Editorial
Dem Alter ein anderes Gesicht geben
Manfred Sapper, Volker Weichsel
Abstract in English
(Osteuropa 5/2010, S. 5)
Volltext
Im Mai 2010 jährt sich zum 65. Mal das Ende des Zweiten Weltkrieges. In Moskau und Warschau, in Minsk und Kiew, aber auch in Berlin und den anderen Hauptstädten Europas, Japans und der USA wird des Krieges und der Opfer gedacht. Zwar hat jedes Land seine eigene Erinnerung an den Krieg. Doch in den politischen Ritualen und in den akademischen Analysen der nationalen Erinnerungskulturen und der Geschichtspolitik ist eines sehr ähnlich: Zu oft gerät aus dem Blick, dass es nicht nur um Geschichte geht. Noch immer leben Zeitzeugen des Krieges. Die Zahl der noch lebenden Frontsoldaten ist in den Ländern auf jeweils wenige Zehntausend gesunken. Nimmt man die Sowjetunion als Beispiel, so wurden 1942 die Männer des Jahrgangs 1924 einberufen, 1945 die des Jahrgangs 1927. Wer überlebt hat, ist heute weit über 80 Jahre alt. Der 65. Jahrestag des Kriegsendes ist dennoch der letzte, den eine nennenswerte Zahl von Zeitzeugen in Ostmittel- und Osteuropa erlebt: Veteranen aus dem Hinterland, Partisanen aller Couleur, Zwangsarbeiter, Ghettoinsassen und Überlebende des Holocaust, NS-Opfer aller Art. Es handelt sich um Millionen alter Menschen. Wie leben sie? Wie ist ihre soziale Lage, ihre medizinische Versorgung und welche Stellung haben sie in ihrer Gesellschaft? Wer Antworten auf diese Fragen sucht, kommt nicht umhin, sich mit den grundsätzlichen Trends auseinanderzusetzen: Denn die Lage der Zeitzeugen des Krieges ist keine isolierte. Sie ist Teil des Lebens der älteren Generationen in ihrer Gesellschaft, von denen einige bereits nach dem Krieg geboren sind. Sie ist abhängig von den sozioökonomischen Bedingungen und der demographischen Struktur, dem Verständnis von Altern und Alter, das in der jeweiligen Gesellschaft herrscht, und der Altenpolitik. Die Befunde sind eindeutig. Überall altern die Gesellschaften. Das ist ein globaler Trend. Mit den demographischen Verschiebungen verändert sich auch das Bild vom Alter. Das Alter ist nicht nur eine objektive biologische, sondern auch eine soziale Tatsache. Während diese späte Lebensperiode in Teilen Europas nicht mehr als Lebensphase ohne Sinn und Zweck, sondern analog zur Jugend als Zeit des Lernens und der Erfahrung gilt, ist dieses Denken im Osten Europas kaum bekannt. Von staatlicher Seite wird zu wenig getan, um die älteren Menschen sozial zu integrieren. Ihre Fähigkeiten und Erfahrungen können sie kaum in die Gesellschaften einbringen. Auch steht es um die medizinische und materielle Versorgung insbesondere in den ländlichen Regionen alles andere als gut. Das Verhältnis der Gesellschaft zu ihren alten Menschen ist ein Indikator dafür, wie zivilisiert sie ist. Es geht um ein Altern in Würde. Und es geht darum, die Bedingungen zu schaffen, dass ältere Menschen ein selbstbestimmtes und aktives Leben verbringen sowie ihr Wissen und ihre Erfahrung in die Gesellschaft einbringen können. Dadurch bekommt das Alter ein anderes Gesicht. Nicht zuletzt ist die Altenpolitik als Querschnittsaufgabe, die so viele Politikfelder berührt, ein Feld, das internationale Kooperation geradezu erfordert. Denn die Probleme sind dieselben und die Lösungen lassen sich gemeinsam erarbeiten.