Titelbild Osteuropa 1/2011

Aus Osteuropa 1/2011

Die paradoxe Ikone des Neuen
Amerika als reale Virtualität

Petr Fischer

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Abstract in English

Abstract

Amerika und Europa sind zwei Seiten einer Medaille. Amerika steht für den Glauben der westlichen Zivilisation an das Individuum und für die Möglichkeit des Neuanfangs, Europa für das Kollektiv und die Bewahrung seiner Geschichte. Europa sieht in den USA nur den Prototypen der Wegwerf- und Junk-Food-Gesellschaft. Die Amerikanisierung sei an der Erosion des gesellschaftlichen Zusammenhalts schuld. Tatsächlich aber verfügt die amerikanische Gesellschaft über soziale Bindemittel, die Europa dringend benötigt.

(Osteuropa 1/2011, S. 5–12)

Volltext

Business = Answers & Solutions – dies verkündet ein Schriftzug am Schaufenster der Filiale eines internationalen Unternehmens im Zentrum von Prag. Die Reklame erscheint zunächst uninteressant. Interessant ist, was überrascht, was uns aufmerken lässt, was nicht alltäglich ist. Das Firmenmotto wiederholt dagegen nur das allgegenwärtige Pragmatismus-Mantra des globalen Kapitalismus: Gib uns ein Problem – wir liefern dir eine Lösung, von der wir beide etwas haben. Win-win-Situation heißt das im internationalen newspeak.
Gegen unsere Alltagswahrnehmung verstößt die Werbung nur, weil sie die Scheibe eines kleinen Ladens hinter dem Nationalmuseum ziert. Dieses Museum steht in Prag wie in jeder anderen europäischen Stadt für ein bestimmtes Geschichtsbild, das sich auf dem alten Kontinent spätestens seit dem 19. Jahrhundert verbreitet hat. Das Nationalmuseum bewahrt die Geschichte der tschechischen Nation. Die Menschen, die dort arbeiten, suchen Antworten auf Fragen wie diese: Unter welchen historischen Bedingungen entstand das tschechische Volk? Was unterscheidet die Tschechen von anderen Nationen und was haben sie mit ihnen gemeinsam? Solche Fragen werden nicht in pragmatischer Absicht gestellt, sie zielen nicht auf rasche Ergebnisse, nicht auf output. Hier geht es um ein anderes Prinzip: um Reflexion. Diese ist nicht ergebnisorientiert, ihr Ausgang ist ungewiss. Ihr Motto lautet: Diskussion = Fragen & Suchen.

Die beiden Prinzipien stehen für die zwei Seiten einer Medaille: der Medaille der westlichen Zivilisation. Historisch haben sie sich auseinanderentwickelt. Das erste steht für den geradlinigen amerikanischen Weg: Man läuft einfach los und verwendet alles, was sich auf dem Weg findet und Nutzen verspricht. Das andere Motto steht für den verworrenen reflexiven Weg des alten Kontinents, von dem Amerika vielleicht gerade deswegen abgezweigt ist, um Europa später auf seine Spur zu bringen.
Dass das Motto des american way am Schaufenster eines transnationalen Unternehmens „hinter“ einem Gebäude zu finden ist, dass metaphorisch für die grundlegende historische Orientierung der europäischen Völker steht, ist von symbolischer Bedeutung. „Hinter“, griechisch meta, meint in der europäischen Tradition ein Denken, dass über das hinausgeht, was mit der gewöhnlichen ratio zu erfassen ist.
Eine Legende zur Entstehung des Wortes Metaphysik besagt, dass Aristoteles’ Metaphysik sich im Regal hinter den Schriften zur Physik befunden hätten: ta meta ta physika. Heute meint Metaphysik ein Denken, das sich mit der Welt jenseits der greifbaren Fakten und Gegenstände befasst und eine Art unsichtbare, innere Ordnung der Welt zum Ausdruck bringt. Business = Answers & Solutions, das Motto des amerikanischen Pragmatismus, ist offensichtlich – der Platz hinter dem Prager Nationalmuseum bezeugt es – die einzige Metaphysik, die heute noch Bestand und Erfolg hat.

