnen hat. Der Höhepunkt dieses Stillstands war erreicht, als in der Spätphase von Medvedevs Präsidentschaft Spannungen innerhalb des „Tandems“ offensichtlich wurden und klar wurde, dass Putin 2012 erneut die Präsidentschaft anstreben würde.

Zwei politische Systeme agieren parallel. Auf der einen Seite ist es das, was aus all jenen öffentlichen politischen Institutionen besteht, welche die Verfassung definiert. Deren Wirken ist formal bis ins Detail geregelt. Hier können Parteien gegründet, Wahlkämpfe ausgetragen und Politik im Parlament gemacht werden. Auf der anderen Seite existiert die zweite, parapolitische Welt, die aus informellen Gruppen, Seilschaften und Netzwerken besteht, die in den inneren Zirkeln unter dem Schirm des Präsidenten agiert. Die Figuren, die in dieser byzantinischen Machtsphäre agieren, stellen den Führer niemals öffentlich in Frage, versuchen jedoch, Einfluss auf seine Entscheidungen zu gewinnen. Hier geht es um mehr als bloß „virtuelle Politik“, die darin besteht, die öffentliche Meinung zu manipulieren oder gewünschte Wahlergebnisse durch den Einsatz entsprechender Techniken zu erzielen.[7] Während Putin die informelle Para-Politik deckt, verkommt die formale Seite der Politik immer stärker zur bloßen „Show“, zu einem Schauspiel, das den formalen Anforderungen des Systems entspricht und die Erwartungen der internationalen Gemeinschaft erfüllt, dem aber jede Wirkungskraft fehlt, die – so begrenzt sie im Einzelfall auch sein mag – doch eines der Kennzeichen moderner Demokratien ist.[8]

Indem Putin versucht, die Widersprüche zu reduzieren, die sich unausweichlich ergeben, wenn aus öffentlicher Politik technokratisches Management wird, wachsen die konkurrierenden Interessen zwischen den Seilschaften innerhalb des Regimes. Putin hält sich die Pazifizierung der russländischen Gesellschaft zugute und warnt vor einer Rückkehr zu jener konfrontativen Politik, wie sie typisch war für die 1990er Jahre. Doch auch das stärkt die Pseudopolitik, die typisch ist für höfische Systeme. Die Unterdrückung öffentlicher Politik verstärkt die Fragmentierung innerhalb des Regimes und die Korruption in der gesamten Gesellschaft.

Gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Stillstand

Im heutigen Russland blockieren sich auch zwei große soziale Klassen. Die erste besteht aus den zahlreichen Angehörigen der neosowjetischen Bürokratie in den Ministerien, den Sicherheitsapparaten und der Armee. Dazu kommen die Rentner, die regelmäßig der Kommunistischen Partei der Russländischen Föderation (KPRF) ihre Stimme geben und das Fundament von Putins Unterstützern sind. Gemeinsam bilden sie die soziale Basis für jenen „soziologischen Kommunismus“ im postkommunistischen Russland, um die Analogie zum „soziologischen Franquismus“ zu wählen, den Paul Preston für das postautoritäre Spanien herausgearbeitet hat.[9] Als Gegengewicht ist eine soziale Schicht entstanden, die Träger eines „soziologischen Liberalismus“ ist. In der Frühphase des postkommunistischen Russland fehlte den liberalen Kräften eine soziale Basis. Insofern blieb der Liberalismus ein rein idealistisches Projekt, das sich auf den Staat verließ, der die Ziele der politischen und wirtschaftlichen Transformation herbeiführen sollte. Aus dieser Sackgasse konnten diverse Interessengruppen, die nach der einfachen Abschöpfung von Erlösen suchten, Vorteile ziehen. Deshalb hat die Vorstellung, dass es so etwas wie ein „partielles Reformgleichwicht“ geben würde, das Joel Hellman Ende der 1990er Jahre entwickelte, noch immer eine gewisse Zugkraft.[10]

