Der erlesene Raum
Literatur im östlichen Mitteleuropa seit 1989
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Abstract
Eduard Goldstückers Prognose, der geschichtsmächtige Roman der Gegenwart werde aus Ostmitteleuropa kommen, erfüllte sich prompt in Péter Nádas’ Buch der Erinnerung. Die Werke von Aleksandar Tišma und Imre Kertész erschütterten die Leser. Die Literatur zeigte sich gewachsen, vom Zivilisationsbruch Auschwitz und dem Grauen der Kriege, von der Kontamination jedes Quadratmeters mitteleuropäischen Bodens durch Schuld und Verbrechen zu erzählen. Jüngere Autoren machen historische Metropolen, Landschaften und Räume wieder sichtbar, die im Schatten des Eisernen Vorhangs gelegen hatten und über die sich der Nebel des Vergessens gesenkt hatte. Und wie schon einmal auf den Trümmern des Habsburgerreichs zeigt sich: Melancholie und Groteske durchziehen die große mitteleuropäische Literatur.
(Osteuropa 2-3/2009, S. 205228)
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As the fog lifted
Když se zvedla mlha
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Vor mehr als zwanzig Jahren schien es, wie Danilo Kiš schrieb, „dem im Westen herangereiften Bewusstsein, dass durch die manichäische Teilung in Ost und West ein ganzer Teil Europas wie vom Nebel verschluckt wurde“.[1] Heute hat sich dieser Nebel gelichtet. Doch die Landschaften, die damals verhüllt waren, haben sich teilweise bis zur Unkenntlichkeit verändert. Kišs düstere Prognose, dieser Teil Europas sei für immer verloren, hat sich anders bewahrheitet, als der 1989 verstorbene serbisch-ungarisch-jüdische Schriftsteller hätte ahnen können. Was er nicht für möglich hielt, ist eingetreten: Der Eiserne Vorhang ist gefallen. Doch hätte Kiš sich vorstellen können, dass, während sich die Staaten des „Ostblocks“ weitgehend friedlich trennten, sein Jugoslawien in blutigen Kriegen, ethnischen Vertreibungen und Massakern unterging?
Die Landkarte Osteuropas ist heute kleinteiliger, die Grenzen sind zahlreicher. Noch immer reibt man sich ungläubig die Augen: Die ehemals baltischen Sowjetrepubliken sind Teil der Europäischen Union, wie auch die ehemalige jugoslawische Teilrepublik Slowenien, Seite an Seite mit der Slowakei, Rumänien und Bulgarien. Von Ost- und Westeuropa zu sprechen scheint ein politischer Anachronismus. Und doch hält sich dieses „Osteuropa“ hartnäckig im Bewusstsein.
Betrachten wir die Literatur, so zeigt sich, dass diese Spaltung sich nur verschoben hat. Dass mit dem Hervortreten einzelner Literaturen aus dem Einheitsgrau der sozialistischen Flächenkarte die Konturen des alten Mitteleuropa als kulturhistorisches Phänomen auf dieser Karte durchschlagen. Und dass es nur noch ein literarisches Zentrum im Osten gibt: Russland.
Eine der Herausforderungen der Nachwendezeit bestand darin, sich nicht nur mit den politischen, sondern auch mit den historischen und kulturellen Gegebenheiten der aus dem Nebel aufgetauchten Länder vertraut zu machen. Das Reisen, der Auf- und Ausbau von Beziehungen, der interkulturelle Austausch waren jedoch angewiesen auf ein fundamentales Verstehen, Vermitteln und Übersetzen. Die gemeinsame europäische Geschichte, die mit dem Fall der Mauer plötzlich als greifbare Aufgabe vor Augen stand, wäre ohne ein gemeinsames Gedächtnis gar nicht möglich. Wie aber konstituiert sich die gemeinsame Geschichte, wenn nicht durch die Arbeit der Erinnerung?
Bücher und Bibliotheken spielen dabei eine besondere Rolle. Die Literatur des 20. Jahrhunderts hat sich selbst der Beschreibung des Zivilisationsbruchs in Auschwitz und an der Kolyma gewachsen gezeigt. Aber diese Literatur war bis 1989 nur unzureichend bekannt; ihre Rezeption gehört zur Beschreibung des literarischen Prozesses seit 1989 ebenso wie der Versuch, die Texte zu betrachten, die sich in die entstehende große Narration vom Ende des Kommunismus hineinschreiben − einem Ende, das mit dem Heraufziehen eines nationalen und eines postnationalen Europa einhergeht.
Mitte November 1990, fast auf den Tag genau ein Jahr nach dem Fall der Mauer, kam Eduard Goldstücker aus London nach Berlin. Der legendäre Kafka-Forscher, Symbolfigur des Prager Frühlings, der kurze Zeit später aus dem Exil nach Prag zurückkehrte, sagte auf einer Diskussionsveranstaltung im Tschechischen Zentrum einen denkwürdigen Satz: Der geschichtsmächtige Roman der Jetzt-Zeit werde uns in den nächsten Jahren aus dem östlichen Mitteleuropa erreichen, wo die Menschen radikaler und auswegloser mit ihrer Geschichte konfrontiert sind als bei uns.
An wen mag Goldstücker damals gedacht haben? An welche Bücher denken wir heute, wenn wir uns seinen Satz in Erinnerung rufen? Und welche Rolle spielte die Literatur bei der Rehabilitierung des „halbseitig gelähmten europäischen Bewusstseins“, von dem Jorge Semprún 1995 in Buchenwald sprach? Was ist ihr Anteil an der Arbeit der Erinnerung?
Ein Westverlag fängt an und landet einen Coup
Weihnachten 1989 kam die Idee zur Welt. Wenige Wochen später wurde sie Wirklichkeit. In der Überzeugung, eine historisch einzigartige Situation mitgestalten, in Büchern und Diskursen mitformen zu können, gründeten Michael Naumann, damals Rowohlt-Verleger, und Ingke Brodersen, Herausgeberin der Reihe rororo-aktuell, den Verlag Rowohlt Berlin. Das Tochter-Unternehmen war die erste Verlagsgründung, die direkt auf den Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa antwortete. In Berlin, dem Schnittpunkt zwischen Ost und West, würde man die Wende und die machtvolle Rückkehr der Geschichte publizistisch am effektivsten begleiten können: mit aktuellen Sachbüchern, historischen Standardwerken, Dokumentenbänden und Erinnerungen von Zeitzeugen sowie einem kleinen, exquisiten literarischen Programm − einer Auswahlbibliothek Osteuropa. Als Lektorin wurde Ingrid Krüger gewonnen, die seit 1971 im Luchterhand Verlag für die Literatur aus der DDR und der Sowjetunion zuständig gewesen war. Der entscheidende Coup stand am Anfang: Imre Kertész und Péter Nádas, Autoren, die bis dahin von der staatlichen ungarischen Autorenagentur Artisjus vertreten worden waren, wurden mit Gesamtverträgen an den Rowohlt Berlin gebunden.
Goldstückers Behauptung bestätigte sich auf überwältigende Weise. Ein einziges Buch öffnete den östlichen Erwartungshorizont sperrangelweit: Péter Nádas’ bereits 1986 in Ungarn erschienenes Buch der Erinnerung. Das 1300 Seiten starke Werk, von der Grande Dame der ungarischen Literatur in Deutschland, Hildegard Grosche,[2] übersetzt, erschien im Herbst 1991 bei Rowohlt Berlin. Die Kritik urteilte euphorisch: Sie erkannte ein „Psychogramm einer Epoche“ (Radio Bremen), einen „Meilenstein der ungarischen und wahrscheinlich auch der europäischen Prosa“ (NZZ), gar ein „Jahrhundertwerk“ (Die Zeit). Innerhalb eines knappen Jahres wurden mehr als 25 000 Exemplare verkauft.
