Titelbild Osteuropa 6/2009

Aus Osteuropa 6/2009

Editorial
Das Heilige und das Profane

Manfred Sapper, Volker Weichsel, Thomas Bremer, Jennifer Wasmuth


Abstract in English

(Osteuropa 6/2009, S. 5–6)

Volltext

Das Religiöse und das Politische sind zwei zentrale Dimensionen menschlicher Existenz. Für den religiösen Menschen hat der Glaube die höchste Bedeutung, weil die Religion nicht nur sein Leben, sondern sein ewiges Schicksal betrifft. Für den Menschen ohne Glauben spielt die jenseitige Dimension keine Rolle. Für ihn agieren religiöse Menschen irrational, weil ihr Verhalten nicht nur dem Sichtbaren, Messbaren und Berechenbaren folgt. Das Heilige und das Profane sind getrennte Sphären. Sie können unabhängig voneinander existieren. Beim Beten oder Meditieren spielt Politik keine Rolle. Viele Formen der Politik haben keinerlei Bezug zum Religiösen. Doch wo die Religion das Private hinter sich lässt, zu einer öffentlichen Angelegenheit und damit zu einem Teil der Gesellschaft wird, ist sie mit dem Politischen in vielfältiger Weise verbunden. Und jede Religion, die nicht bloß private Spiritualität ist, hat eine institutionalisierte Form, wenn auch nicht jede Religion so stark an eine Institution gebunden ist wie das Christentum an die Kirche. In den letzten Jahren ist das Bewusstsein erheblich gestiegen, welch große Bedeutung die Religion für Gesellschaft und Politik hat. Das gilt etwa für den Islam, der oft als Kraft gegen die Säkularisierung wahrgenommen und dem ein großes Konfliktpotential zugeschrieben wird. Das gilt aber auch für einzelne Staaten wie die USA. Dort ist der Einfluss religiöser Gemeinschaften auf die Politik kaum zu überschätzen. Religion ist ein integraler Bestandteil der politischen Kultur, religiöse Praktiken durchlaufen einen Gestaltenwandel und tauchen im Patriotismus, der Zelebrierung der Nation oder der außenpolitischen Mission im zivilreligiösen Gewande auf. Über all das wissen wir viel. Doch in Bezug auf Ostmitteleuropa und Osteuropa wissen wir wenig. Die Religionsgemeinschaften in diesem Raum haben im Kommunismus ähnliche Erfahrungen gemacht. Nach dessen Überwindung erwachte überall die Religion zu neuem Leben. Die Kirchen spielen vielerorts für nationale und staatliche Identitätsbildung eine wichtige Rolle. Doch unterscheidet sich die Lage von Land zu Land. In Tschechien etwa schrumpft die Bedeutung der Religion durch Säkularisierung. Doch selbst in säkularen Gesellschaften bleiben religiöse Bindung und Konfessionszugehörigkeit wichtige Faktoren für das moralische Fundament des Gemeinwesens sowie für Werte und Haltungen des einzelnen Menschen. In Polen, wo die Kirche eine fundamentale Bedeutung hatte, sucht sie nun ihren Platz in einer pluralistischen Gesellschaft. Und in Russland ist der Raum des Religiösen in Gesellschaft und Politik größer geworden. Die Orthodoxe Kirche findet Gehör. Doch wie es tatsächlich um das religiöse Leben der Gläubigen steht, war bislang weitgehend unbekannt. Eine repräsentative Umfrage, die speziell für den vorliegenden Band durchgeführt und großzügig vom katholischen Hilfswerk Renovabis gefördert wurde, bietet nun detaillierte Einblicke. Sie zeigen unter anderem: In der religiösen Praxis vieler Gläubiger verschmelzen die Grenzen zwischen dem Heiligen und dem Profanen.