Als Michail Chodorkovskij 2003 mit dem Anspruch antrat, dass er und nicht das Regime die Modernisierung des Landes voranbringe, war das ein Signal dafür, dass sich im Land eine neue Kraft zu Wort meldete – die unabhängige Bourgeoisie. Das wurde damals zunächst als Rückkehr in die Ära der Oligarchen und ihrer Macht Mitte der 1990er Jahre interpretiert. Tatsächlich hatte Chodorkovskij damals zurückgeblickt, insofern er versuchte, nun ökonomische Macht einzusetzen, um das Finanz- und Steuerwesen zu verändern, in dem die Wirtschaft zu agieren hatte. Aber er richtete seinen Blick auch nach vorne, auf eine pluralistische politische Ordnung und eine aktive Bürgerschaft. Die Jukos-Affäre hat den Fortschritt zu einer neuen Ordnung um fast ein Jahrzehnt verzögert. Erst mit dem Wahlzyklus 2011/12 ist eine Mittelklasse mit politischem Bewusstsein aufgetreten, die im Vertrauen auf ihre wirtschaftlichen Errungenschaften nun freie und gleiche Beteiligung am politischen Prozess einfordert.

Mit einem jährlichen Bruttonationaleinkommen von 14 000 US-Dollar pro Kopf kann Russland eher als ein reiches Land bezeichnet werden. Doch es hat bestenfalls eine schwache Demokratie.[11] Das Land scheint in der Falle mittlerer Wirtschaftskraft zu stecken. Es müsste zunächst seine politischen Verhältnisse ordnen, bevor es weiteres nachhaltiges Wachstum erzielen kann. Die überwiegende Mehrheit der Länder, die 1960 mittlere Pro-Kopf-Einkommen zu verzeichnen hatten, hatte dieses Niveau auch im Jahr 2008; nur einer Handvoll Volkswirtschaften gelang es, in die Gruppe der Staaten mit hohem Einkommensniveau vorzustoßen.[12] Länder, die sich an der Aufholjagd beteiligten, stießen an eine gläserne Decke, nur wenige wie Japan oder Südkorea konnten „ausreißen“. Um die 90 Länder dagegen scheiterten an diesem Versuch. Das Rezept, um aus dieser Falle auszubrechen, lautet: höhere Produktivität durch Innovation. Doch dies setzt entsprechende politische Verhältnisse voraus.

Wie es scheint, ist Russland in seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit nicht nur an diese gläserne Decke gestoßen, sondern das Staatsschiff dümpelt auch politisch seit mehr als einem Jahrzehnt in einer Art demokratischem Kielwasser herum. Keine Studie über das Verhältnis von wirtschaftlicher Entwicklung und Demokratisierung hat nachweisen können, dass wirtschaftliches Wachstum zwangsläufig zu politischem Wandel führt, dennoch verlangt der anomale Fall Russland eine Erklärung. Zum Teil ist die Antwort in der problembelasteten Geschichte des Landes zu suchen. Noch immer prägt die sowjetische Erfahrung Strukturen und Praktiken; und auch das „Chaos“ der 1990er Jahre lastet bis heute schwer auf der öffentlichen Meinung. Der Putinsche Umbau des politischen Systems ab dem Jahr 2000 ermöglichte die Konsolidierung des Verwaltungsstaats, die mit dem ausufernden Wachstum von nichtverfassungsmäßigen Institutionen, informellen Praktiken, Seilschaften und korrupten Machenschaften einherging.

Der politische Aufbruch und die Mobilisierung der Öffentlichkeit rund um die Wahlen 2011/12 zeugen davon, dass der Druck auf das Regime zunimmt, das Land endlich aus dem trüben Fahrwasser herauszubringen. In der aktuellen Runde der politischen Auseinandersetzungen könnten die politische Liberalisierung und die Rückkehr zum genuinen Verfassungsstaat gelingen. Doch ebenso ist genau das Gegenteil möglich – allerdings um einen hohen physischen Preis und beschädigte Reputation. Doch das Land sucht nach der Möglichkeit, auf dem einen oder anderen Weg den Stillstand zu überwinden.