Die Erzählkunst des ungarischen Autors, ein skrupulöser, grüblerischer Realismus, entfaltet sich in seitenlangen, mäandernden, tausend Einzelheiten berührenden, von Phantasie vorangetriebenen, von Erfahrung zurückbeorderten Sätzen, die an Thomas Mann, aber auch an Hermann Broch erinnern. In diesen Sätzen zerfielen die ideologischen Klischees wie organisches Material in Salzsäure. Woher nahm dieser Schriftsteller die Ruhe, die Insistenz, eine „Individualität“ zu schaffen, die in ihrer Differenziertheit all die Züge aufwies, die Theodor W. Adorno dem entfalteten und verfeinerten spätbürgerlichen Subjekt zugeschrieben hatte?[3]
Die komplexe Romanstruktur verknüpft einen Entwicklungsroman aus den 1950er Jahren des stalinistischen Ungarn mit den Erfahrungen eines Schriftstellers um 1900 in Heiligendamm (der unverkennbar Thomas Mann zum Vorbild hat) und einer homoerotischen Liebesgeschichte, die im Ostberlin der 1970er Jahre spielt. Die markanten Ereignisse − das Jahr 1953, Stalins Tod, der Arbeiteraufstand in Ostberlin; die ungarische Revolution 1956, die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 − bleiben im Hintergrund und sind doch in jeder Zelle des Textgewebes anwesend. „Verknüpfung“ ist aber nicht ganz richtig. Nádas schreibt
zeitlich etwas verschobene, parallele Erinnerungen mehrerer Personen . . . Und all diese verschiedenen Personen könnte ich sein, ohne dass ich es wäre.[4]
Er wollte „die unpersönliche Geschichte auf die persönlichste Weise aufarbeiten“ und rückte deshalb den Körper ins Zentrum der existentiellen Selbsterforschung. Musste man nicht bis zu Proust zurückgehen, um die sinnlich-erotische Wahrnehmung eines anderen Menschen auch nur annährend so subtil, mit so zarter, glühender Intensität geschildert zu sehen? Nádas schreibt, er habe, nachdem seine Phantasie einmal in Schwung gekommen sei, abwarten müssen; zurückgezogen in eine „hübsch eingerichtete Wohnhölle im achten Stock“, von Baulärm umtost, habe er mit Ohrstöpseln auf dem Bett gelegen, zwei Jahre lang, und habe die Phantasie arbeiten lassen, ohne sie zu stören. Eines Tages sei er aufgestanden und habe zu schreiben begonnen, und das habe noch mal zehn Jahre gedauert.
Das Neue an diesem Buch war der radikale Versuch, die intimsten Regungen des Subjekts als Austragungsort der gesellschaftlichen Repressionen, der ideologischen Vergewaltigung zu zeigen. Gerade die „regelwidrigen Gefühle“ sind Messinstrumente für den Seinszustand des Menschen in einer Diktatur. Die Parole der Westlinken von 1968, das Private sei politisch, hatte vermutlich nie diese Art Schmerz gemeint, der ihr erst einen präzisen Sinn gibt: Bis in die erotische Szene hinein wirken die Deformationen des Einzelnen, die Angst zu verraten und verraten zu werden, der Widerstreit zwischen Autoritätshörigkeit und Lust, das Ineinander von Glück, Scham und Gewissensqual.
Nein, dies sind nicht die Höllenängste von Stephen Daedalus im katholischen Dublin oder die erotischen Qualen des Gustav von Aschenbach in Venedig. Die planmäßige Zerstörung der Persönlichkeit in den stalinistischen Gesellschaften der 1950er Jahre, die in Osteuropa direkt auf die Verheerungen des Krieges, die Schoah, die Massendeportationen in die Lager folgte, resultierte aus dem Umbau aller Lebensverhältnisse, der keine Sphäre unberührt ließ. Im Buch der Erinnerung wird ein nächtlicher Spaziergang durch Ostberlin Anfang der 1970er Jahre beschrieben. Der Ich-Erzähler ist mit seinem Geliebten Melchior in Pankow unterwegs; sie meiden die neuen Wohnviertel, deren brutale Architektur die Degradierung des Menschen zum Arbeitstier zum Ausdruck bringt, sie wählen die Straßenzüge, in denen
noch etwas zu sehen, zu spüren, zu riechen war von einer wenn auch zerstörten und dem weiteren Zerfall preisgegebenen, geflickten, geschwärzten, zerfallenden Individualität. Man könnte behaupten, dass wir uns zwischen den Kulissen einer Persönlichkeitstragödie von europäischen Ausmaßen bewegten.[5]
In diesem Roman traten Charaktere auf, nahmen Konflikte ihren Lauf, die man in den Büchern westdeutscher Gegenwartsautoren vergeblich suchte: Charaktere, die sich mit ihrer Sterblichkeit, mit der tödlichen Gewalt der Liebe, mit Verrat, Hass und vor allem Schuld auseinandersetzen mussten. Mit den poetisch-spekulativen Mitteln der Introspektion das Leben im Sozialismus zu beschreiben, ohne je die Wirklichkeitsverhaftung zu verlieren, ohne aber auch die träumerische Dimension preiszugeben − diese Arbeit der schriftstellerischen Phantasie und des kritischen Intellekts verrückte die Maßstäbe: Sollte dies eines der Bücher sein, mit denen künftig zu rechnen war, dann standen neue Zeiten bevor.
Von der Zensur zum Marktdiktat?
Der Aufstieg von Rowohlt Berlin fiel mit dem Niedergang jener Häuser zusammen, die sich im Osten der Stadt traditionell mit der Literatur Osteuropas befasst hatten. Während in den DDR-Verlagen spezialisierte, die Literatur eines Landes systematisch sichtende Lektorate arbeiteten, in denen die ausgefallensten osteuropäischen Sprachen wie Georgisch oder Estnisch gelesen wurden, gab es in der Bundesrepublik nur eine Handvoll Lektoren, die zumindest des Russischen mächtig waren. War das Erschließen der Literatur von Aserbeidschan bis Ungarn einst die Domäne eines Verlages wie Volk & Welt gewesen, so gab es für die Fachkompetenz der zahlreichen Lektoren, Redakteure und Übersetzer, von Ausnahmen abgesehen, in der neuen Verlagslandschaft keinen Bedarf mehr.[6] Im Westen war das Interesse an der Mehrzahl dieser Autoren gering. Repräsentative Stimmen aus den vormals sozialistischen Ländern vorzustellen, konnte kein verlegerisches Ziel mehr sein. Es lohnte sich nicht. Die Frage für die nach der Wende in anderer Form fortbestehenden ostdeutschen Verlage lautete statt dessen: Welchem dieser Autoren traute man zu, sich auf einem wettbewerbsorientierten Buchmarkt zu behaupten?
Doch zunächst, im Frühjahr 1990, als man bei Rowohlt Berlin noch am ersten Programm bastelte − Enthüllungsbücher wie Tatort Politbüro, die Memoiren von Walter Janka, des jahrelang inhaftierten Aufbau-Verlegers, aktuelle Bücher von Schabowski, Havel, Dienstbier usw. −, legte Volk & Welt, von den Fesseln der Zensur befreit, einen großen Auftritt hin. Werke von Šalamov, Platonov, Bulgakov erschienen, viele erstmals in unzensierten Ausgaben. Gegenwartsautoren tauchten auf, die zuvor kein Publikum haben durften. Auf das gesteigerte Interesse an osteuropäischer Literatur reagierte der Verlag drei Jahre später mit einem mehrseitigen Flyer, der unter dem Slogan „Jetzt Russen lesen!“ ein mehr als vierzig Bände zählendes russisches Programm präsentierte.
Noch 1989 war das von der westlichen Kritik stark beachtete Debüt einer neuen russischen Autorin, Tatjana Tolstaja, gleichzeitig bei Luchterhand und Volk & Welt erschienen: in zwei verschiedenen Übersetzungen.[7] Die Literatur aus dem Osten Europas, zumal die russische, hatte vor 1989 auch auf dem bundesdeutschen Markt wahrhaftig kein Schattendasein geführt.
Gerade erst hatte ein unbekannter Jugoslawe namens Milorad Pavić mit einem Lexikonroman in männlichem und weiblichem Exemplar, dem Chasarischen Wörterbuch (1988) Furore gemacht. Kaum jemand interessierte sich für die Herkunft des Autors und die politischen Implikationen seiner problematischen historischen Mystifikationen. Der im Pariser Exil lebende Milan Kundera war seit dem Erscheinen von Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins 1984 Bestsellerautor, und der Hanser Verlag konnte es sich erlauben, früher erschienene Kundera-Titel von Susanna Roth neu übersetzen zu lassen. Kunderas in Prag lebender Landsmann Bohumil Hrabal, Suhrkamp-Autor, war gerade im Begriff, ein lebender Klassiker zu werden. Dank des Übersetzers und jahrzehntelangen Vermittlers Karl Dedecius war die polnische Literatur besonders reich vertreten; kaum ein wichtiger Autor des 20. Jahrhunderts fehlte. Wie bei den Tschechen spielten die Exilautoren in Frankreich, den USA und Kanada eine große Rolle als Anreger und Wegbereiter.
Ungarische Schriftsteller hatten sich seit Mitte der 1970er Jahre häufig in Westberlin aufgehalten; so war Péter Nádas 1981 Gast des DAAD-Künstlerprogramms Berlin gewesen. Bereits 1979 hatte Suhrkamp, der Verlag György Konráds, sein Ende eines Familienromans herausgebracht, ein Buch, das ihn auch außerhalb Ungarns als einen der wichtigsten Schriftsteller seines Landes bekannt machte.[8]
Auch die Klassiker der Moderne waren in sorgfältig edierten Ausgaben präsent: Bei Suhrkamp erschien seit 1981 eine auf fünfzig Bände angelegte Polnische Bibliothek. Der Ammann Verlag in Zürich startete 1984 seine Mandel’štam-Gesamtausgabe. Hanser beteiligt sich an der Produktion der in der DDR besorgten Werkausgaben von Blok, Platonov und Cvetaeva.