NEU IST IMMER BESSER
Seit ihrer Entdeckung wird Amerika Neue Welt genannt. Aber was an Amerika ist für den Europäer neu? Der erste Europäer, der die Gesellschaft und die Politik der USA und vor allem das, was heute American Way of Life heißt, systematisch analysiert hat, war Alexis de Tocqueville. In De la démocratie en Amérique (Über die Demokratie in Amerika) kommt er zu dem Schluss, dass das Neuartige an Amerika gerade in einer Art Neophilie, einer Liebe zu allem Neuen, bestünde.

Der Amerikaner bewohnt ein Land der Wunder, alles um ihn ist in steter Unruhe, und jede Bewegung erscheint als Fortschritt. Die Vorstellung des Neuen ist daher in seinem Geist eng mit der Vorstellung des Besseren verknüpft. Nirgends erblickt er die Grenze, welche die Natur den Mühen des Menschen gezogen haben mag; in seinen Augen ist das nicht Vorhandene das noch nicht Versuchte.

Das ist der Optimismus der Aufklärung in Reinform. Er wird sogar noch gesteigert: Was neu ist, hat auch eine höhere moralische Qualität. Der Blick des Menschen ist ausschließlich in die Zukunft gerichtet, die Vergangenheit ist nicht mehr wichtig, bei der Jagd nach Neuem, Besserem verliert sie ihren ursprünglichen Wert, wird minder-wertig. Entscheidend ist nur, was kommen wird, genauer: jener Teil der Zukunft, den wir schon heute verwirklichen können.
Dem Bild, das die begeisterten Anhänger des Neuen zeichnen – man kann es auch heute noch in Amerika mit eigenen Augen betrachten –, steht ein ganz anderer, man könnte sagen: ein pessimistischer Blick auf die Zukunft des heute Neuen gegenüber. Walter Benjamin hat es in seiner Deutung von Paul Klees berühmtem Gemälde Angelus novus umrissen. Der vom Fortschrittsdenken seiner Zeit getriebene Engel erschrickt vor dem Unheil, das dieses anrichtet:

Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.

Während die Europäer für alle Zeit die Last ihrer langen Geschichte und die Trauer um das, was sie verloren, zu wenig beachtet oder einfach nicht erkannt haben, mit sich herumtragen, können die Amerikaner ganz leicht und ohne viel Aufhebens alles abschütteln, was für sie vor ein paar Jahren noch ein gehüteter Schatz oder ein Lebenstrauma war. Der Engel der neophilen Amerikaner irrt nicht umher, sein Mund ist geschlossen, freudig schwingt er die Flügel und blickt lachend der Zukunft entgegen, von der er nur Schönes und Gutes erwartet.
Es ist kein Zufall, dass Benjamin gerade in „Über den Begriff der Geschichte“ den Fortschritt mithilfe von Klees Angelus novus beschreibt. Benjamin skizziert dort einen neuen Blick auf die Geschichte, zu der für Benjamin auch eine mythologische Ebene gehört, die wir verdrängen wollen, die aber immer wieder zurückkehrt. Nur dieser neue Blick ermögliche, so etwas wie eine Erlösung, einen wahren Messias, auch zu erkennen. In diesem strengen Sinne hätten – da herrscht Konsens unter den meisten europäischen Denkern, die sich mit den Unterschieden zwischen Amerika und Europa beschäftigen – die Amerikaner keine Geschichte:

Amerika treibt die Frage nach dem Ursprung aus, es beansprucht nicht Originalität oder mystische Authentizität, es hat keine Vergangenheit und keine Gründerwahrheit. Da es keine primitive Akkumulation von Zeit kennt, lebt es in einer dauernden Aktualität.

