Nebenkriegsschauplatz der Erinnerung
Die Leningrad-Blockade im deutschen Gedächtnis
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Abstract
Infolge der deutschen Belagerung Leningrads starben rund eine Million Menschen. Anders als Stalingrad spielte das Thema in der deutschen Erinnerung über Jahrzehnte kaum eine Rolle. Es dominierten andere Narrative: in der Bundesrepublik das vom sauberen Krieg der Wehrmacht, deren „Blitzkrieg“ vor Leningrad scheiterte und die zur Belagerung als vermeintlich „unbestrittener Methode der Kriegführung“ griff; in der DDR wurde das Leid der Bevölkerung zwar erwähnt, doch dem sowjetischen Heldennarrativ untergeordnet. Leningrad wurde so zum Symbol im Klassenkampf zwischen Sowjetmacht und Großkapital. Eine Geschichte, die der Opfer gedachte, wurde selten erzählt. Erst in jüngster Zeit findet die Blockade Leningrads ihren Platz im deutschen Gedächtnis.
(Osteuropa 8-9/2011, S. 722)
Volltext
Infolge der deutschen Belagerung Leningrads starben rund eine Million Menschen. Anders als Stalingrad spielte das Thema in der deutschen Erinnerung über Jahrzehnte kaum eine Rolle. Es dominierten andere Narrative: in der Bundesrepublik das vom sauberen Krieg der Wehrmacht, deren „Blitzkrieg“ vor Leningrad scheiterte und die zur Belagerung als vermeintlich „unbestrittener Methode der Kriegführung“ griff; in der DDR wurde das Leid der Bevölkerung zwar erwähnt, doch dem sowjetischen Heldennarrativ untergeordnet. Leningrad wurde so zum Symbol im Klassenkampf zwischen Sowjetmacht und Großkapital. Eine Geschichte, die der Opfer gedachte, wurde selten erzählt. Erst in jüngster Zeit findet die Blockade Leningrads ihren Platz im deutschen Gedächtnis. Die· Blockade Leningrads hatte lange Zeit keinen festen Platz im deutschen Gedächtnis. Während die Schlacht um Stalingrad nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem schillernden Mythos wurde, blieb Leningrad gewissermaßen der Nebenkriegsschauplatz, der er bereits in den Strategien der Wehrmacht und der Roten Armee war. Die hierzulande verbreitete Unkenntnis steht in einem eklatanten Widerspruch zur Tragweite des Ereignisses: Rund eine Million Menschen starben im Zuge der deutschen Belagerung an Hunger und seinen Folgen. Das sind rund doppelt so viele Zivilisten, wie in Deutschland während des gesamten Krieges durch die alliierten Luftangriffe umkamen. Dennoch gelten hierzulande bis heute Stalingrad, Dresden und Hiroshima als die Stadtkatastrophen des Zweiten Weltkriegs. Die Kenntnisse über die Belagerung Leningrads sind sogar so gering, dass deutsche Schulbücher sie wiederholt fehlerhaft darstellten. Die Erforschung der deutschen Erinnerungskultur der Nachkriegszeit hatte in den letzten Jahren Konjunktur. Die meisten Arbeiten untersuchten jedoch nicht bestimmte Ereignisse oder konkrete Orte, sondern allgemein den Zweiten Weltkrieg oder das „Dritte Reich“. Einzig der Holocaust bildet eine Ausnahme. Allerdings steht auch hier die Erinnerung an das Großereignis und nicht an einzelne Massaker oder Vernichtungslager im Mittelpunkt des Interesses. Nicht zuletzt dieser Umstand liefert einen wichtigen Grund, die Erinnerung an die Belagerung Leningrads im geteilten Deutschland zu beleuchten. Welche Bilder und Vorstellungen hat man sich in Deutschland von Leningrad im Zweiten Weltkrieg gemacht? In welchen Zusammenhängen taucht Leningrad in Narrativen über den Zweiten Weltkrieg auf? Die Ergebnisse sind nicht chronologisch strukturiert, da sich die Erinnerung an die Blockade von den 1950ern bis in die 1980er Jahre kaum verändert hat. Die Quellenbasis für die Untersuchung bilden verschiedene Arten schriftlicher Auseinandersetzung mit dem Thema: Memoiren, Gesamtdarstellungen zum „Dritten Reich“ und zum Zweiten Weltkrieg, wissenschaftliche und literarische Verarbeitungen der Belagerung Leningrads und nicht zuletzt Schulbücher aus beiden deutschen Staaten. In den meisten Darstellungen wurde Leningrad nur kurz genannt oder überhaupt nicht erwähnt. Für die inhaltliche Analyse wurden vor allem solche Texte herangezogen, in denen die Blockade etwas umfangreicher