In der DDR hatte die russische und sowjetische Literatur die anderen osteuropäischen Literaturen stark dominiert. In Westdeutschland war dies nur unwesentlich anders. Lediglich die Auswahl der in Verlagen wie S. Fischer, Piper, Ullstein, Suhrkamp, Luchterhand, Diogenes reich vertretenen Gegenwartsliteratur war komplementär. 1971 erschütterte Nadežda Mandel’štams Autobiographie Das Jahrhundert der Wölfe die westlichen Leser, 1974 rüttelte Solženicyns Archipel Gulag eine große Öffentlichkeit auf, die das sowjetische Lagersystem bisher nicht zur Kenntnis genommen hatte. Dank der vornehmlich bei Luchterhand, aber auch in kleineren linken Verlagen erscheinenden DDR-Lizenzausgaben fanden die Leser im Westen aber das ganze Spektrum vor: vom sozialistisch realistischen Roman bis zu den Moskauer Konzeptualisten. Auch Werke, die in den Lektoraten der DDR bekannt waren, dort aber nicht gedruckt werden durften, erschienen zuerst in der Bundesrepublik: Venedikt Erofeevs Moskau – Petuški (1978), Andrej Bitovs Roman Das Puschkinhaus (1983), die Romane von Nabokov − Schlüsselwerke der russischen Moderne.
Seit Beginn der Perestrojka 1985 hatte sich das Leserinteresse vor allem an russischer Literatur erheblich verstärkt, und es wirkte noch bis Mitte der 1990er Jahre. Doch nicht bei Volk & Welt erschienen die Bücher des Underground oder der „anderen Kultur“, sondern bei Haffmanns, Piper, S. Fischer oder Rowohlt Berlin. Vladimir Sorokins Die Schlange und Viktor Erofeevs Moskauer Schönheit – ein Roman, der seit 1982 in der Schublade gelegen hatte und auf Anhieb ein Bestseller wurde – stellten ein Novum dar. Sie wiesen in die Zukunft, die letzten Programme des alten Verlags Volk & Welt in die Vergangenheit.[9]
Eine Literatur, die noch niemand kennt
Wie stark die literarische Rezeption von politischen Konjunkturen abhängig ist, zeigte sich in den folgenden Jahren dramatisch. Zunächst aber folgten die entdeckungsbereiten Verleger aus dem Westen einem naheliegenden Gedanken: In den osteuropäischen Ländern müssten doch etliche noch unbekannte Bücher zu finden sein, die aus dem bisher gültigen Ost-West-Raster herausfielen, Texte, deren Autoren weder dissidentisch noch konform, Schriftsteller, die weder Emigranten noch Staatsschriftsteller waren. Texte, die den Hindernislauf durch die Behörden niemals geschafft hätten und die man nun direkt, ohne Umwege über Urheberrechtsagenturen und Verlagsfunktionäre finden würde.
Die Kuriere − vor allem Korrespondenten und Übersetzer −, die früher Manuskripte oder auch nur Namen und Gerüchte aus Russland oder den Staaten Osteuropas herübergeschmuggelt hatten, kamen jetzt verstärkt zum Einsatz: als Cicerones, die uns in Moskau, in Budapest, Prag und Warschau mit den „richtigen Leuten“ bekannt machten. Sie wurden zu unersetzlichen Gutachtern und bildeten das kleine Netzwerk von vertrauenswürdigen Lesern, die einen ganzen Expertenstab ersetzen mussten. Manche hatten seit Jahrzehnten die literarischen Neuerscheinungen in den einzelnen Ländern beobachtet.[10] Oder sie hatten − als Übersetzer, Herausgeber, Lektoren − „ihre Autoren“ bereits seit Ende der 1950er, Mitte der 1960er Jahre in die Verlage gebracht und setzten ihre Arbeit einfach fort.[11]
Die „richtigen Leute“ − Verleger, Lektoren, Übersetzer, Zeitschriftenredakteure und natürlich die Schriftsteller − empfingen die Kollegen aus dem Westen mit offenen Armen. Es war ihnen wichtig, dass man sich hier eine Vorstellung davon machte, wie sie lebten, welche Aufgaben vor ihnen lagen. Der rasche Aufbau einer professionellen privatwirtschaftlichen Verlagsszene in den Ländern Ostmittel- und Osteuropas gehört zu den beeindruckendsten Kapiteln der Transformationsjahre. Inzwischen sind aus diesen Kontakten stabile Verlagsbeziehungen geworden, vor allem mit Kollegen in Polen, Tschechien, Ungarn, Russland, Slowenien und Kroatien.[12]
Es waren damals die aus der Dissidentenszene, der Emigration oder dem Untergrund heraus gegründeten privaten Verlage, in denen die Bücher erschienen, die wir als Lektoren, als Verleger suchten, Autoren, die uns unsere eigenen Geschichte erzählten, eine Geschichte, die wir noch nicht kannten. Es ging um die Geschichte nicht nur einer unbekannten Vergangenheit, sondern der sich aktuell ereignenden Gegenwart.
Zwei Wenderomane avant la lettre oder: Die Explosion der Zeit
Im Frühsommer 1993 saß Jáchym Topol, damals 31 Jahre alt, in einem Landhaus in der Eifel und schrieb seinen ersten Roman. An diesem Ort bot die Heinrich-Böll-Stiftung politisch verfolgten Schriftstellern Asyl, doch verfolgt fühlte sich Topol damals, fast vier Jahre nach der Samtenen Revolution, vor allem von den immensen Alltagsproblemen im Prag der Transformationszeit, vom hektischen Produzieren zahlloser Artikel und Reportagen für den Broterwerb. Fast zwanzig Jahre zuvor, 1974, war Aleksandr Solženicyn hier zu Gast gewesen. Bölls Sommerhaus in Kreuzau-Langenbroich war die erste Station des sowjetischen Schriftstellers auf seinem Weg ins amerikanische Exil. Schwarzweißfotos von Böll und Solženicyn, die um die Welt gegangen waren, schmückten die Wände. Topol mochte Böll, der am 21. August 1968 in Prag bei seinem Dichterfreund Bohumil Hrabal gewesen war. Beide hatten die Panzer einrücken sehen.
Nun hatte Topol, der literarische Enkel Hrabals, sie beim Schreiben buchstäblich vor Augen, die „Veteranen der Vergangenheit, der Zeit des Hasses und der Angst“. Es waren Bilder einer Epoche, die im Herbst 1989 zu Ende ging.
Wie sich dieses Ende abspielte und was da endete − das wollte Topol begreifen. Er schrieb mitunter in einem Zustand der Euphorie, dann wieder überwältigt vom Mitgefühl mit den beiden alten Männern, weil er „jetzt in jener Freiheit lebte, von der sie geträumt hatten“.[13] Wie im Rausch brachte er Hunderte von Seiten zu Papier, und nach drei Monaten und zwei Wochen war der Roman fertig. Sestra/Die Schwester avancierte in Tschechien zum Buch des Jahres 1994. Der mitteleuropäische Wenderoman, die Epopöe des Postkommunismus, lag schon vor, als in Deutschland diesbezüglich noch Suchanzeigen aufgegeben wurden.
Die Handlung setzt Monate vor der Samtenen Revolution ein, als in Prag, der Stadt „hinter dem Stacheldraht“, Flüchtlinge auftauchen − Deutsche. Aus den Fenstern und von den Pawlatschen herab beobachten die Tschechen die „Flucht aus dem Kommunismus“ − Tschechen, die „selbst keinen Ort hatten, wo sie hätten hingehen können, weil dieses Land ihr einziges Land war“. Und Potok, der Ich-Erzähler, begreift,
dass es angefangen hatte . . . die Bewegung, schon im Exodus der Deutschen hatte etwas von Karneval gelegen, und der Karneval dauert bis heute an, seit den Tagen, als die Zeit explodiert ist.[14]
Gleich auf den ersten Seiten macht Jáchym Topol klar, was er will: den Vulkanausbruch beschreiben, der durch die Explosion der Zeit im Herbst 1989 verursacht wurde; die vom Erdrutsch zerstörten Landschaften mit ihren radioaktiv und ideologisch verseuchten Rückständen; eine dunkle Gegenwart, in der noch kein Durchkommen ist zur Zukunft. Die Sprache oder besser das Gemisch aus illegitimen, abgetriebenen, verstümmelten National- und Regionalsprachen, in das er deutsche Wendungen, russische Brocken, „protektoratische Argotismen“ einrührt, erzeugt eine apokalyptische Bilderflut und die Tonspur gleich mit.
