Titelbild Osteuropa 5/2010

Aus Osteuropa 5/2010

Leiden ist eine gewaltige Arbeit

Svetlana Aleksievič


Abstract in English

Abstract

Persönliche Lebenserfahrung ist der Stoff, aus dem Geschichte wird. Sie ist auch der Stoff, aus dem man generationelle oder nationale Identität schneidert. Eine der Autorinnen, die einem russischen Publikum die eigene Geschichte – und einem europäischen Publikum die russische, sowjetische Geschichte – lesbar macht, indem sie die Muster und Texturen der einzelnen Erfahrungs-Stoffe wie auch die Nahtstellen zwischen ihnen zeigt, ist Svetlana Aleksievič. Svetlana Aleksievič studierte Journalismus in Minsk und arbeitete in verschiedenen Redaktionen, bevor sie mit ihrem ersten Buch „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“ (russ. 1985, dt. 1987) begann, ihr eigenes literarisches Genre zu entwickeln: eine spezifische, zwischen Protokoll und rhythmischer Prosa schwebende Form der Dokumentation. Svetlana Aleksievič zählt heute zu den prominentesten Vertreterinnen der dokumentarischen Prosa. Für ihre Bücher führt sie zahllose Gespräche, sammelt, wählt aus, verdichtet und komponiert schließlich einen Chor von „Stimmen“, die zusammen ein vielschichtiges, vibrierendes Zeitbild ergeben. Nicht ein objektives Fazit ist ihr wichtig, sondern die unverwechselbare Form des einzelnen Lebens, der zutiefst persönliche, subjektive Blick. Immer wieder hat Aleksievič sich mit den Kriegen und Katastrophen der sowjetischen Geschichte auseinandergesetzt. Das neue Buch, an dem die Autorin derzeit arbeitet, ist der Erfahrung des Umbruchs gewidmet – dem faktischen Ende und dem langen Nachleben von sozialer Utopie und totalitärer Ideologie im postsowjetischen Raum. Auch in diesem Buch sammelt Aleksievič Stimmen unterschiedlichster Menschen, die diese Brüche miterlebt und auf ganz verschiedene Weise in ihre eigene Biographie integriert haben. Eine davon ist die Schriftstellerin Marija Vojtešonok.

(Osteuropa 5/2010, S. 6–16)