Das Jahr 1989 zu feiern, heißt auch, sich an 1939 zu erinnern!
Eine Erklärung zum 70. Jahrestag des Hitler-Stalin-Pakts am 23. August
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Abstract in English
(Osteuropa 9/2009, S. 175178)
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In diesen Wochen und Monaten erinnern sich die Menschen in ganz Europa an die Überwindung der kommunistischen Diktaturen in Ostmitteleuropa vor 20 Jahren. Festveranstaltungen und Konferenzen, Ausstellungen und Filme rufen den Bürgermut der Vielen in Erinnerung, die mit ihrem friedlichen Protest nicht nur die Diktaturen überwanden, sondern auch die Voraussetzungen für die Errichtung der Demokratie und für die Überwindung der europäischen und deutschen Teilung schufen. Am Beginn dieser Teilung und der mehr als vier Jahrzehnte währenden kommunistischen Herrschaft in Ostmitteleuropa stand der Zweite Weltkrieg. Und so erinnern wir mit Scham und Trauer an den 1. September vor 70 Jahren, als das nationalsozialistische Deutschland Polen überfiel. Acht Tage zuvor hatten Deutschland und die Sowjetunion den unseligen „Hitler-Stalin-Pakt“ abgeschlossen, mit dem die beiden totalitären Diktaturen das Baltikum und Polen, Finnland und Rumänien unter sich aufteilten. Der Überfall auf Polen durch Deutschland und die Sowjetunion im September 1939 war der Auftakt zu einem beispiellosen Eroberungs- und Vernichtungskrieg. Mit die-sem Krieg brachte Deutschland unermessliches Leid über seine Nachbarn in ganz Europa, namentlich in Polen und schließlich auch in der Sowjetunion.
Nach der Befreiung Europas und Deutschlands vom Nationalsozialismus hofften die Menschen in allen europäischen Ländern auf eine Zukunft in Freiheit und Demokratie. Doch diese Hoffnung wurde für viele bitter enttäuscht. In den von Krieg und Na-ziherrschaft geschwächten ostmitteleuropäischen Staaten und in einem Teil Deutschlands setzte die Sowjetunion neue diktatorische Regime durch: mit verheerenden Folgen für die Gesellschaften, für Wirtschaft und Kultur und für zahllose Menschen, die als politische Gegner verfolgt wurden oder ihr Leben verloren, weil sie den Macht-habern im Wege standen. Und so tragen die Deutschen nicht nur schwer an ihrer Verantwortung für die Vernichtung der europäischen Juden, die Verfolgung und Ermordung der Sinti und Roma, Homosexueller, Behinderter, als asozial Stigmatisierter und politisch Andersdenkender sowie der Abermillionen Menschen, die dem Krieg zum Opfer fielen. Uns ist zudem schmerzlich bewusst, dass es ohne den von Deutschland begonnenen Zweiten Weltkrieg weder die kommunistischen Diktaturen in Ostmittel-europa noch die Teilung des Kontinents und Deutschlands gegeben hätte.
Wenn wir heute, im Jahre 2009, auf die Geschichte Europas und Deutschlands im 20. Jahrhundert zurückblicken, dann tun wir dies eingedenk des nationalsozialistischen Unheils, und wir sind froh, dass Deutschland heute ein gleichberechtigtes und geachte-tes Mitglied der europäischen Völkerfamilie ist. Mit Dankbarkeit und Respekt denken wir zugleich an die Menschen, die in den vier Jahrzehnten nach 1945 unter hohem persönlichem Risiko immer wieder den Mut aufbrachten, die kommunistischen Diktatoren herauszufordern und für Freiheit und Demokratie einzutreten. Nicht wenige bezahlten für ihren Mut mit dem Leben. Die Aufstände und Freiheitsbewegungen in der DDR, in Ungarn, in der Tschechoslowakei und immer wieder in Polen haben die Hoffnung der Menschen auf Freiheit und De-mokratie über die Jahrzehnte aufrechterhalten.