In ihrer Rezension der deutschen Ausgabe schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung:
Vermutlich findet sich im Westen Europas oder in den USA derzeit kein Autor, der dem Roman noch die unerhörte Kraft zutraute, alles sagen und die Welt in ihrer Totalität heraufbeschwören zu können.[15]
Nicht ausgeschlossen, dass Topols Erkenntnis, wie naiv auch immer, endlich außerhalb der Stacheldrahtzone, in Freiheit, in einer demokratischen Ordnung zu leben, ihm das Zutrauen eingegeben hat, „alles sagen zu können“. Das Glück der gewonnenen Freiheit zu genießen und sich von ihm forttragen zu lassen, diese emphatisch formulierte Erfahrung unterscheidet ihn vermutlich von den meisten seiner Altersgenossen, die während des Systemwechsels ernsthaft zu schreiben begannen.[16]
Befreit vom Chaos seines Herkunftslandes fühlt sich auch Jurij Andruchovyč, als er im Januar 1992 zum ersten Mal in den Westen kommt. In der Villa Feldafing am Starnberger See schreibt der Stipendiat, ebenfalls innerhalb von drei Monaten, seinen Roman Moscoviada über den Untergang der Sowjetunion. Sein Held, der westukrainische Literaturstudent Otto von F. (für Feldafing), lebt im Wohnheim des Gor’kij-Instituts in Moskau, dem „fauligen Herzen des halbtoten Imperiums“, um ihn herum blühen die poetischen Hoffnungen der neuen jungen Nationalliteraturen, estnische und usbekische Achmatovas, burjatische Puškins, tschetschenische Chlebnikovs. Ein Einkaufsbummel im Kaufhaus Detskij Mir, direkt neben der Lubjanka gelegen, endet in einem Alptraum: Otto von F. verläuft sich in Fluren und Treppenhäusern und landet schließlich in der Kanalisation, wo der Geheimdienst ein Rattenheer züchtet. Am Ende kann er sich mit knapper Not in den Zug nach Kiew retten, während hinter ihm Moskau in einer Kloake untergeht. Wie Topol entfesselt auch Andruchovyč einen bizarren Karneval, ein Geschichtsspektakel, um seinen „burlesken Abgesang auf die Sowjetunion“ (FAZ) in Szene zu setzen.
Beide waren Augenzeugen des untergehenden kommunistischen Systems gewesen: Topol in der Tschechoslowakei, Andruchovyč in der Ukraine. Dort trat im Frühsommer 1989 „der bürgerliche Widerstand gegen das Sowjetimperium in seine aktive Phase“ ein, und im Winter 1989/1990 bildeten Millionen Bürger eine Menschenkette zwischen Kiew und Lemberg.[17] Beflügelt von diesem Aufbruch ging Andruchovyč nach Moskau, nahm an oppositionellen Kundgebungen mit Hunderttausenden Menschen teil und studierte am Gor’kij-Literaturinstitut. Sein Neunundachtzig endet mit der staatlichen Unabhängigkeit der Ukraine im August 1991, nach dem gescheiterten Putsch gegen Gorbačev in Moskau.
Die Zukunft, die sich bisher vielversprechend an der Schwelle herumgedrückt hatte, öffnete entschlossen die Tür und trat in unser Leben ein.[18]
In Feldafing weiß niemand etwas von der Ukraine. Und während Topol beim Schreiben in Freiheitsgefühlen schwelgt, hört Andruchovyč abends im Sender Radio Liberty die alarmierenden Nachrichten aus dem ehemaligen Imperium und zittert um sein neu entstehendes Land. Doch die Zukunft blieb im Haus. Auch wenn es noch weitere 13 Jahre dauern sollte, bis die „Orange Revolution“ das nachholte, was in der Tschechoslowakei und andernorts in Mitteleuropa 1989 geschehen war.
Hätte Eduard Goldstücker diese beiden ungebärdigen, zwischen Alptraum und Groteske changierenden Bücher als Teilerfüllung seiner Prophezeiung, der geschichtsmächtige Roman der Jetzt-Zeit werde aus Osteuropa kommen, gelten lassen? Konnte ein Gegenwartsroman das überhaupt leisten?
Der lange Schatten von Auschwitz über Osteuropa
Topols Roman erschien 1994 bei Atlantis in Brünn, dem Verlag Milan Kunderas. Die deutsche Übersetzung folgte vier Jahre später bei Volk & Welt. Erst 2006 kam Moscoviada, 1993 in der Kiewer Zeitschrift Sučasnist’ erschienen, bei Suhrkamp heraus. Bücher haben ihre Stunde, und die historischen Uhren gehen unterschiedlich − zumal wenn sie in zwei bis kurz zuvor noch getrennten Hemisphären ticken. Die mediale Aufmerksamkeit für Bücher, die nach 1989 aus Osteuropa auftauchten, war stark abhängig von Themen, die die Öffentlichkeit beschäftigten: die deutsche Wiedervereinigung; Krieg im früheren Jugoslawien; die russischen Wirren der 1990er Jahre; die Erinnerungsdebatten um die Vertreibung der Deutschen; die Diskussion um die Verbrechen der kommunistischen Herrschaft; die Verklärung Mitteleuropas als Sehnsuchtsraum.
Die Literatur aus den Ländern Osteuropas wurde als Dokument rezipiert. Das Interesse des Publikums galt gewiss auch den Schreibweisen, noch mehr aber den Stoffen. Man sehnte sich nach einem neuen Nabokov oder Márquez, um die Phantasie der westlichen Leser zu entzünden. Verstehen wollte man die Konflikte und Tragödien, die seelische und die geistige Lage, den omnipräsenten Druck, der auf den Menschen in den geschlossenen Gesellschaften gelastet hatte und jetzt wich, die Last der Geschichte, die erst jetzt, nachdem die Nationen sich von den Parteidiktaturen befreit hatten, überhaupt erzählbar wurde. Die Erwartungen an die Zuständigkeit der Literatur waren hoch.
Im sich lichtenden Nebel tauchten zwei Giganten auf, Autoren, die den deutschen Lesern das schrecklichste Kapitel der eigenen Geschichte noch einmal neu erzählten − und zwar so erzählten, wie man sie bisher nicht gekannt hatte: Aleksandar Tišma aus Novi Sad, 1924 in einem Dorf in der pannonischen Ebene geboren, und Imre Kertész, 1929 in Budapest zur Welt gekommen. Ihre Bücher wühlten die literarische Öffentlichkeit auf. Ihr gegenüber der Originalausgabe stark verspätetes Erscheinen zählt zu den großen publizistischen Ereignissen der 1990er Jahre.
Der Gebrauch des Menschen von Aleksandar Tišma, 1976 in Belgrad, 1985 in französischer Übersetzung erschienen,[19] erreichte die deutschen Leser in dem Sommer, als Jugoslawien auseinanderbrach. Nachdem Slowenien und Kroatien sich im Juni 1991 für unabhängig erklärt hatten, setzte der serbische Präsident Slobodan Milošević die Jugoslawische Volksarmee in Bewegung. Viele lasen das Buch in den Sommerferien, während die ersten Bilder von erschlagenen Menschen in blühenden südlichen Gärten über die Fernsehschirme flimmerten.
Der Gebrauch des Menschen erzählt vom Einmarsch der Nazis in Novi Sad, wo bis dahin Ungarn, Serben, Kroaten, Deutsche und Juden ein friedliches Kleinstadtleben geführt hatten. Im Mittelpunkt stehen die Schicksale von vier jungen Leuten, die gemeinsam den Deutschunterricht beim „Fräulein“ besucht hatten. Einer fällt als Widerstandskämpfer, die anderen überleben, der eine physisch verstümmelt, der andere unfähig, nach dem Krieg ins Alltagsleben zurückzufinden, die vierte schließlich geht an ihrem Trauma zugrunde, eine „Auschwitz-Hure“ gewesen zu sein. Täter die einen, Opfer die anderen, können sie einander nicht ausweichen. Mit unerhörter Schärfe beschreibt Tišma, wie die Gewalt das Leben dieser Menschen in den Griff nimmt und sie zerbricht: „Ein quälendes Meisterwerk“, schrieb ein Kritiker,
das seinen deutschen Lesern eine gern verdrängte Last unserer Geschichte aufbürdet, denn kaum zuvor ist die Scham der Opfer so genau beschrieben worden wie in diesem Roman.[20]
Tišmas Romane und Erzählungen über den Zweiten Weltkrieg, die in den folgenden Jahren erschienen, handelten von Folterern und Verfolgern (Die Schule der Gottlosigkeit, 1978; frz. 1981, dt. 1993), von den Schuldgefühlen des Überlebenden (Das Buch Blam, 1972; frz. 1986, dt. 1995) und − in Tišmas großartigstem und schrecklichstem Buch − von dem überlebenden Kapo (1987; frz. 1989, dt. 1997), dem Opfer, das in Auschwitz zum Täter wurde und nicht nur in der Hölle der Schuld, sondern auch in der Angst vor Rache weiterlebt, in einer Welt, die kein Außerhalb des Lagers mehr kennt.
