Editorial
Musik aus der Versenkung
Manfred Sapper, Volker Weichsel
Abstract in English
(Osteuropa 7/2010, S. 34)
Volltext
Mieczyslaw Weinberg? Wer sich in Deutschland, Polen oder Russland umhört, erhält überall dieselbe Antwort. Weinberg? Nie gehört! Selbst Fachleute runzeln fragend die Stirn. Es ist paradox: Herausragende Interpreten wie Mstislav Rostropovic, David Ojstrach oder Emil Gilel’s spielten Uraufführungen von Weinberg und schätzten seine Musik. Das Jahrhundertgenie Dmitrij Šostakovic äußerte sich enthusiastisch über etliche Werke aus der Feder von Weinberg, mit dem ihn über drei Jahrzehnte eine enge Freundschaft verband. Mieczyslaw Weinberg schuf die Musik zu Klassikern des sowjetischen Kinos, die Millionen Menschen sahen. Doch hinter dem bewegten Bild trat der Komponist nie hervor. Es ist ein Rätsel, wie die Musik eines der kreativsten Komponisten des 20. Jahrhunderts derart lange ignoriert werden konnte. Heute ist das Bild klarer. Weinberg war ein Außenseiter. Er war ein polnischer Jude und bereits ein herausragender Pianist, als er sich 1939 nach dem deutschen Überfall auf Polen in die Sowjetunion rettete. Der Sowjetunion verdankte er sein Leben und die Ausbildung zum Komponisten. Doch seine Musik wurde selten gespielt, das Gros seiner Werke blieb zu seinen Lebzeiten (1919–1996) ungedruckt. Er war von einer skrupulösen Bescheidenheit, beteiligte sich kaum am offiziösen Musikbetrieb, am Verteilungskampf um Aufträge und Privilegien. Er kümmerte sich kaum um die Verbreitung seiner Werke, sondern konzentrierte sich auf das Wichtigste: Er schrieb Musik, wovon Hunderte Kompositionen Zeugnis ablegen. Aber auch die musikalischen Rezeptionshürden waren hoch. Seine Musiksprache wurzelt in der polnisch-jüdischen Musikkultur der 1920er und 1930er Jahre, die in Krieg und Holocaust vernichtet wurde. In der Sowjetunion blieb sein musikalisches Idiom den Zuhörern fremd. Und das Jüdische war aus politischen Gründen tabu. Im Westen, selbst in Polen, galt sein Musikstil als zu altmodisch und inhaltsleer. Für viele war Weinberg ein Epigone von Šostakovic. Dieses Urteil verrät mehr über die Gewohnheiten der Hörer als über die Qualität des Komponisten. Weinbergs Leben ist von der Signatur des 20. Jahrhunderts gezeichnet: von Krieg und Massenmord. Seine Eltern und seine Schwester wurden Opfer des Holocaust, in der Sowjetunion ließ Stalin Weinbergs Schwiegervater, den berühmten Regisseur Micho÷ls ermorden. Er selbst geriet während der fabrizierten „Ärzteverschwörung“ in die Klauen der Geheimpolizei, aus denen ihn nur Stalins Tod rettete. Der Krieg und der Holocaust durchziehen sein Werk. Bei aller Anpassung an die ideologischen Vorgaben vermied Weinberg jede Geste des dröhnenden Triumphes, sondern richtete den Fokus auf das Leid und die Trauer und machte sich so zu einem Chronisten seiner Zeit. Dass ein Komponist mit seiner Familie Opfer von Repression wird, ist kein Qualitätsurteil. Was allein zählt, ist die Musik. In Weinbergs umfangreichem OEuvre gibt es in nahezu jedem Genre Werke, die zu den besten zählen, die im 20. Jahrhundert geschaffen wurden. Darin liegt die Macht seiner Musik: Sie ist es wert, gehört zu werden. Und wer sie hört, wird sie nie mehr vergessen. Das 6. Streichquartett und die Sonate für Bratsche und Klavier auf der CD in diesem Heft mögen ein Beitrag sein, dass Weinberg endlich aus der Versenkung geholt wird.