Editorial
Blick in die Röhre
Manfred Sapper, Volker Weichsel
Abstract
Pn = P0(0,5xG/G0 0,5xM/M0)xk. Diese Formel ließ das Gas wieder fließen. Sie steht in dem Vertrag zwischen der Ukraine und Russland über die Konditionen des Ankaufs und der Weiterleitung von Erdgas, der die zweiwöchige Unterbrechung der Gaslieferungen auf einer der zwei großen Ost-West-Transitrouten und den Versorgungsnotstand in Ostmittel- und Südosteuropa im Januar 2009 beendete. Für die Ukraine hat die Gleichung weitreichende Konsequenzen. Sie ist nun energiepolitisch ein europäischer Staat: Kiew zahlt einen Erdgaspreis, der ausgehend von einem im europäischen Vergleich recht hohen Basispreis berechnet wird; der Endpreis richtet sich nun nach der Entwicklung auf dem Ölmarkt. Ab 2010 fällt der den meisten Nachfolgestaaten der UdSSR gewährte Preisnachlass weg. Mit der Veröffentlichung des am 19. Januar 2009 zwischen Gazprom und Naftohaz Ukraïny unterzeichneten Vertrags hat die Ukraine sogar einen Anstoß zu mehr Transparenz gegeben. Gleichzeitig hat nicht nur der Ruf Russlands als zuverlässiger Lieferant, sondern auch jener der Ukraine als sicherer Transitstaat schweren Schaden genommen. Zudem ist Gazprom dem Ziel, das Pipelinenetz zwischen Novopskov und Užhorod zu übernehmen, einen Schritt nähergekommen. Denn in Zeiten der Wirtschaftskrise lasten hohe Gaspreise schwer auf den Schultern der angeschlagenen ukrainischen Volkswirtschaft. Die Auseinandersetzung über die Gaslieferungen erlaubte aber noch viel tiefere Einblicke in die Grundprobleme der Energiepolitik, die zu einem zentralen Feld der europäischen Politik geworden ist. Die Autoren des vorliegenden Energie-Dossiers fragen daher nach den Rohstoffvorkommen und den Transportwegen, beleuchten den Einfluss ökonomischer und politischer Interessen, diskutieren die Bedeutung des Energiecharta-Vertrags als völkerrechtliches Rahmendokument und analysieren die Potentiale alternativer Energien. Der Band versammelt Schlüsselbeiträge aus Osteuropa, die überwiegend in den vergangenen zwölf Monaten erschienen sind und für dieses Heft teilweise aktualisiert wurden. Roland Götz bricht ungeachtet des jüngsten Lieferstopps eine Lanze für Russland als verlässlicher Lieferant von Erdgas und Erdöl und fordert die Anhänger einer gemeinsamen europäischen Energiepolitik auf, statt über alternative Lieferstaaten nachzudenken, eher alternative Energieträger zu fördern. Kirsten Westphal demonstriert, dass sich die autoritären Regimes der zentralasiatischen Staaten den ordnungspolitischen Konzepten der EU wie multilateraler Kooperation und internationalem Recht versperren. Lutz Mez und Mycle Schneider zeigen mit einer nüchternen Analyse, dass das Mantra von der Wiedergeburt der Atomkraft den Fakten nicht stand hält: Die Atomwirtschaft befindet sich in einer Strukturkrise. Sie ist ohne massive staatliche Subventionen nicht lebensfähig. Dies gilt ebenso für den Energieträger Kohle. Nimmt man hinzu, auf welch hohes Niveau der Ölpreis nach dem von der Finanzkrise ausgelösten Absturz wieder steigen muss, um die Erschließung neuer fossiler Energieträger rentabel zu machen, relativiert dies die Kritik an der Anschubfinanzierung für erneuerbare Energien. Wie Grze-gorz Wiśniewski mit seiner Fallstudie zu Polen zeigen kann, sprechen nicht nur ökologische, sondern auch ökonomische Argumente für die Energiegewinnung aus Sonne, Wind und Biomasse. Dieser Einsicht dürfen wir uns nicht versperren, wollen wir nicht eines Tages wirklich in die Röhre schauen.
(Sonderheft 2009, S. 34)