Vielleicht hat die Aktualität des Jugoslawienkriegs die Rezeption seiner Bücher anfangs gefördert. Doch sie darauf zu reduzieren, ist unmöglich. Tišma selbst, der „im Menschen nur die Manifestation der lebenden Materie“[21] sehen wollte, äußerte sich in Interviews stets ausweichend zu den aktuellen Ereignissen:
All das, was jetzt passiert, ist nur eine Wiederholung. Es geht um den gleichen Menschenschlag wie im Zweiten Weltkrieg, um die gleichen Leidenschaften, um die gleiche Unbesonnenheit, um den gleichen Wahnsinn.[22]
Es war eine seltsame Situation. Ein Autor von Weltrang, der sein ganzes schöpferisches Leben unerkannt in Novi Sad gelebt hatte, betrat die deutsche Bühne zu einer Zeit, als sein Werk abgeschlossen war. Er hatte gesagt, was er zu sagen hatte.[23]
Auch Imre Kertész musste über ein zwanzig Jahre altes Buch sprechen, als er mit seinem Roman eines Schicksallosen im Frühjahr 1996 auf Lesereise ging.[24] Konsequent aus der Perspektive eines Jungen, der, anders als der Leser, nicht weiß, was ihn erwartet, erzählt er von der Deportation nach Auschwitz und vom langsamen Zugrundegehen im Lager. Die Geschichte endet mit der Befreiung in Buchenwald, der Rückkehr nach Budapest und dem skandalösen Heimweh nach dem Konzentrationslager. Die Kritik wies Kertész einen Platz neben Primo Levi und Jorge Semprún zu. Aber die Immanenz des NS-Vernichtungslagers und das Erlernen seiner logischen Gesetze sind wahrscheinlich nie so radikal erzählt worden. Unter Verzicht auf jegliche Kommentierung, im Versuch der Mimikry an ein Geschöpf, das jeglicher Freiheit beraubt, der totalen Determination unterworfen ist, hat der Autor Kertész (nicht sein Erzähler!) die Lagerwelt als extremste Ausprägung seiner aktuellen Erfahrung schreiben können: Die Existenz in der totalitären stalinistischen Gesellschaft bezeichnete er als Fortsetzung seiner Lagerhaft und als Bedingung der Möglichkeit, dieses Buch zu schreiben, anstatt sich, wie Primo Levi, Tadeusz Borowski und Jean Améry, das Leben zu nehmen.
Auschwitz überlebt zu haben, ist das Thema aller Bücher von Kertész. Anders als Tišma wählt er stilistische Masken − den Thomas-Bernhard-Ton in Kaddisch für ein nichtgeborenes Kind (1989; dt. 1992), die Kafka-Maske in Fiasko (1986; dt. 1999) − und setzt sich mit den Verfahren der literarischen (und musikalischen) Moderne auseinander, um den Schlüssel zu finden zu der ihn jahrzehntelang quälenden Frage, wie vom Unerzählbaren zu erzählen sei.
War die Rezeption der ersten Bücher − dem Kaddisch folgte 1993 das Galeerentagebuch − sehr verhalten, gelang kurz nach dem Ende des Auschwitz-Gedenkjahrs 1995 mit dem Roman eines Schicksallosen der Durchbruch. Vielleicht wäre das umstürzend Neue an diesem Buch zu einem früheren Zeitpunkt gar nicht so fein registriert worden wie nach einem Jahr, in dem den Lesern, anstatt von der Fülle neuer Zeugnisse, Erinnerungen, Studien ermattet zu sein, Neugier und Sensibilität zugewachsen war.
Das Bearbeiten, Erarbeiten der eigenen Vergangenheit wurde nachgeholt, indem die Katastrophen des 20. Jahrhunderts, wie sie sich in Osteuropa, ausgelöst durch deutsche Schuld, ereignet hatten, erzählt und damit für Imagination und Empathie erreichbar wurden. Diese Literatur rüttelte das Gewissen von ganz Europa aufs Neue wach.
Die Öffnung des historischen Raums
Die Entdeckung von Kertész und Tišma, denen man Hanna Krall, die großartige Chronistin der NS-Verbrechen und des Leidens der Juden in Polen zur Seite stellen muss, korrespondierte mit einer neuen Phase der Vergangenheitsbearbeitung im wiedervereinigten Deutschland. Im August 1996, wenige Monate nach dem Roman eines Schicksallosen, erschien Daniel Jonah Goldhagens historische Studie Hitlers willige Vollstrecker, die pauschal einen deutschen Antisemitismus für die Schoah verantwortlich machte. 1995 war die Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht in Osteuropa eröffnet worden, die für jahrelange Aufregung und Diskussionen sorgte. Die Erschütterungen der Vergangenheit bebten nach, und „der Osten“, der nach dem Ende des Kommunismus gerade etwas von seiner Düsternis verloren hatte, zeigte sich als Massengrab, als verwüstetes Territorium, kontaminiert durch deutsche Schuld. Kein Quadratmeter Boden in Ostpolen, Litauen, Belarus, Ukraine, Russland, der nicht davon durchtränkt schien. Ein „Geschichtengrab“ nannte der Autor Wolfgang Büscher diesen Osten, den er von Berlin nach Moskau zu Fuß durchquerte.
Diese Narrative gehen weiter. Sie wurden Teil der eingangs erwähnten großen Narration, in die jetzt nachgeborene Autorengenerationen ihre eigenen Aussagen hineinwoben.
Seit dem Ende des Kommunismus versuchten sich tschechische und polnische Autoren an einem Tabuthema: der Vertreibung der Deutschen. Paweł Huelle und Stefan Chwin, die Archäologen der deutschen Stadt Danzig, auf deren Überreste sie an den Orten, in den Häusern ihrer Kindheit stießen, konnten sich eine Zeitlang sogar der Aufmerksamkeit ihres berühmten Kollegen und imaginären Mitbürgers Günter Grass erfreuen.[25] Olga Tokarczuk, die in einem schlesischen Dorf einen ehemals von Deutschen bewirtschafteten Hof bewohnt, rückt mit Mythologien und Phantasmagorien einem Leben zuleibe, das sie noch irgendwo in einer benachbarten Zeitkammer des Hauses gegenwärtig wähnt.[26]
Erkundungen wie diese ziehen sich bis in die Gegenwart; Wojciech Kuczok schrieb 2003 seinen Roman Gnój über den prügelnden Vater, einen vom Kommunismus zerstörten Gelehrten, der als Kind mit Deutschen unter einem Dach gelebt hatte − ein von Thomas Bernhard inspirierter Hassgesang auf die Dumpfheit der katholischen polnischen Familie wie auf die Volksrepublik selbst.[27]
Von den Gegenständen, denen man ihre Geschichte ablauscht, wie Stefan Chwin es in den besten Passagen seiner Bücher tut, ist es nur ein Schritt zu den Trümmern, etwa den verfallenen Vierteln einer galizischen Kleinstadt, in denen Jurij Andruchovyč seiner Familiengeschichte auf den Grund gehen will. Die östliche Landschaft steht voller Ruinen, die vom Untergang großer Reiche zeugen: des russischen, des osmanischen, des österreichisch-ungarischen und jüngst auch des sowjetischen. Sie bilden den Schauplatz seiner Bücher, und ihnen hat er sein „mittelöstliches Memento“ gewidmet.[28] Er klärt die Begriffe: Wer „Osten“ sagt, meint Moskau; wer von „Mitteleuropa“ spricht, denkt an Wien. Es ist die historische Bestimmung Mitteleuropas, schreibt Andruchovyč, „zwischen Russen und Deutschen eingezwängt zu sein“. Es gibt die mitteleuropäische Angst: vor den Deutschen, vor den Russen. Den mitteleuropäischen Tod: im Lager, im Gefängnis; ein kollektiver, ein gewaltsamer Tod. Und schließlich die mitteleuropäische Reise: die Flucht.[29]
Dass es unvermeidlich ist, von Todesarten zu erzählen, gibt der Literatur, die bis heute in dieser Gegend geschrieben wird, ihre Schwere.
Dieses Ruinen-Europa, das im Zuge der postkommunistischen Transformation zu verschwinden droht, ist Thema und Inspirationsquelle des bekanntesten polnischen Autors seiner Generation: Andrzej Stasiuk. Als sein lyrisches Prosawerk Die Welt hinter Dukla im Herbst 2000 zum Polen-Schwerpunkt der Frankfurter Buchmesse erschien, wurde das südpolnische Kaff seiner Erzählung begeistert zur neuen Hauptstadt der Literatur ausgerufen.[30] Verwaisten Dörfern, leeren Straßen, vollgeschissenen Hühnerställen und verrostetem Ackerbaugerät eine Aura zu verleihen, indem man seitenlang das transzendente Licht beschreibt, das auf sie herabfällt − dieses ästhetische Projekt Stasiuks hat unmerklich einen weiteren Paradigmenwechsel herbeigeführt.