dargestellt wird. Im Zentrum steht dabei die Frage nach den Deutungsangeboten dieser Publikationen: Inwieweit gedachten sie der Blockade Leningrads als solcher? Oder standen sie als Symbol für ein anderes Narrativ, das mit dem Ereignis selbst nur wenig zu tun hatte? Leningrad als Endpunkt des gescheiterten Blitzkriegs Die frühen Gesamtdarstellungen zum Zweiten Weltkrieg und zum „Dritten Reich“ behandelten die Blockade Leningrads nur selten. Allenfalls im Zusammenhang mit dem gescheiterten Blitzkrieg wurde die Neva-Metropole – meist in einem Atemzug mit der sowjetischen Hauptstadt – erwähnt: Vor Leningrad und Moskau habe sich der deutsche Angriff schließlich festgelaufen. In westdeutschen Schulbüchern blieb die Belagerung Leningrads ebenfalls lange Zeit ausgespart. Die Schüler erfuhren lediglich, dass Leningrad der Endpunkt des deutschen Vormarsches im Norden der Sowjetunion war. Zwei Darstellungsvarianten sind dabei zu beobachten: Die einen Schulbücher sehen im deutschen Vormarsch bis vor Leningrad einen militärischen Erfolg der Wehrmacht. So heißt es etwa im Lehrbuch „Geschichte“ des Julius Beltz-Verlags aus dem Jahr 1963: Die ersten Wochen des Feldzuges brachten den überlegen kämpfenden Deutschen eine Reihe glänzender Siege. […] Die Spitzen der Panzerarmeen näherten sich den Toren Leningrads und Moskaus. [Hervorh. im Orig.] Diese Darstellung bietet den Schülern eine Identifikationsmöglichkeit mit ihren in Russland kämpfenden Vorfahren an, indem nicht die Wehrmacht, sondern „überlegen kämpfende Deutsche“ als Akteure benannt werden. In der Formulierung „glänzende Siege“ schwingt unverhohlen Stolz auf die militärische Leistung mit. Das im selben Jahr vom Westermann-Verlag herausgegebene Lehrbuch „Geschichte unserer Welt“ kann sich für den deutschen Vormarsch sogar begeistern: Ein „unmöglich“ gab es nicht. Der Donez wurde überschritten, dann der Dnjepr. […] Die Vorausabteilungen des Heeres waren im Mittelabschnitt bis in die Nähe Moskaus gekommen. Im Norden hatte man Leningrad von der Landseite aus eingeschlossen. Der endgültige Sieg schien manchem Deutschen in der Heimat greifbar nahe. [Hervorh. im Orig.] Auch hier erscheinen die beiden sowjetischen Metropolen lediglich als Punkte auf einer Landkarte, an denen die Leistung der deutschen Wehrmacht gemessen wird. Die zweite Form der Darstellung betrachtet Leningrad vielmehr als Wendepunkt des Krieges und damit als Anfang vom Ende des deutschen Russlandfeldzuges. So schreibt der „Grundriß der Geschichte“ des Klett-Verlages Mitte der 1970er Jahre: Der deutsche Feldzug in Russland […] begann 1941 mit großen Erfolgen, aber es wurde kein Blitzkrieg. Die schweren Verluste an Mensch und Material […] brachen die russische Widerstandskraft nicht. Im Norden lief sich der deutsche Angriff vor Leningrad fest. [Hervorh. im Orig.] Auch hier bleibt Leningrad nur ein geographischer Name. Beide Darstellungsvarianten blenden die konkreten Ereignisse in der Stadt und an der Front vollständig aus. Diese distanzierte Haltung spiegelt die Erfahrung der deutschen „Heimatfront“ wider. Leningrad erfuhr in der nationalsozialistischen Propaganda keine Inszenierung als große Schlacht, vergleichbar mit den Kämpfen vor Moskau oder in Stalingrad. Die deutsche Zivilbevölkerung nahm Leningrad allenfalls in den Meldungen des Herbstes 1941 wahr, die über den Stand des deutschen Vormarsches berichteten. Darin kam Leningrad nur als ein operatives Ziel vor, das die deutschen Truppen noch erreichen konnten, ohne jedoch die Stadt eingenommen zu haben. Die Erinnerung an Leningrad als nördlichen Endpunkt des deutschen Vormarsches entspricht also der zeitgenössischen Wahrnehmung durch die zeitungslesende und radiohörende Zivilbevölkerung des „Dritten Reiches“. Leningrad war keine besondere Meldung wert und hatte im kommunikativen Gedächtnis der „Heimatfront“ keine Spuren hinterlassen. Es waren ganz andere Kriegserfahrungen, die sich der deutschen Zivilbevölkerung ins Gedächtnis einprägten: die Bombenangriffe auf die Städte, die Besetzung durch die alliierten Truppen sowie Flucht und Vertreibung. Vor dem