Editorial
Erzählen formt Geschichte
Manfred Sapper, Volker Weichsel
Abstract in English
(Osteuropa 7-8/2009, S. 56)
Volltext
Der Hitler-Stalin-Pakt ist ein Muster totalitärer Außenpolitik. Er kam nicht trotz der Unterschiede zwischen den ideologisch verfeindeten Diktaturen zustande, sondern aufgrund der vielen Gemeinsamkeiten der beiden Führerstaaten. Für viele westeuropäische Intellektuelle, die an die Sowjetunion geglaubt hatten, war der Pakt ein Schock. Für Millionen Menschen in Osteuropa wurde er zu einer Tragödie. Die beiden Außenminister Vjačeslav Molotov und Joachim von Ribbentrop einigten sich nicht nur auf die Aufteilung Ostmitteleuropas. De facto agierten das nationalsozialistische Deutschland und die stalinistische Sowjetunion vom 23. August 1939 bis zum 21. Juni 1941 als Verbündete. Den deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag auf die Abgrenzung von Einflusssphären zu reduzieren ist daher euphemistisch. Die Handlanger der Diktatoren machten den Weg frei für die Zerschlagung Polens, für die Besatzung des Baltikums, der nördlichen Bukowina und Bessarabiens, für Terror und Deportationen, für Völkermord und Klassenmord. Das geheime Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt nahm große Teile der territorialpolitischen Ordnung in Osteuropa vorweg, die in Jalta festgelegt wurde und zum Fundament der Spaltung Europas wurde. Daher stand die Klage über das Unrecht des Hitler-Stalin-Pakts im Zentrum der Unabhängigkeitsbewegungen im Baltikum. Und erst als die Staaten Ostmitteleuropas ihre Freiheit und Souveränität wiedererlangten, traten sie aus dem langen Schatten dieses Pakts. Bis heute ist die Erinnerung an den Hitler-Stalin-Pakt in Europa sehr unterschiedlich. In Polen und im Baltikum ist das deutsch-sowjetische Abkommen ein zentraler Bezugspunkt der nationalen Erinnerungskulturen. Mit dem Pakt verbindet sich die Erfahrung eigener Machtlosigkeit angesichts der Verschwörung der Teilungsmächte sowie das Gefühl, von den Bündnispartnern im Stich gelassen worden zu sein. In Westeuropa dagegen spielt die Erinnerung an den Pakt kaum eine Rolle. In Deutschland geht sie im Gedenken an den 1. September unter. Dass die Wehrmacht und die Rote Armee 1939 im besetzten Polen gemeinsame Paraden abhielten, dass der NKVD und die Gestapo dort Koordinierungstreffen durchführten, all dies gehört nicht zum deutschen Geschichtsbild. Die Bedeutung des 17. September 1939 – des Tags, an dem die Rote Armee vom Osten in Polen einmarschierte – bleibt der deutschen Öffentlichkeit immer noch verschlossen. Auch in Russland mag heute kaum jemand von der sowjetischen Kumpanei mit dem NS-Regime und der eigenen Besatzungspraxis in Polen und im Baltikum hören. Die Konfrontation mit dieser Geschichte schmerzt. Doch an die Stelle der Aufarbeitung der Vergangenheit, wie sie unter Michail Gorbačev praktiziert wurde, rückt die Anästhesierung der Erinnerung. Qua Gesetz und Kommission soll die „Verfälschung der Geschichte zum Nachteil der Interessen der Russländischen Föderation“ bekämpft werden. Als Verfälschung gilt bereits der Hinweis darauf, dass viele Menschen im Baltikum und Polen die von Moskau reklamierte „Befreiung vom Faschismus“ gar nicht als Befreiung empfanden. Diese unterschiedlichen Erfahrungen führen zu Deutungskonflikten, die politische Sprengkraft haben. Doch sie sind nicht zu entschärfen durch Verdrängen und Vergessen, nicht durch Medienmanagement und „Wahrheitsministerien“, nicht durch Empörung oder Kopfschütteln. Wenn der Bau einer Pipeline zur Neuauflage des Hitler-Stalin-Pakts erklärt wird, ist eines klar: Die historische Analogie dient der Polarisierung und der Mobilisierung. Nimmt man sie wörtlich, ist sie unangemessen und falsch, weil sie den historischen Tatbestand verharmlost. Gleichzeitig eröffnet sie den Blick auf eine spezifische Wahrnehmung vermeintlicher historischer Kontinuität. Der einzige Weg, die historischen Sprengsätze zu entschärfen, ist der kontinuierliche Dialog. Hannah Arendt hat diesen Gedanken in Menschen in finsteren Zeiten formuliert: „Sofern es überhaupt ein ‚Bewältigen’ der Vergangenheit gibt, besteht es in dem Nacherzählen dessen, was sich ereignet hat; aber auch dies Nacherzählen, das Geschichte formt, löst keine Probleme und beschwichtigt kein Leiden, es bewältigt nichts endgültig. Vielmehr regt es, solange der Sinn des Geschehens lebendig bleibt – und dies kann durch sehr lange Zeiträume der Fall sein – zu immer wiederholendem Erzählen an.“