Wir werden nicht vergessen, dass es vor allem Polen waren, die für ihre und unsere Freiheit als erste Breschen in das kommunistische Machtsystem geschlagen haben. Wir danken zugleich den Anhängern der tschechoslowakischen Charta 77, die uns ermutigt haben, in der Wahrheit zu leben. Wir erinnern auch all jene, die in Ungarn den Weg zur Demokratie frei machten und im Sommer 1989 den Eisernen Vorhang öffneten. Sowjetische Dissidenten haben sich lange vor Glasnost und Perestroika für die Wahrung der Menschenrechte eingesetzt. Und schließlich danken wir – und nicht zuletzt – jenen im Westen, die sich nie mit dem Eisernen Vorhang und den kommu-nistischen Diktaturen abgefunden, auf die Einhaltung der Menschenrechte gedrungen und die Opposition gegen die Regime unterstützt haben.
Mit ihren friedlichen Revolutionen gewannen die Völker Ostmitteleuropas ihre Freiheit, ihre staatliche Unabhängigkeit und Selbstbestimmung wieder, die sie fünf Jahr-zehnte zuvor verloren hatten. Diese Revolutionen waren die entscheidende Voraus-setzung, um die europäische und die deutsche Teilung zu überwinden. Als wir nach der Überwindung der SED-Diktatur den Weg zur Deutschen Einheit beschritten, war uns das Vertrauen unserer europäischen Nachbarn ein kostbares Geschenk. Als Folge der friedlichen Revolutionen können nun alle Deutschen zum ersten Mal in ihrer Ge-schichte in Freiheit und Demokratie, in Wohlstand, in anerkannten Grenzen und in wechselseitiger Achtung und Freundschaft mit ihren Nachbarn leben.
Wie das Jahr 1939 ist 1989 – wenn auch auf gegensätzliche Weise – zum europäi-schen Schicksalsjahr geworden. Ein freies und demokratisches Europa muss sich seiner Geschichte bewusst sein. Es braucht die Erinnerung an die kommunistische Ära und an ihre Überwindung. Ein erster Schritt ist getan: Im April hat sich das Europäi-sche Parlament erstmalig zu dieser Verantwortung bekannt. Dieser Weg ist weiter zu gehen: Europa braucht eine aktive, verantwortungsbewusste Erinnerungskultur, die die nachwachsenden Generationen für neu aufkommende autoritäre und diktatori-sche Entwicklungen sensibilisiert.
Marianne Birthler, Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen (BStU) (Berlin), Dr. h.c. Joachim Gauck, Gegen Vergessen – Für Demokratie (Berlin), Dr. Anna Kaminsky, v.i.S.dP., Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur (Berlin), Hans Altendorf, BStU (Berlin), Dr. Andreas H. Apelt, Deutsche Gesellschaft (Berlin), Prof. Dr. Jörg Baberowski, Humboldt-Universität zu Berlin (Berlin), Prof. Dr. Arnulf Baring, Historiker, Publizist (Berlin), Michael Beleites, Landesbeauftragter für die Stasiunterlagen (Dresden), Parlamentarischer Staatssekre-tär Dr. Christoph Bergner, Bundesministerium des Innern (Berlin), Prof. Dr. Dieter Bingen, Deutsches Polen-Institut (Darmstadt), Wolfgang Börnsen (Bönstrup) MdB, Schleswig-Holstein, Staatssekretär a.D. Klaus Bölling, Publizist (Berlin), Heidi Bohley, Verein Zeit-Geschichte(n) (Halle/Saale), Hansgeorg Bräutigam, Richter i. R. 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Hermann Weber, Universität Mannheim (Mannheim), Konrad Weiß, Publizist (Berlin), Reinhard Weiß-huhn, Robert-Havemann-Gesellschaft (Berlin), Dr. Gerhard Wettig, Historiker (Kommen), Wolfgang Wieland, MdB, Sprecher für Innere Sicherheit der grünen Fraktion (Berlin), Prof. Dr. Manfred Wilke, Historiker (Berlin), Prof. Dr. Heinrich August Winkler, Humboldt-Universität zu Berlin (Berlin), Hans-Eberhard Zahn, Bund Freiheit der Wissenschaft (Berlin)
Die Erklärung findet sich in deutscher, englischer, russischer, polnischer, tschechischer und ungarischer Sprache auf der Website www.23august1939.de.
V.i.S.d.P.: Dr. Anna Kaminsky, Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Kronenstraße 5, 10117 Berlin,
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