Hintergrund solch dramatischer Erlebnisse blieb Leningrad ein abstrakter Ort des Kriegsgeschehens. Wehrmacht versus Nationalsozialismus? In den fünfziger und sechziger Jahren prägten die ehemaligen Wehrmachtsgeneräle die Geschichtsschreibung zum Zweiten Weltkrieg. In ihren Erinnerungen ließen sie die Distanz zwischen Wehrmacht und Nationalsozialismus besonders groß erscheinen. Stets machten sie Hitler allein für die Verbrechen und die strategischen Fehler des Krieges verantwortlich. Die militärischen Erfolge schrieben die Militärs ihrer eigenen Führung und dem Einsatz der Truppe zu. Die Belagerung Leningrads bildet hier keine Ausnahme. In den Erinnerungen Erich von Mansteins repräsentiert die Neva-Metropole einen der zahlreichen „verlorenen Siege“. Mit seinem Befehl, die auf Leningrad vorrückende Panzergruppe 4 anzuhalten, habe Hitler die Chance zur Einnahme Leningrads leichtfertig verspielt, denn – so von Manstein: „Was du von der Minute ausgeschlagen, bringt keine Ewigkeit zurück.“ Walter Chales de Beaulieu, der als Stabschef von Generaloberst Erich Hoepner mit der Panzergruppe 4 im Herbst 1941 vor Leningrad war, schildert Hitler ebenso als Saboteur der deutschen Kriegführung. Er hebt hervor, dass sich Hoepner gegebenenfalls über das Verbot Hitlers hinweggesetzt hätte und nach Leningrad hineingegangen wäre, wenn sich damals nur eine Möglichkeit geboten hätte. Um sein Kriegshandwerk ordentlich auszuüben, so sollte der Leser dieses Buches schlussfolgern, hätte man sich eigentlich den Befehlen Hitlers widersetzen müssen. Die frühen Gesamtdarstellungen zum Zweiten Weltkrieg schlugen häufig den Weg ein, den die Memoiren der Militärs vorgegeben hatten. Auch sie betonten, dass der Verzicht auf die Einnahme Leningrads eine einsame Entscheidung Hitlers gewesen sei. Walter Görlitz etwa hebt hervor: „Er [Hitler; J.G.] beschloss, die Riesenstadt nicht zu nehmen, sondern einzuschließen, obwohl der russische Widerstand vor dem Zusammenbruch stand.“ Um zu verdeutlichen, dass diese Entscheidung nicht den Vorstellungen der Wehrmacht entsprach, führt Görlitz im folgenden Satz das „erbitterte“ Urteil von Leebs an, „Hitler habe in Russland so geführt, als ob er mit den Russen im Bunde gewesen sei“. Otto-Heinrich Kühner stellt zunächst klar, dass er schon den Angriff auf die Sowjetunion für eine der „unbegreiflichsten Handlungen“ Hitlers halte. Im Folgenden charakterisiert er Hitlers operative Planung als „ungeheuer“ und „phantastisch“. Die Wehrmachtführung grenzt er deutlich vom deutschen Diktator ab, indem er wiederholt auf die Meinungsverschiedenheiten zwischen Hitler und Halder oder Hitler und von Brauchitsch hinweist. Das Anhalten der Panzergruppe 4 am 16. September 1941 führt Otto-Heinrich Kühner als ein Beispiel für die Situationen an, bei denen sich diese Meinungsverschiedenheiten zu einem „regelrechten Konflikt“ zuspitzten. In ungewöhnlicher Ausführlichkeit schildert er das Unverständnis, auf das der Befehl Hitlers, sofort anzuhalten und Leningrad nicht einzunehmen, bei den Militärs stieß. So wird General Reinhard zitiert, der mit seinem motorisierten Armeekorps am südlichen Stadtrand Leningrads stand und meldete, dass keiner ihn daran hindere, in die Stadt hineinzugehen. Reinhards Fassungslosigkeit veranschaulicht Kühner mit einem Zitat, für das er allerdings keinen bibliographischen Nachweis anführt: Das kann doch nicht sein! Das kann nicht stimmen! Das ist unmöglich! Ausgeschlossen! Ein Irrtum! […] Das kann doch kein vernünftiger Mensch von mir und meiner Truppe verlangen! […] Dafür habe ich kein Verständnis, Generaloberst Höppner [sic!] wird toben. Ich sage Ihnen, diese Chance kommt nie wieder! […] Wir werden Leningrad nie nehmen! Der Haltebefehl Hitlers wird hier paradigmatisch für die Kriegführung Hitlers angeführt. Dieser sei „kein vernünftiger Mensch“ gewesen, seine Motive „nicht realistischer, sondern gefühlsmäßiger Natur“. Anders die Wehrmachtführung, die rational und nüchtern ihr Kriegshandwerk verrichtete und den Entscheidungen Hitlers nicht mehr hätte folgen können. Die Prophezeiung Reinhards, dass Leningrad