Amerika hat weder das von Wiederholungen und Ritualen geprägte zyklische Geschichtsbild der Mythen noch das lineare europäische Geschichtsbild, das auf einer ständigen Aneignung der Vergangenheit, auf einer lebendigen Erinnerung beruhe. Das einzig Historische an Amerika ist der Mythos Amerika, der American Dream, der Traum vom immer möglichen Neuanfang. Was auch immer ein Mensch in seinem Leben durchgemacht hat, welchem Volke und welcher sozialen Schicht er auch immer angehört – Amerika gab ihm immer die Chance auf einen Neuanfang. Schon die Fahrt über den Atlantik symbolisierte die Hoffnung, dass alle Last der Geschichte in den Weiten und Tiefen des Ozeans versinken würde. Vom europäischen Ufer aus gesehen ist Amerika die ersehnte und vielleicht auch schon verwirklichte U-topie, jener Nicht-Ort, der nirgendwo ist und daher überall sein kann. „Die Vereinigten Staaten sind die verwirklichte Utopie“, sagt Baudrillard in seinem philosophischen Reisebuch Amerika. Aber hier geht es schon nicht mehr um die USA als konkreten Staat, sondern um Amerika als „Ikone des Neuen“.
DIE VERWIRKLICHTE UTOPIE
Amerika fasziniert ungeachtet aller politischen Widersprüche und ungeachtet dessen, dass es sich im Laufe der letzten drei Jahrhunderte stark verändert hat. Was an Amerika immer noch fasziniert, ist die Möglichkeit, dort zu jeder Zeit das eigene, absolut individualistische Streben nach Verwirklichung der Utopie jetzt und hier umzusetzen. Von dem Glauben, dass die Utopie nicht erst im Himmel, nach dem Ende der Welt, komme, sondern schon jetzt und hier auf Erden verwirklicht werden könne, zeugt schon die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776:

Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, daß alle Menschen gleich erschaffen worden; daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freiheit und das Bestreben nach Glückseligkeit.
Wichtig ist, dass die Rechte, von denen die Rede ist, keine kollektiven Rechte sind, sondern Rechte, die der Schöpfer jedem Individuum verliehen hat. Sie hängen daher nicht davon ab, wie die Gemeinschaft organisiert ist, in der ein Mensch lebt, sondern von jedem einzelnen, der sich nicht auf die Hilfe anderer verlassen kann. Auf den ersten Blick zielt die Französische Revolution auf das gleiche. Doch da sie das Kollektiv so stark betont, die Masse als Monolith sieht – neben Freiheit fordert sie Gleichheit und Brüderlichkeit –, gerät sie eher zu einem ideologischen Werkzeug für den zentralistischen Staat als zum Symbol einer universalen Hoffnung auf persönliche Glückseligkeit, die man im Laufe eines Menschenlebens verwirklichen kann. Die Amerikanische Revolution sucht im Individuum den Weg zur Gemeinschaft, die Französische Revolution stellt das eine und unteilbare Ganze ins Zentrum und definiert oder konstruiert von diesem ausgehend eher theoretisch als praktisch das Individuum, das ohne jenes Ganze gar nicht existieren würde.
Amerika fasziniert die Europäer am meisten mit diesem absolut individualistischen Ansatz, den sie sich nicht zueigen machen können, weil sie offensichtlich zu sehr an historischer Kontinuität hängen, keinen Neuanfang wagen, nicht vergessen können. Zugleich wird Amerika genau für diesen Individualismus in Europa am heftigsten kritisiert. Alle individualistischen Exzesse, die sich in sinnlosem und ökologisch verantwortungslosem Konsum äußern, werden zumeist als blinde Nachahmung des American Way of Life betrachtet. Die Ideologie der permanenten Verfügbarkeit nicht nur von Waren und Urlauben, sondern auch von Beziehungen, die immer wieder einen schnellen Adrenalinkick versprechen, wird als etwas „typisch Amerikanisches“ verstanden. Amerika sei der Prototyp der Wegwerf- und Junk-Food-Gesellschaft. Die Hyperinflation der Unterhaltung, die psychologische Manipulation durch Werbung, die Verwandlung des Kinos von einer Kunstform zu einem Zweig der Kulturindustrie – all das sei Ausdruck von Amerikanisierung.
Alle negativen Erscheinungen der postindustriellen europäischen Gesellschaften werden dem amerikanischen Individualismus zugeschrieben, der uns aufgezwungen werde. Das ist natürlich eine scheinheilige Ausrede. Sie soll kaschieren, dass wir keine Verantwortung für unser Handeln übernehmen, dass wir das amerikanische Modell freiwillig übernehmen, weil es das menschliche Verlangen nach schneller Bedürfnisbefriedigung – jenes Streben nach Glückseligkeit – erfüllt. Diese Ausrede soll zudem davon ablenken, dass wir unfähig sind, ein besseres Modell zu liefern. Vor allem aber verschleiert diese Behauptung, dass der amerikanische Individualismus auch positive Seiten hat. Zu denken ist insbesondere an die gesellschaftlichen Bande, die er zu knüpfen vermag – sie verlaufen nämlich nicht von Mensch zu Staat, sondern in den allermeisten Fällen von Mensch zu Mensch.
Wenn Europa aus ökonomischen Gründen und infolge der immer stärkeren Neigung zu individuellem Vergnügen seinen ursprünglichen Begriff der Gesellschaft verliert und nicht mehr weiß, was die Gesellschaft zusammenhalten soll, dann wäre es vielleicht an der Zeit, dass Europa sich davon inspirieren lässt, wie in Amerika – unter dessen Einfluss wir ja ohnehin stehen – soziale Kohäsion funktioniert. Wenn es die Verwirklichung der Utopie ist, die uns an Amerika so fasziniert, so können wir uns nicht einfach aussuchen, was uns daran passt und was nicht.
Alexis de Tocqueville sprach zwar nicht von einer verwirklichten Utopie, beschrieb jedoch sehr präzise, was die Einzigartigkeit Amerikas ausmacht: eine Kombination aus Individualismus und gesellschaftlichem Konsens über die Bedeutung der moralischen Grundlagen der (christlichen) Religion. Wer jemals die USA von Osten nach Westen durchreist hat, der weiß, dass man Amerika bis heute kaum treffender beschreiben kann.