Stillstand der Weltbilder

Zumindest drei Weltbilder stehen im heutigen Russland miteinander in Konkurrenz und blockieren sich gegenseitig. Das erste ist das liberale Weltbild. Nach ihm sind die „Rückkehr nach Europa“ und die westlichen Standards der „politischen Kultur“ die „Normalität“. Der Standardvorwurf gegen diese liberale Sicht der Welt ist, dass ihr das Verständnis für Russlands besondere Geschichte und den Raum fehle; Russland erscheine als subjektloses Gebilde, dessen tausendjährige Geschichte verunglimpft, seine Verortung in der riesigen nordeuropäisch-eurasischen Ebene mit all ihren spezifischen Bedrohungen abgewertet werde. Den radikalen „leninistischen Liberalen“ gelten Russlands Geschichte als Last und die aus dem Raum abgeleiteten geopolitischen Ansprüche als gefährlich. Die Suche nach einer „Geschichte, die für heute nutzbar“ ist, steht aus dieser Perspektive unter dem Verdacht, die Pathologien der Vergangenheit zu wiederholen. Vertreter des liberalen Weltbilds tun sich schwer damit, die aktuellen Strukturen des internationalen Systems zu kritisieren, oder sie gar in Frage zu stellen. Die Liberalen werden mit den „chaotischen 1990er Jahren“ in Verbindung gebracht. Außerdem ist es ihnen seit dem Jahr 2000 nicht gelungen, ein attraktives politisches Programm zu formulieren, auch wenn ihre Vorstellungen – insbesondere die wirtschaftspolitischen – in Russland vorherrschend bleiben.

Dem liberalen steht ein „traditionalistisches“ Weltbild entgegen; wobei dieses Wort der Versuch ist, das Phänomen in seiner ganzen Breite zu erfassen. Zu diesem Denken gehören Monarchisten, die sich auf die Zeit des Imperiums berufen und behaupten, dass eine gewisse Rückkehr zur moralischen Welt der vorrevolutionären Epoche zu einer Wiederauferstehung Russlands beitragen könne. Den Gegenpol innerhalb dieses traditionalistischen Denkens bildet das neosowjetische Spektrum. Dazu gehören waschechte Stalinisten, Sozialisten diverser Richtungen und auch jene Nostalgiker, die sich nach der Überschaubarkeit und Sicherheit der Brežnev-Ära sehnen. Der russische Nationalismus hat seine Wurzeln ebenso in dieser traditionalistischen Weltsicht, die auf der Vorstellung nationaler Integrität und einem russischen Sonderweg gründet. Schließlich bringt die Russische Orthodoxe Kirche einige der tiefsten Überzeugungen dieses Weltbilds zum Ausdruck. Beide Strömungen, die liberale und die traditionalistische, waren in der Protestbewegung nach dem Dezember 2011 zu erkennen. Sie sind mit ein Grund für die Schwierigkeit, eine gemeinsame politische Plattform zu finden.