nie von den Deutschen eingenommen würde, verknüpft die strategischen Fehlentscheidungen mit dem Kriegsende und weist die Schuld an der Niederlage eindeutig einem Mann zu: Hitler. Die deutsche Strategie vor Leningrad als zentrales Konfliktfeld zwischen Hitler und der Generalität wurde im Zuge der Niederlage Teil des kommunikativen Gedächtnisses der Wehrmachtführung. Auf diese Weise distanzierten sich die Militärs nach dem Krieg sowohl vom Nationalsozialismus als auch von der totalen Niederlage. Sämtliche Meinungsverschiedenheiten zu operativen und politischen Fragen wurden zu einem tiefen, grundsätzlichen Widerspruch zwischen Hitler und der Wehrmacht stilisiert. Leningrad kam in dieser Erinnerung nur der Platz eines Beispiels unter vielen zu. Zahlreiche Historiker sind dieser Darstellung bereitwillig gefolgt. Die Vertreter einer Nationalgeschichte sahen im Nationalsozialismus grundsätzlich einen Bruch in der deutschen Geschichte, ja kennzeichneten ihn sogar als „undeutsch“ oder „geschichtslos“. In dieses Bild fügte sich auch die Interpretation, dass sich das Militär von dieser „satanischen Verfälschung echter deutscher Tradition“ habe weitgehend reinhalten können. Von den störenden Einmischungen Hitlers und den Verbrechen der SS abgesehen, habe die Wehrmacht einen gewöhnlichen Krieg geführt. Somit konnte auch die Belagerungsstrategie vor Leningrad nicht Bestandteil der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik sein, sondern musste als „normales Kriegshandwerk“ gelten. Alles, was dieses Bild störte, wurde ausgeblendet. So kommt in den Memoiren Erich von Mansteins der Hunger in der belagerten Stadt überhaupt nicht vor. Er schildert den Einsatz seiner 11. Armee im Sommer 1942 ausschließlich als militärischen Auftrag, die Stadt an der Neva einzunehmen. „Leningrad“ als „unbestrittene Methode der Kriegführung“ Im Kampf um die Deutungshoheit über die Blockade Leningrads spielte die Besetzung von bestimmten Begriffen eine wichtige Rolle. So führt Werner Haupt, der als Angehöriger der 18. Armee selbst an der Belagerung teilgenommen hat, im Titel wie im Vorwort seines Buches den Begriff „900-Tage-Schlacht“ ein. Gleichzeitig behauptet er, dass die Ereignisse unter diesem Namen in die Geschichte eingegangen seien. Haupt versucht damit, den Begriff der „900 Tage“ umzudeuten, die spätestens seit dem Klassiker von Harrison Salisbury auch im Westen als Synonym für das Leid der Leningrader Zivilbevölkerung stehen. Durch die Verbindung mit dem Wort „Schlacht“ soll offensichtlich die militärische Auseinandersetzung in den Vordergrund geschoben und das Leiden der hungernden Bevölkerung in den Hintergrund gedrängt werden. Gleichzeitig verharmlost Haupt die Zustände in der hungernden Stadt. Er berichtet zwar, dass die Bevölkerung im Oktober und November 1941 Hunger litt, doch anschließend habe die Versorgung über den Ladogasee zumindest so weit funktioniert, dass die Stadt nicht vom Hunger getrieben kapitulierte und die Einwohner „nicht aus der Stadt [zu gehen brauchten], um sich zu ergeben“. In Wirklichkeit war die Not in den Monaten Dezember 1941 bis Februar 1942 am größten, und mindestens 1,3 Millionen Leningrader wurden im Laufe der Belagerung über den Ladogasee evakuiert. Auch über die rund eine Million Hungertoten verliert Haupt kein Wort. Seine einseitige Darstellung vermittelt hingegen folgendes Geschichtsbild: Die Wehrmacht habe sich in diesem Krieg ritterlich verhalten und wäre bereit gewesen, die Leningrader zu schonen. Den Menschen sei es in der belagerten Stadt aber gar nicht so schlecht ergangen. Im Gegenteil: Sie werden vielmehr zu den aktiven Kämpfern auf der gegnerischen Seite gezählt. Die „zum fanatischen Widerstand entschlossene Zivilbevölkerung“ habe sich nämlich „nach der ersten Überwindung ihrer Schrecken und Ängste“ zusammen mit der Roten Armee der Wehrmacht entgegengestellt. Unterstrichen wird diese Behauptung durch eine Reihe von Fotografien aus dem Leben der belagerten Stadt. Sie zeigen keine hungernden Menschen, sondern eine wehrhafte Bevölkerung: Reserveformationen, die zur Front