Die Beschläge am Tor eines Renaissancehauses am Lemberger Stadtmarkt, die Seilwinde eines aufgelassenen Bergwerks in Istrien, das leerstehende Plattenbauviertel am Rande einer litauischen Industriesiedlung, die Grabstelen mit ruthenischen Schriftzeichen im Wald unweit einer Wiese, auf der einmal ein Lemkendorf stand: All das verweist auf eine untergegangene, oft gewaltsam untergegangene Geschichte. Stasiuks Blick unterscheidet nicht mehr zwischen Tätern und Opfern, die sich hier gegenüber standen. Er liest die Namen. Er sieht die stummen Denkmäler und Naturdenkmäler, die von etwas lange Vergangenem sprechen und sich mit dem Jüngeren, einem verkrüppelten Baum, einem Fasan auf dem Feld in ein neues Tableau fügen. Er hebt das alles über die Faktizität hinaus in die Sphäre des Entstehens und Vergehens, in den Bereich der letzten Dinge, ins Metaphysische. Hier wird alles zum Interieur einer Landschaft im Mondlicht, in der die Seele, um mit Eichendorff zu sprechen, ihre Flügel ausbreitet, „als flöge sie nach Haus“.
Stasiuk ist für die Verklärung des Rückständigen, für die vermeintliche Nostalgie, mit der er am Verfallenden trotzig festhänge, angegriffen worden. Besonders Richard Wagner, der − wie Herta Müller − die Diktatur und ihr Nachleben in den Gewaltstrukturen der ländlichen Welt des Postkommunismus gut kennt, wirft ihm unzulässige Idyllisierung vor.[31] Diese Kritik ist so berechtigt wie ein anderer Gedanke: dass die von Jahrhundertverbrechen gezeichnete und − anders als in Westeuropa − noch nicht restlos überbaute und verarbeitete mitteleuropäische Unheilslandschaft für sich und an sich daliegen darf als das „erschöpfte Herz der Epoche“ (Serhij Zhadan). Eine Epoche, die uns Zeitgenossen bald so fern und unbegreiflich sein wird wie das untergegangene Reich Nebukadnezars.
Die Erforschung der vergessenen Provinzen im Osten Europas begann bereits in den frühen 1980er Jahren im Umkreis der von Milan Kundera entfachten Mitteleuropa-Debatte. Eine Imaginäre Reise durch die verschwundene Welt Ostgaliziens und der Bukowina führte den österreichischen Journalisten Martin Pollack auf dem Streckennetz der k.u.k.-Eisenbahnen von Tarnów bis nach Czernowitz, einmal quer durch „Halb-Asien“, eine Landschaft, die in der Literatur großer und kleiner Autoren fortlebt und Pollacks Buch zu einem Quellenwerk machte. Ein Schlüsseltext der Wiederaneignung des Raums ist Karl Schlögels Essay Die Mitte liegt ostwärts. Die Deutschen, der verlorene Osten und Mitteleuropa, der 1986 die historischen Metropolen und Landschaften sichtbar machte, die der „Ostblock“ ausgelöscht hatte.[32]
Seit Mitte der 1990er Jahre und besonders in den Jahren vor der Osterweiterung der Europäischen Union haben diese Texte nicht nur an Aktualität gewonnen, sondern auch zahlreiche weitere Explorationen inspiriert. Das Kartenlesen, das Studium historischer Atlanten, das Reisen in Zügen (ob virtuell im alten, einst zwischen Danzig und Varna verkehrenden Potyah 76 oder ganz real im Literaturexpress Europa 2000[33]) haben dem Genre der literarischen Reisereportage zu einer mitunter inflationären Produktivität verholfen. Internationale, von Kulturstiftungen unterstützte Buch- und Veranstaltungsprojekte nehmen sich der historischen und imaginären Beziehungen zwischen Gegenden an, deren Vergangenheit sich im Dunkel des Unwissens verliert und deren Zukunft mit der EU-Erweiterung in Gefahr gerät.[34]
Es war Andrzej Stasiuk, der am eindringlichsten vor den negativen Folgen der EU-Erweiterung für die Länder jenseits der neuen europäischen Ostgrenze warnte. Die neuen Grenzen haben sich nach Osten und nach Südosten verschoben und frühere Verbindungen gekappt. Das „Europa der Ränder“ sieht heute anders aus als noch 1989. Für das produktive Potential, das an den neuen Rändern sichtbar wird, stehen nicht zufällig zwei polnische Verlage, die zu kulturellen Institutionen geworden sind: Pogranicze im nordöstlichen und Czarne im südöstlichen Polen.[35]
Was in der Geschichtswissenschaft seit Anfang der 1990er Jahre „spatial turn“ heißt, nimmt hier die Form einer politisch-literarischen „Heimatkunde“ an, einer oftmals politisch motivierten regionalen Spurenlese. Ihre Differenzierungen unterlaufen die herkömmlichen Definitionen von Ost und West; in den Koordinaten von Peripherie und Zentrum, Partikularem und Universalem verlieren pauschale Zuschreibungen wie „osteuropäisch“ ihren Sinn.
Die Metamorphosen Mitteleuropas
Mit der topographischen oder geopoetischen Wende vollzieht sich der Abschied von einer Literatur, die sich mit Schicksal und Charakter, mit der Entwicklung des Individuums und der Tragödie seiner Zerstörung befasst hatte.
Diente die versehrte Stadtlandschaft Ostberlins in Péter Nádas’ Buch der Erinnerung als Kulisse für ein Persönlichkeitsdrama, so liefert sich bei Stasiuk die Landschaft selbst dem poetisch-spekulativen Instrumentarium aus. Auffällig ist, dass die Menschen, die einem in Stasiuks Reisegeschichten begegnen, stumm bleiben. Sie bewegen sich durchs Bild, sitzen in Lastwagenkabinen am Straßenrand oder kauern neben ihren Kiosken irgendwo in brütender Hitze; von Ferne unterscheiden sich ihre Rücken kaum von denen der Kühe, die ein Stück weiter auf der Wiese grasen. Sie kommen aus der Zeitlosigkeit und bleiben als Statisten hinter dem Durchreisenden darin zurück. In der boomenden Wirtschaftsregion Westrumäniens sind sie Sinnbild für die rasant ungleichen Geschwindigkeiten der Modernisierung. Zugleich verkörpern sie das auch von einem Reisenden wie Stephan Wackwitz formulierte Gefühl, das einen schon östlich von Wien anwehen kann: die Unbestimmtheit des Raums, der gewissermaßen zur Steppe hin offen ist.[36] Der Eindruck, dass die Geschichte von West nach Ost irgendwie abnimmt und langsam übergeht in die regungslose asiatische Ewigkeit.[37]
Offenbar brauchte es die ungarischen Autoren, um die reglosen Gestalten der Stasiuk-Welt, die sich zwischen Theiß-Tiefebene und den Wäldern Transsylvaniens erstreckt, zum Sprechen zu bringen. Diese Gestalten finden sich auch in den Romanen von Ádám Bodor, László Krasznahorkai oder Attila Bartis. Und auch László Darvasi, dessen Geschichten an den Schauplätzen spielen, die Stasiuk durchquert, schreibt vom Reisen.[38] In einem Planwagen, auf den eine blaue Träne aufgemalt ist, fahren fünf „Künstler des Weinens“ durch das von Kriegen und Epidemien, Pogromen und Aufständen heimgesuchte Mitteleuropa des 16. und 17. Jahrhunderts. Sie sind überall zur Stelle, wo die Menschen von Unglück und Gewalt heimgesucht werden. Die Welt, in der die „Tränengaukler“ unterwegs sind, reicht von Polen bis Siebenbürgen, von Belgrad bis Venedig, von Wien bis Szeged. Das Universum menschlicher Hoffnungen, Qualen, Ungerechtigkeiten, unbeschreiblicher Grausamkeiten und zutiefst anrührender Gesten, das dieses Buch in seinen Hunderten Episoden durchquert, berührt auf einzigartige Weise.
Die Kunst des Autors besteht hier nicht im Ausmalen historischer Panoramen, sondern in der Beschränkung auf die existentielle Wahrheit seiner Figuren, die allesamt unsere Zeitgenossen sind. Als das Buch entstand, war Szeged, wo Darvasi damals lebte, ein von Kriminalität heimgesuchter Ort, Umschlagplatz von Waffenschmugglern, die Arkans serbische „Tiger“ und andere paramilitärische Banden, die in Bosnien mordeten, mit Nachschub versorgten.
Im Frühjahr 1999, nach der Beendigung seines Romans, kehrte Darvasi zur Kurzprosa zurück. Unter dem Eindruck der Vertreibungen im Kosovo und der Bombardierung Serbiens durch die NATO schrieb er den Zyklus Eine Frau besorgen. Das Buch spielt zur Zeit des Bosnienkrieges an imaginären Schauplätzen und schildert einen Zustand von Anomie, von totaler Verrohung und Gesetzlosigkeit. Es ist das einzige Buch, worin er direkt auf diesen Krieg reagierte, der an seinen früheren Büchern mitgeschrieben hat.