Zwischen diesen beiden Weltbildern ist die „zentristische“ Ideologie verankert, wie sie das Putin-Regime vertritt. Die Putinisten sind sich sehr klar dessen bewusst, welche Gefahr für ihre Macht und ihre Privilegien von militanten Strömungen des traditionalistischen Flügels ausgeht, obwohl sich das Regime immer bemüht, sich auf die Autorität der Russischen Orthodoxen Kirche und anderer „traditioneller“ Religionen zu beziehen. Aber den Zentristen fehlt eine eigene, konsistente Wirtschaftspolitik. Deshalb greifen sie auf die makroökonomischen Strategien der Liberalen zurück. Diese werden allerdings insofern aufgeweicht, als verschiedene Gruppen Zugriff auf die Ressourcen haben müssen, um die Gewinne abzuschöpfen und umzuverteilen. Denn auf diese Gruppen stützt sich das Regime. Die Zentristen haben „nationale Projekte“ und „nationale Entwicklungsstrategien“ proklamiert, doch nie eine konsistente Vision formuliert oder gar erklärt, wie eine solche Strategie umzusetzen wäre. Außenpolitisch verfolgen die Zentristen eine neorevisionistische Politik. Russland ist weder in der Lage, zum Zentrum eines Gegengewichts zum Westen zu werden, noch fähig, sich in das institutionelle und normative Rahmenwerk des Westens zu integrieren.[13] Vor allem aber steht der Putinsche Zentrismus für eine technokratische Steuerung, deren unausweichliche Begleiterscheinung die Entpolitisierung Russlands gewesen ist. In den ersten Jahren von Putins Herrschaft war die Behauptung, sein Apparat sei in der Lage, sich gegen den exzessiven Einfluss gewisser privilegierter Oligarchen oder anderer Sonderinteressen abzuschotten, zweifellos populär. Als Putin nun ins Präsidentenamt zurückkehrte und wieder dieselbe Behauptung aufstellte, hatte er diese Glaubwürdigkeit verloren. Denn in der Bevölkerung wird das Regime so wahrgenommen, dass es selbst „Sonderinteressen“ vertritt und unfähig ist, im nationalen Interesse zu regieren.

Auswege aus der Entwicklungskrise

Der politische Stillstand ist Teil der umfassenderen Entwicklungskrise in Russland. Sie setzte ein, als Unternehmen, die vom liberalen Weltbild inspiriert waren, von korrupten Beamten und Angehörigen der Sicherheitsdienste und der Justiz ausgebremst und verfolgt wurden. Die Plünderung mit staatlichem Antlitz wurde zu einem Massenphänomen. Heute leidet Russland an allen klassischen Symptomen blockierter Modernisierung. Diese mögen weniger schwerwiegend sein als in den Staaten Nordafrikas und des Nahen Ostens, wo es 2011 zum „arabischen Frühling“ kam. Doch wenn wir an den Ausschluss breiter Teile der Bevölkerung von der politischen Partizipation und die Zerstörung des Politischen durch den Putinschen Zentrismus denken, so gibt es viele Gemeinsamkeiten, so dass sich ein derartiger Vergleich anbietet. In Russland ist der Stillstand das Ergebnis einer mehrfachen Blockade: einer sozialen, in der sich Klassen gegenseitig blockieren, einer ökonomischen, weil das Land in der Falle mittlerer Wirtschaftskraft steckt, sowie einer weltanschaulichen, in der sich Liberale und Traditionalisten gegenüberstehen, aber jede Seite unfähig ist, sich durchzusetzen, und sie deshalb das Feld einer zentristischen Ideologie überlassen müssen. Das ist kein Gleichgewicht, wie es die neoklassische Wirtschaftstheorie beschreibt, sondern ein Patt.