marschieren, ein Luftabwehrgeschütz und ein Frauenbataillon der Leningrader Volkswehr. So wurde bis in die 1980er Jahre hinein die Auffassung vertreten, dass die Wehrmacht nur deshalb zum Mittel der Aushungerung Leningrads gegriffen habe, weil sie die Stadt nicht habe einnehmen können. Autoren wie Joachim Hoffmann wandten sich ausdrücklich dagegen, den Hungertod von einer Million Leningradern als Kriegsverbrechen zu werten: So tragisch diese Vorgänge auch sind, moralische Vorwürfe gegen die deutschen Truppen entbehren jeder Grundlage, denn immer noch gehörte die Belagerung und Beschießung einer verteidigten Stadt und Festung zu den gebräuchlichen und unbestrittenen Methoden der Kriegführung. Die Belagerung Leningrads wird in dieser Formulierung als „normales Kriegsereignis“ gedeutet. Eine solche Form der Erinnerung musste die Besonderheiten der Blockade – die ja gerade nicht aus militärischer Notwendigkeit, sondern mit der Absicht, die Leningrader Zivilbevölkerung zu vernichten – ausblenden. Auch dieses Narrativ bot also keinen Platz für ein Gedenken an die Opfer. Die Leningrader Front als Erinnerungsort für das Leiden des deutschen Landsers Die ehemaligen Belagerer klammerten in ihren Erinnerungen das menschliche Leid, das sich in Leningrad abgespielt hatte, vollkommen aus. Dabei waren die lokalen Befehlshaber über die Zustände in der Stadt durchaus im Bilde. Die Wehrmacht ließ regelmäßig Berichte über die Lage in Leningrad anfertigen, in denen auch der Alltag der hungernden Stadt schonungslos beschrieben wurde. Der massenhafte Hungertod der Leningrader war kein geheimer Vorgang, sondern spielte sich gewissermaßen vor den Augen der Wehrmachtsoldaten ab. Auch wenn es Spekulation bleiben muss, worüber der einzelne Soldat wirklich informiert war, fehlte es nicht an öffentlichen Verlautbarungen, die das Ziel der deutschen Belagerungsstrategie klar benannten. Am 8. November 1941 brüstete sich etwa Hitler in einer Rede zum Jahrestag des Hitlerputschs von 1923, dass seine Truppen ohne weiteres Leningrad einnehmen könnten, er aber bewusst die ganze Stadt verhungern lasse. Im kommunikativen Gedächtnis der ehemaligen Wehrmachtsangehörigen stand aber nicht der Hunger der sowjetischen Zivilbevölkerung, sondern vielmehr das Leid des deutschen Soldaten im Vordergrund. Der deutsche Landser wurde zum eigentlichen Opfer der Schlacht um Leningrad stilisiert: Er musste gegen einen personell und materiell überlegenen Gegner kämpfen, die Fehler einer unzulänglichen Führung ausbaden und die Unwirtlichkeit des nördlichen Russland ertragen. Dieses Narrativ findet sich sowohl in den Divisionsgeschichten der Nachkriegszeit als auch in den Memoiren der Kriegsteilnehmer. Die existentiellen Erfahrungen des Frontalltags stehen auch im Zentrum der wenigen literarischen Verarbeitungen der Kämpfe vor Leningrad. Das wohl bedeutendste Beispiel ist der Roman „Die Stalinorgel“ von Gert Ledig. Die Handlung des Buches spielt im Sommer 1942 rund 40 Kilometer südlich von Leningrad. Die Stadt selbst kommt in dem Roman allerdings überhaupt nicht vor. Vielmehr beschreibt der Autor die Brutalität des Stellungskriegs, der am nördlichen Frontabschnitt zweieinviertel Jahre tobte. Die Kämpfe werden aus der Perspektive der Frontsoldaten beider Seiten geschildert, die den Krieg als Martyrium erleben und letztlich von ihrer jeweiligen Führung betrogen werden. Populäre Darstellungen des Zweiten Weltkrieges finden sich in den diversen „Landser“-Heften. Auch in den dort abgedruckten Erzählungen treten die deutschen Soldaten in erster Linie als Opfer auf. Doch während der Krieg in Ledigs Roman als Hölle geschildert wird, der alle nur entkommen wollen, erscheint er hier mitunter als Abenteuer, in dem der Einzelne seine Tapferkeit und seinen Heldenmut beweisen konnte. Das belagerte Leningrad findet in dieser verklärenden Darstellung keinen Platz. Damit wird die Handlung von ihrem historischen Ort losgelöst. Die Geschichten sind austauschbar und könnten an jedem beliebigen Abschnitt der deutsch-sowjetischen Front spielen. Dieses Narrativ fügt sich ganz in die allgemeinen