„Über Mitteleuropa schwebt der Geruch von aufgebrühtem Kohl und schalem Bier, man kann den maroden Duft überreifer Melonen riechen.“[39] So ist die Welt der Darvasi-Geschichten. Hier herrschen Provinzialität, Aberglauben, Angst und bodenlose Traurigkeit. Eine Figur, die in mehreren Erzählungen des Traurigsten Orchesters der Welt auftaucht, trägt den Namen Kopf. Die Begriffsstutzigkeit des jungen Mannes gleichen Namens ist die eines Kindes in einer ebenso riesigen wie undurchschaubaren Welt. „Man muss nicht alles wissen“, erklärt der Baron Demeter Absolon in den Tränengauklern − und in diesem Satz spricht sich nicht nur die Einsicht in die unbegreiflichen Rätsel des Daseins aus, sondern auch das Achselzucken desjenigen, der in den Weltlauf ohnehin nicht eingreifen kann, weil immer schon an anderer Stelle für ihn entschieden wurde. „Man fragt sich, welcher deutschsprachige Autor es ihm auch nur annähernd gleichtun könnte“, schrieb Christoph Bartmann in seiner Rezension des Erzählbands Das traurigste Orchester der Welt.
Darvasi, der sich als Schüler von Mészöly und Bodor, von Kafka und Borges bezeichnet, gilt als einer der originellsten europäischen Schriftsteller seiner Generation − und als fast unverkäuflich. Dasselbe trifft auf seinen Altersgenossen Jáchym Topol zu. Möglicherweise sind ausgerechnet ihre Fähigkeiten, den Wirren der postkommunistischen Gegenwart adäquaten Ausdruck zu verleihen und die Verklärung Mitteleuropas zu unterlaufen, ihr größter Nachteil.
Es ist gewiss kein Zufall, dass der größte Bucherfolg eines osteuropäischen Autors nach der Wende sich ausgerechnet einem Werk verdankte, das ein verkitschtes Bild von Mitteleuropa gemalt hat: Die Glut von Sándor Márai. Es ist die Fiktion einer Welt, über der „noch milde die Abendsonne Habsburgs geleuchtet hat“, wie Karl- Markus Gauß schreibt, der Márai gegen seine Liebhaber verteidigt.[40] Gauß weist darauf hin, dass dieser großartige Autor, der jährlich zwei Romane veröffentlichte, Werke von sehr ungleicher Qualität geschrieben habe und dass der internationale Markt − die Entdeckung Márais ging vom italienischen Verlag Adelphi aus, der sich auch die Weltrechte sicherte − sich zunächst der eher trivialen Bücher Márais angenommen habe. Im Fahrwasser des Millionenerfolgs der Glut werden inzwischen die unterschiedlichsten ungarischen Autoren der Zwischenkriegszeit wie Antal Szerb, Dezső Kosztolányi und Ernő Szép, die „Großen Eleganten“, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung sie kürzlich titulierte, mit Erfolg wieder aufgelegt.
Die Gegenwart eines neuen Krieges
„Europa stirbt in Sarajevo“, schrieb der Zagreber Verleger Nenad Popović auf eine Tafel, die er im Februar 1993 während einer Diskussion im Berliner Literaturhaus vor sich auf den Tisch stellte. Popović, der seit Beginn des Krieges für Journalisten, Lektoren und Verleger in Frankreich, Italien, Deutschland zum unersetzlichen Ratgeber und Vermittler wurde, hatte den bosnischen Schriftsteller Dževad Karahasan aus der belagerten Stadt Sarajevo gerettet und dessen Tagebuch der Aussiedlung (1993) verlegt, ein frühes literarisches Dokument aus dem Krieg. Er entdeckte Miljenko Jergović, den heute international bekanntesten bosnisch-kroatischen Autor seiner Generation. Sarajevo Marlboro, Kurzgeschichten aus der belagerten Stadt, stand damals neben Semezdin Mehmedinovićs schmalem Kurzprosaband Sarajevo Blues.[41] Bora Ćosićs Tagebuch des Apatriden, Dubravka Ugrešićs My American Fictionary und ihr Pamphlet Kultur der Lüge, Slavenka Drakulićs Göttlicher Hunger (dt. Das Liebesopfer) − die von Popović verlegten Bücher reagierten unmittelbar auf das Grauen des entfesselten ethnischen Hasses, der Vertreibungen und Vergewaltigungen − und auf die bewusst betriebene Zerstörung der serbokroatischen Sprache, auf Emigration, Exil, Heimatlosigkeit. Die hier genannten Autoren leben heute in sämtliche Himmelsrichtungen zerstreut: in Wien, Graz, Stockholm, Amsterdam, Berlin oder in Toronto wie David Albahari, ein serbisch-jüdischer Autor aus Belgrad.[42] Seit einigen Jahren macht ein bosnischer Autor aus Chicago international Furore: Aleksandar Hemon, der in den USA schon als Nachfolger Nabokovs gefeiert wird.[43]
Die fragwürdige Katastrophenkonjunktur hat immerhin bewirkt, dass die originellsten, bis dahin völlig unbekannten Stimmen aus dem früheren Jugoslawien endlich bei uns Gehör fanden. Auch hier lichtete sich der Nebel: nicht länger die blutrünstigen Bücher von Miodrag Bulatović − statt dessen die der russischen Avantgarde entsprungenen, kritischen und postmodernen Texte Dubravka Ugrešićs oder die von Ivo Andrić herkommende epische Erzählkunst Dževad Karahasans. Danilo Kiš, der 1989 in Paris gestorben war, wurde kontinuierlich weiter editiert. Bora Ćosićs lustiges und schreckliches Buch Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution von 1968, ein subversiver Klassiker der jugoslawischen Literatur, kam 1994 in deutscher Übersetzung auf den Markt. Europäische Schriftsteller von Rang waren zu entdecken.
Engagierte Intellektuelle kehrten auf die Bühne zurück, und sie kamen − zumeist − aus Osteuropa. Europa im Krieg hieß eine Artikelserie, 1991/92 von der tageszeitung initiiert. Nicht zufällig äußerten sich frühere Dissidenten, Anti-Politiker, Teilnehmer der Mitteleuropa-Debatte der 1980er Jahre wie György Konrád, István Eörsi, Richard Wagner, aber auch Herta Müller und Slavenka Drakulić, Lothar Baier und viele andere.[44] Die verspätete Karriere etwa eines Bora Ćosić (Jahrgang 1932) verdankte sich auch der Bereitschaft deutschsprachiger Zeitschriften, Zeitungen und Buchverlage, südosteuropäische Schriftsteller als Chronisten und Kommentatoren ernst zu nehmen.
„Der Schauplatz Sarajevo behindert den Verkauf“, klagte der Vertriebschef eines deutschen Konzernverlages Mitte der 1990er Jahre. Kein Wunder also, dass sich zunächst eher kleinere Häuser, vor allem in Österreich, der jungen Autoren aus den Ländern des ehemaligen Jugoslawien annahmen. Verlegerisches und humanitäres, politisches und persönliches Engagement waren kaum zu trennen. Beispielhaft dafür Lojze Wieser, dessen 1987 gegründeter Klagenfurter Verlag von Anfang an zugleich auf Jugoslawien und auf die Wiederentdeckung vergessener mitteleuropäischer Autoren ausgerichtet war.
Die Unvergänglichkeit der Zone
Zwanzig Jahre nach der Wende tritt Jáchym Topol die Flucht aus Osteuropa an. Nach zwei weiteren Romanen, Nachtarbeit und Zirkuszone, die vom Einmarsch der Armeen des Warschauer Pakts, der Vertreibung der Deutschen aus dem Sudetenland und vom Ausbruch des Dritten Weltkriegs an der bayrisch-tschechoslowakischen Grenze erzählen, will er − was sonst!? − ein Buch über Grönland schreiben. Ein Umweg führt zunächst über Belarus. Wieder Massengräber. Doch dann, endlich. Ein Orkan auf der nördlichen Insel, mitten in der Einöde, treibt ihn in einen Unterschlupf − es ist ein Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg, amerikanische Namen sind in die Wände geritzt, deutsche auch. Patronenhülsen liegen auf der Erde, unversehrt, wie gestern abgefeuert, auf dem eisigen Boden Grönlands rosten sie nicht. Es gibt für Jáchym Topol kein Entkommen aus der europäischen Geschichte.