FREILICHTMUSEUM EUROPA
Die Begeisterung von Amerika und die Amerikanisierung sind globale Phänomene. Und überall wird ausschließlich der Konsumismus und die Kulturindustrie übernommen. Das, was die amerikanische Gesellschaft zusammenhält, bleibt außen vor. China setzt an seine Stelle einen künstlich angeheizten Nationalismus. Die Russen sind Nationalisten qua Geburt und suchen darüber hinaus gesellschaftlichen Zusammenhalt im traditionellen Glauben an einen aufgeklärten Führer. Nur Europa, das an einen stabilen, nun aber bröckelnden Sozialstaat gewöhnt ist, findet in einer teuflisch schnellen Welt keinen Kitt für seine Gesellschaften. Eine Faszination von Amerika, die nicht selektiv ist, wäre eine Möglichkeit, die Suche nach einem sozialen Bindemittel für Europas Gesellschaften so schnell wie möglich aufzunehmen.
Warum dies so wichtig ist und warum die Europäer dies bei ihrer Bewertung der weltweiten Amerikanisierung berücksichtigen sollten, hat bereits gegen Ende des Ersten Weltkriegs der Soziologe Georg Simmel dargelegt. Er spürte, dass die Idee Europa verschwindet, dass im 20. Jahrhundert an ihre Stelle die Amerikanisierung tritt.

Europa wird dann sein, was Griechenland zur römischen Kaiserzeit, ein interessantes Reiseziel für Amerikaner, voll von Ruinen und großen historischen Erinnerungen, noch immer der Lieferant von Künstlern, Gelehrten und Schwätzern.

Simmels Prognose hat auch nach hundert Jahren ihre Aktualität nicht verloren. Nur sind es heute statt nostalgischer Amerikaner immer mehr Russen und Chinesen, die auf der Suche nach Geschichte und Vergnügen nach Europa reisen. Und doch ist Europa immer noch ein Freilichtmuseum, in dem sich die dominanten Mächte amüsieren. Der kritische Geist, auf den die Europäer so stolz sind und den Václav Havel in einer denkwürdigen Rede in Rom im Jahr 2002 so eindringlich beschworen hat, hat den Kampf gegen die amerikanische Kultur des Paradoxen verloren; eine Kultur, in der, wie Baudrillard es treffend formuliert hat, das verwirklicht wird, was sich nicht verwirklichen lässt: die Utopie.
Die Amerika-Faszination der Europäer ist letztlich ein Erstaunen darüber, dass die Amerikaner das, was die erhabensten europäischen Denker jahrhundertelang nur durchdacht und erträumt haben, auf eine materielle Ebene zogen, damit der Traum greifbar wird – denn was wir nicht in der Hand haben, das gibt es nicht. Die Europäer wissen zwar, dass der amerikanische Traum die Realität nur simuliert – doch die Simulation ist, wie die heutige virtuelle Medienwelt zeigt, bisweilen realer und mächtiger als die Wirklichkeit.

Aus dem Tschechischen von Volker Weichsel, Berlin

Erschienen in: Osteuropa, 1/2011, S. 5-12

Petr Fischer (1960), Journalist, Leiter der Kulturredaktion des tschechischen Fernsehens, Prag

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