Veteranenpublikationen ein, welche die verbrecherische Dimension der deutschen Kriegführung stets marginalisierten und den „Russlandfeldzug“ als ein historisch einzigartiges, wenn auch grandios gescheitertes Unternehmen darstellten. Trotz der literarischen Verarbeitung gingen die Kämpfe vor Leningrad nicht als deutscher Opfergang ins kulturelle Gedächtnis der Bundesrepublik ein. Nicht Leningrad, sondern die Schlacht um Stalingrad wurde zum zentralen Erinnerungsort des deutsch-sowjetischen Krieges. Die Niederlage der 6. Armee lieferte den Stoff für unzählige Romane, Filme und Zeitungsartikel, die seit den 1950er Jahren für eine mediale Dauerpräsenz des Themas in der westdeutschen Öffentlichkeit sorgten. Diese zentrale Rolle in der deutschen Kriegserinnerung wuchs Stalingrad zu, weil sich die Wehrmacht hier als Opfer inszenieren konnte. Der sinnlose Haltebefehl Hitlers und sein nicht erfülltes Versprechen, den Kessel über eine Luftbrücke zu versorgen, standen für die Selbstüberheblichkeit eines in Operationsfragen inkompetenten Hitler sowie für die Rücksichtslosigkeit eines fanatischen Weltanschauungstäters gegenüber den eigenen Soldaten. Gegen dieses Bild hob sich die Wehrmacht in der Selbstwahrnehmung als eine hochprofessionelle Armee ab, der es lediglich darum ging, einen ihr auferlegten Krieg erfolgreich zu Ende zu bringen. Hieran knüpft das zweite zentrale Element der deutschen Kriegserinnerung an: Stalingrad entwickelte sich auch zum zentralen Opfernarrativ des deutschen Landsers. Die Soldaten sahen sich von der politischen und militärischen Führung in ein Inferno geworfen und dort im Stich gelassen. Der unerbittliche Häuserkampf, der strenge Winter und der Hunger im Kessel von Stalingrad gaben dem harten Kriegsalltag einen konkreten Ort. Fotos von ausgemergelten und halberfrorenen deutschen Soldaten illustrierten das Schicksal der 6. Armee und prägten die Erinnerung im Nachkriegsdeutschland nachhaltig. Der nicht minder leidende Gegner blieb demgegenüber lange Zeit gesichtslos. Indem die Kämpfe an der Leningrader Front im Mittelpunkt des deutschen Gedächtnisses an die Belagerung Leningrads standen, firmierte die Schlacht an der Neva zu einem von zahllosen Opfergängen der deutschen Soldaten im Zweiten Weltkrieg. Die Blockade wurde ihrer historischen Spezifika beraubt und trat in den Schatten der Schlacht um Stalingrad. Aus diesem Grunde konnte die Erinnerung der Soldaten nicht zu symbolischen Formen gerinnen und ein Teil des deutschen kulturellen Gedächtnisses werden. Der Stellungskrieg vor Leningrad blieb ein Bestandteil des kommunikativen Gedächtnisses der Kriegsteilnehmer. Elisabeth Domansky registrierte in Deutschland eine fragmentierte Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, den die Zivilbevölkerung auf ganz andere Weise als die Wehrmachtsoldaten erlebt hatte. Die Erinnerung an die Belagerung Leningrads verläuft entlang der gleichen Bruchstellen. Leningrad im Gedächtnis der DDR In der DDR hatte das kommunikative Gedächtnis keine Möglichkeiten, sich öffentlich zu artikulieren. Allenfalls im privaten Raum konnten die Erlebnisse der Wehrmachtsoldaten kommuniziert werden. Die offizielle Geschichtspolitik war hingegen bestrebt, die Identifikation mit dem ehemaligen Gegner, der Roten Armee, zu stiften. Dies führte zu einer ritualisierten Dauerpräsenz des sowjetischen Kriegsschauplatzes und vielfach auch zu einer direkten Übernahme sowjetischer Heldennarrative. So fungierte die Belagerung Leningrads als Symbol für den sowjetischen Widerstand und den Sieg der Roten Armee. Die deutsche Belagerungsstrategie konnte in dieser Lesart nicht als Bestandteil des nationalsozialistischen Vernichtungskriegs erscheinen, sondern musste als hilflose Reaktion auf den „heldenhaften Widerstand der sowjetischen Armee“ und den „Heroismus der unter härtesten Lebensbedingungen arbeitenden Bevölkerung Leningrads“ überliefert werden. Da die Front unmittelbar vor der Stadtgrenze Leningrads verlief, eignete sich dieses Beispiel besonders gut, um die vermeintliche Einheit von Volk und Staat zu demonstrieren: Sechshundertzweiunddreißigtausend Menschen verhungerten in der Stadt Leningrad […] Sie waren ihren Martern erlegen, aber sie waren nicht schwach geworden. Den sicheren Untergang vor Augen, waren sie den Verteidigern nicht in den Arm gefallen, sondern hatten sie im Kampf bestärkt. Keine Armee der Welt – und am wenigsten eine sozialistische, im Volke wurzelnde – hätte die Stadt halten können, wenn ihre Bewohner der Verzweiflung anheim gefallen wären. Die sechshundertzweiunddreißigtausend Männer, Frauen und Kinder aber starben wie Soldaten, mit dem Gesicht zum Feind. Ohne ihr stummes Opfer wäre Leningrad gefallen. Die Treue des Volkes zu „seinem“ Sowjetstaat ging in dieser Darstellung so weit, dass die Menschen bereit waren, für ihn in den Tod zu gehen. Einen schlagenderen Beweis für die feste Verwurzelung des sozialistischen Staates im Volk konnte es natürlich kaum geben. Da Leningrad eine prominente Rolle in der sowjetischen Kriegserinnerung spielte, wurde die Blockade in der DDR sehr viel stärker als im Westen als Stadtkatastrophe wahrgenommen. Ostdeutsche Historiker hatten die Absicht Hitlers, Leningrad und Moskau „dem Erdboden gleichzumachen“, schon früh erkannt und klar benannt. Man brachte die deutsche Hungerstrategie aber nicht in einen Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik, sondern sah in ihr vielmehr die Absicht des „deutschen Imperialismus“, die „sozialistische Gesellschafts- und Staatsordnung“ zu vernichten. Für Helmut Bergschicker waren Hitlers Zerstörungsabsichten sogar der Beweis dafür, dass das „Dritte Reich“ nicht von rassistischen Motiven geleitet war: Für eine weitere Kampagne zur „Ausrottung von Juden und Asiaten“ schließlich war die Leningrader Nachkommenschaft des rein germanischen Wikinger Rurik auch kein passendes Objekt. Hitlers Plan lieferte den zynisch-eindeutigen Beweis dafür, dass die Wehrmacht hier zum Instrument eines Klassenkampfes auf Leben und Tod geworden war, den die heimlichen Herren Deutschlands, die Großindustriellen und Bankiers, gegen die sozialistische Stadt führten. Ein wieder zum Kapitalismus bekehrtes Leningrad konnten sich selbst Europas Neuordner nicht vorstellen. Die deutsche Belagerungsstrategie belegt in dieser Interpretation den klassenkämpferischen Charakter des deutsch-sowjetischen Kriegs und zeigt zugleich die angebliche Unumkehrbarkeit des geschichtlichen Fortschritts marxistischer Lesart. Nach seiner sozialistischen Erfahrung könne Leningrad nie wieder eine kapitalistische Stadt werden. Trotz dieser ideologisch stark überzeichneten Narrative, die in der Kriegserfahrung der Deutschen in keiner Weise verankert waren, ist die Belagerung Leningrads im kulturellen Gedächtnis der Ostdeutschen tiefer verankert, als es im Westen der Fall ist. Dies liegt in erster Linie daran, dass gerade der schwere Blockadealltag der Leningrader als Thema in der Schule behandelt wurde und auch den Stoff für eine Reihe von Jugendbüchern bildete, deren Lektüre bei den heranwachsenden Lesern einen tiefen Eindruck hinterlassen musste. Gleichzeitig erschien hier eine deutsche Übersetzung des Blockadebuchs von Ales’ Adamovič und Daniil Granin. Diese dokumentarische Erzählung, die sich auf die Erinnerungen von Überlebenden der Blockade stützt, ist bis heute das eindrucksvollste Zeugnis vom Leben und Sterben in der belagerten Stadt. In der DDR war es politisch erwünscht, das Leiden der hungernden Bevölkerung in den Mittelpunkt der Geschichte des belagerten Leningrad zu stellen. Der Antifaschismus war als Gründungsmythos konstitutiv für den Aufbau des zweiten deutschen Staates, so dass man in der Niederlage des nationalsozialistischen Deutschland eine Befreiung vom Faschismus sah, zu dessen Opfern in dieser Diktion letztlich auch das deutsche Volk zähle. Es war also nicht nur der von der Sowjetunion übernommene Heldenmythos, der die ostdeutsche Erinnerung an den Krieg prägte, sondern gerade die Solidarität innerhalb einer „Opfergemeinschaft“, die unter dem Nationalsozialismus gelitten hatte. Auf diese Weise konnten die Bürger des „anderen“ deutschen Staates am kommunikativen Gedächtnis der