Demokratie wird selten von oben gewährt, sondern nur durch Druck von unten erstritten. Die Ereignisse um die Wahlen von 2011/12 kann man als eine Rückkehr zu 1991 interpretieren: Die damaligen Fragen stehen wieder auf der Tagesordnung. Es geht nicht nur um die Konsolidierung des Staates, sondern um die Selbstermächtigung freier und gleicher Bürger. Das El’cin-Regime und das Putin-Regime beanspruchten für sich das Recht, das Volk zu bevormunden – immer im Namen angeblich überpolitischer Aufgaben: die kapitalistische Marktwirtschaft zu erreichen, staatliche Institutionen zu schaffen sowie die territoriale Integrität des Landes zu verteidigen. Aus dieser Bevormundung entwickelte sich der duale Staat. Die Proteste vom Dezember 2011 stellten die größte Herausforderung dar, vor der die etablierten Gruppen des Verwaltungsstaats bislang standen. Der Slogan „Russland ohne Putin“ war aus dieser Perspektive fehlgeleitet. Es wäre produktiver, sich auf eine Stärkung des Verfassungsstaats zu konzentrieren, auf die Herrschaft des Gesetzes, auf freie, faire und echte Wahlen, auf eine Eigentumsordnung, die effektiv gegen korrupte Beamte und Kriminelle schützen würde, auf die Stärkung politischer Institutionen. Nur so können die Anhänger eines liberalen Denkens oder des traditionalistischen Denkens aus der zentristischen Sackgasse herausfinden und damit die Grundlage für die Entstehung eines neuen nationalen Konsens schaffen, der sich auf die Verteidigung des Verfassungsstaats richtet. Es ist keineswegs ausgemacht, dass ein Russland ohne Putin diese Aufgaben besser lösen könnte als eines mit einem geläuterten Putin. Wiederbelebte Institutionen des Verfassungsstaats sowie der Druck einer reifen und mobilisierten politischen Nation könnten ihn in seine Schranken weisen. Putin kannte diese Herausforderung, als er seine dritte Präsidentschaft antrat.

 

Aus dem Englischen von Dr. Klaus Binder, Frankfurt/Main

 


[1]   Richard Sakwa: Modernisation, Neo-Modernisation and Comparative Democratisation in Russia, in: East European Politics, 1/2012, S. 43–57.

[2]   Zur Selbstdarstellung: Alexandra Engelfried: Zar und Star. Vladimir Putins Medienimage, in: Osteuropa, 5/2012, S. 47–67.

[3]   Richard Sakwa: The Dual State in Russia, in: Post-Soviet Affairs, 3/2010, S. 185–206.

[4]   Richard Sakwa: The Quality of Freedom: Khodorkovsky, Putin, and the Yukos affair. New York, Oxford 2009. – Der Fall Jukos, Osteuropa, 7/2005, S. 5–102.

[5]   Stephen E. Hanson: Post-Imperial Democracies: Ideology and Party Formation in Third Republic France, Weimar Germany, and Post-Soviet Russia. Basingstoke 2010.

[6]   Alena V. Ledeneva: How Russia Really Works: The Informal Practices that Shaped Post-Soviet Politics and Business. Ithaca,  London 2006.

[7]   Andrew Wilson: Virtual Politics. Faking Democracy in the Post-Soviet World. New Haven, London 2005. – Siehe dazu auch den Beitrag von Vladimir Gel’man in diesem Band, S. xxx–xxx.

[8]   Russland ist nicht das einzige Land, das solche Symptome zeigt, aber es ist ein extremer Fall. Die Berlusconi-Ära in Italien galt einigen Beobachtern als „Putinismus für den Westen“: Paolo Flores D’Arcais: Anatomy of Berlusconismo, in: New Left Review, 68/2011, S. 121–140, hier v.a. 137ff.

[9]   Paul Preston: The Spanish Holocaust: Inquisition and Extermination in Twentieth-Century Spain. London  2012.

[10] Joel S. Hellman: Winners Take All: The Politics of Partial Reform in Postcommunist Transitions, in: World Politics, 2/1998, S. 203–34.

[11] The Price of Democracy, in: Vedomosti, 23.6.2011, RIA Novosti, Johnson’s Russia List, Nr. 111 (2011), Punkt 3.

[12] The Middle-Income Trap, in: The Economist Online, 27.3.012. – Harpaul Alberto Kohli, Natasha Mukherjee: Potential Costs to Asia of the Middle Income Trap, in: Global Journal of Emerging Market Economies, 3/2011, S. 291–311.

[13] Richard Sakwa: The Cold Peace: Russo-Western Relations as a Mimetic Cold War, in: Cambridge Review of International Affairs, 2012; im Erscheinen.

Volltext als Datei (PDF, 93 kB)