Leningrader teilhaben. Von der geteilten zur gemeinsamen Erinnerung Die Belagerung Leningrads war fünfzig Jahre lang kein fester Bestandteil des deutschen kulturellen Gedächtnisses. Die Neva-Metropole tauchte zwar regelmäßig in der öffentlichen Erinnerung auf, doch nur als Stellvertreter für ganz andere Narrative: vom „sauberen Krieg“ der Wehrmacht bis hin zum „Klassenkampf zwischen Sowjetmacht und Großkapital“. Eine Geschichte, die der Opfer gedachte, wurde hingegen nur selten erzählt. Während in der DDR die Politik das Deutungsmonopol über den Zweiten Weltkrieg übernahm und damit das kulturelle Gedächtnis formte, existierten in der Bundesrepublik mehrere Formen öffentlicher Erinnerung, denen unterschiedliche Kriegserfahrungen zugrunde lagen. Es war also weniger das bewusste Verschweigen eines Kriegsverbrechens, das Leningrad in Westdeutschland in Vergessenheit geraten ließ, als vielmehr die Dominanz anderer Narrative, hinter denen die Blockade zurückstand oder in die sie sich einfügen musste. Seit Beginn der 1990er Jahre hat sich die deutsche Erinnerungskultur stark gewandelt. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Ende des Ost-West-Konflikts rückten nun verstärkt auch die Leiden des Kriegsgegners in das Bewusstsein der Westdeutschen. Diese Erweiterung der deutschen Kriegserinnerung um eine sowjetische Perspektive ermöglichte die Integration der Belagerung Leningrads in das deutsche Gedächtnis. Diese Entwicklung lässt sich auf vielen Ebenen beobachten. In Gesamtdarstellungen erscheint die Blockade immer häufiger als ein zentrales Ereignis des Zweiten Weltkriegs. Die vielbesuchte zweite „Wehrmachtausstellung“ räumte der deutschen Hungerpolitik in der Sowjetunion breiten Raum ein und ordnete auch die Blockade Leningrads in diesen Kontext ein. Das Deutsch-Russische Museum Berlin-Karlshorst nahm sich des Themas in besonderer Weise an und widmete dem belagerten Leningrad bereits zwei Ausstellungen, in denen der Blockadealltag im Mittelpunkt stand. Auch das deutsche Fernsehen zeigte mittlerweile eine Reihe von Fernsehdokumentationen, die eine breite Öffentlichkeit über die Ursachen und Auswirkungen der Belagerung Leningrads informierten. Im Jahr 2009 lief in deutschen Kinos der Film „Leningrad – Die Blockade“, eine russisch-britische Koproduktion mit Gabriel Byrne, Mira Sorvino und Armin Müller-Stahl in den Hauptrollen. Im selben Jahr wurde der Roman von David Benioff, der den Überlebenskampf zweier Jungen im belagerten Leningrad schildert, zu einem Überraschungserfolg auf dem deutschen Buchmarkt. Im Zentrum all dieser Darstellungen stehen die Schrecken des Alltags in der belagerten Stadt. Auf diese Weise werden die bislang getrennten Formen der Erinnerung in Ost und West zusammengeführt. Die Blockade Leningrads wird nicht länger einseitig nur aus einer Perspektive erzählt, sondern lässt beide Seiten zu Wort kommen. Und niemand lässt mehr einen Zweifel daran, dass die deutsche Belagerungsstrategie zu den deutschen Kriegsverbrechen des Zweiten Weltkriegs zu zählen ist. Auch die Politik ist diesem Weg gefolgt. Mit der gemeinsamen Kranzniederlegung von Bundeskanzler Gerhard Schröder und Präsident Vladimir Putin im April 2001 auf dem Piskarev-Friedhof, dem zentralen Gedenkort der Blockadeopfer in Leningrad, hat auch die Bundesregierung das Leiden der Leningrader während der deutschen Belagerung symbolisch anerkannt. Und auch für die Kenntnis der künftigen Generation scheint die Grundlage gelegt zu sein. Während die Blockade in deutschen Schulbüchern bis in die 1990er Jahre nicht vorkam, steht den Lehrern heute das Material für eine ganze Unterrichtseinheit zur Verfügung. Die Blockade Leningrad scheint ihren Platz im deutschen Gedächtnis gefunden zu haben. Jörg Ganzenmüller (1969), PD Dr. phil., Historiker, Vertreter des Lehrstuhls für Osteuropäische Geschichte, Friedrich-Schiller-Universität Jena. Vollständiger Text in: Manfred Sapper, Volker Weichsel (Hg.): Die Leningrader Blockade. Der Krieg, die Stadt und der Tod. Berlin 2011 [=Osteuropa 8-9/2011]
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