Inzwischen, heute, haben die Kinder der Transformationszeit, die Kinder der Topol-Generation, die Bühne betreten. Vor allem in Polen und in der Ukraine schreiben Autoren in einer akuten, mit Gegenwart und Jargon aufgeladenen Sprache, die vor zwanzig Jahren noch nicht existierte.[45] Sie müssen aus dem Schatten der Vergangenheit nicht heraustreten, denn ihr Rucksack ist leichter oder sie haben ihn weggeworfen. Ihre Communities sind jung, sie bewegen sich in einer Gegenwart, die nicht mehr − so schrieb Andrzej Stasiuk, Topols polnischer Altersgenosse − an der Vergangenheit gemessen wird. Nicht die Massengräber, sondern die Halden von Bierflaschen an den Bushaltestellen irgendwo in einer vom Konsum ansonsten abgekoppelten Provinz sind ihre Schauplätze; nicht die an ihren Kriegstraumata leidenden Eltern, sondern junge Werbetexter, Speditionsfirmenbesitzer, Clubbetreiber, Waffenschieber oder Arbeitslose sind die Protagonisten.
Die jüngsten Autoren − und das gilt besonders für jene, die als Kinder oder Jugendliche aus Jugoslawien geflohen sind und heute in Wien, Berlin, London oder wieder in Zagreb leben − bewegen sich in einer transnationalen Sphäre, kommunizieren in einer neuen Sprache. Sie sind im Internet zu Hause, kommen aus der Musikszene, sind von Filmen und Medien beeinflusst, manche lesen Foucault und Deleuze, kennen die Codes der postkommunistischen Gesellschaft oder knüpfen an fernere Traditionen an. Serhij Zhadan zum Beispiel, 35 Jahre alt, Lyriker aus Charkiv im Osten der Ukraine, postproletarischer Punk, der sich nicht für Bruno Schulz, sondern für die ukrainischen Futuristen, die erschossene Renaissance interessiert, schreibt über den Sowjetanarchisten Nestor Machno und stellt sich einem Erbe, das uns vermutlich länger und dramatischer beschäftigen wird als das in diesem Aufsatz abgehandelte östliche Mitteleuropa. Es ist die Zerfallsmasse des sowjetischen Imperiums, die heute stärker und unheilvoller strahlt als vor zwanzig Jahren.
Die Vernetzung und der Austausch junger ostmittel- und westeuropäischer Autoren untereinander sind heute vermutlich so intensiv wie zu Zeiten der Avantgarde ihrer Urgroßeltern vor und nach dem Ersten Weltkrieg.
War die Wahrnehmung der europäischen Wende anfangs sehr stark von russischen Themen dominiert, von russischen Autoren begleitet, so änderte sich dies mit einer zunehmend stärkeren Hinwendung zu den „kleineren“ Literaturen Mittel- und Osteuropas. Russland ist bei uns derzeit vergleichsweise wenig mit neuen markanten jungen literarischen Stimmen präsent. Aber das könnte sich bald ändern.
Ein Massengrab hat kürzlich auch der rumänische Schriftsteller Filip Florian zum Ausgangspunkt eines Romans gemacht. Doch nicht die Aufarbeitung einer Vergangenheit ist Thema, sondern ebenfalls die Gegenwart, in der die Vergangenheit nur noch als Gerücht fortlebt. Eine Gegenwart freilich, die im Unterschied zu Polen von Korruption, Lüge und der Fortexistenz der alten Nomenklatur durchsetzt ist. Insofern ist die Vergangenheit nie wirklich vergangen. Neu aber ist, dass Florian sich „der Pflicht des historischen Berichterstatters entzieht“, wie der Kritiker Lothar Müller bemerkte.[46]
Und dies gilt, bei allen Unterschieden, doch für alle Autoren der jüngsten Generation: Anders als ihre Väter und Großväter wollen sie sich keiner „Mission“ mehr unterwerfen. Sie schreiben gegen eine chaotische Wirklichkeit an, sind mit dem Entziffern der immer neuen Codes befasst, die sich übereinander legen, mit der mahlstromartigen Veränderung und Zerstörung ihrer alten Lebensroutinen und Räume.
[1] Danilo Kiš: Mitteleuropäische Variationen, in: Ilma Rakusa (Hg.): Homo poeticus. Gespräche und Essays. München 1994, S. 65.
[2] Hildegard Grosche, 1913 in Rékas, in einem Winkel des untergehenden Habsburgerreiches geboren, gründete Ende der 1940er Jahre in Stuttgart den Steingrüben Verlag. Anfang der 1960er Jahre ging er im Goverts Verlag auf. Sie war die erste deutsche Verlegerin von William Faulkner und Tibor Déry, von Wolfgang Koeppen und Peter Härtling. Seit den 1970er Jahren widmete sie sich ganz dem Übersetzen: István Örkény, Miklos Mészöly, vor allem Péter Nádas gehörten zu ihren Autoren. Sie starb hochbetagt im Dezember 2006.
[3] Péter Nádas, 1942 in Budapest geboren, nannte seine „jüdische Abstammung und die spätere Taufe“, seine „eigenartige soziale Herkunft − mütterlicherseits aus einer armen Arbeiterfamilie, väterlicherseits aus einer wohlhabenden Bürgerfamilie“ – als Grund für die Widersprüchlichkeit seiner Erfahrungen. Das Budapester jüdisch geprägte Bürgertum sprach Deutsch. Seine Mutter war 1955 an Krebs gestorben, sein Vater, nach der kommunistischen Machtergreifung 1948 höherer Parteifunktionär, nahm sich nach dem gescheiterten Aufstand das Leben.
[4] Péter Nádas: Heimkehr, in: Heimkehr. Essays. Reinbek 1999, S. 33.
[5] Ders.: Buch der Erinnerung. Berlin 1991, S. 804.
[6] Vgl. das Interview mit Christina Links und Katharina Raabe: „Literatur, von der wir geträumt hatten“, in diesem Band, S. 251–263. – Zur Situation der DDR-Verlage während und nach der Wende Christoph Links: Das Schicksal der DDR-Verlage. Die Privatisierung und ihre Folgen. Berlin 2009. − Zu den nicht gar so wenigen Ausnahmen zählte Barbara Antkowiak (1933–2005), die seit den frühen 1990er Jahren, kriegsbedingt, eine vielbeschäftigte Übersetzerin aus den Sprachen des früheren Jugoslawien war. Mit Jugoslawien hörte das Serbokroatische auf zu existieren und vervielfachte sich in die neuen Landessprachen Bosnisch, Kroatisch, Serbisch. Barbara Antkowiak übersetzte u.a. Aleksandar Tišma, Bora Ćosić, Dubravka Ugrešić, Vladimir Arsenijević, Nenad Veličković, Bogdan Bogdanović, Slavenka Drakulić, Miljenko Jergović sowie zahllose Artikel für Zeitungen und Zeitschriften.
[7] Tatjana Tolstaja: Rendezvous mit einem Vogel. Übersetzt von Ilse Tschörtner. Berlin/DDR 1989. – Dies.: Stelldichein mit einem Vogel. Übersetzt von Sylvia List. Frankfurt/Main 1989.
[8] György Konrád (1933 in Debrecen geboren), dessen erste Bücher (Der Besucher, 1973; Der Stadtgründer, 1975) bei Luchterhand und bei List erschienen waren, ist seit 1978 Autor des Suhrkamp Verlags. Konrád war seit Ende der 1970er Jahre der wohl bekannteste ungarische Schriftsteller seiner Generation im Westen. Er beteiligte sich an der von Milan Kundera ausgelösten Mitteleuropa-Debatte: Antipolitik. Mitteleuropäische Meditationen. Übersetzt von Hans-Henning Paetzke. Frankfurt/Main 1985. Auf seinen Gastaufenthalt im Rahmen des DAAD-Künstlerprogramms in Berlin 1979 folgten die Aufenthalte weiterer ungarischer Autoren, deren erste Bücher danach in deutschsprachigen Verlagen erschienen: 1980 Péter Esterházy, 1981 Péter Nádas, 1983 István Eörsi, 1984 György Dalos. Den Anfang hatte 1974/75 Miklos Mészöly gemacht.
[9] Volk & Welt, in den 1990er Jahren auf einen Bruchteil seiner früheren Größe zusammengeschrumpft und lange Zeit in ungesicherten Besitzverhältnissen, produzierte seit 1992 ein neues, vielbeachtetes deutsches und osteuropäisches Programm. Thomas Brussigs satirischer Wenderoman Helden wie wir traf 1995 den Nerv vor allem der ostdeutschen Leser und wurde zum Bestseller. Um die Transformationszeit in den ehemals sozialistischen Ländern aus ostdeutscher Perspektive zu begleiten, war die Fortführung der russischen und ostmitteleuropäischen Editionsarbeit unerlässlich. Trotz des Bestsellererfolgs mit Brussig hatte der Verlag keine Zukunft − die osteuropäischen Titel, im Feuilleton stark beachtet, verkauften sich nicht. Im Jahr 2000 wurde Volk & Welt mit dem Luchterhand Literaturverlag zusammengelegt – die Konkurrenten von 1990 hatten seit 1995 denselben Besitzer – und kurz darauf gemeinsam an Random House verkauft. Die wichtigsten osteuropäischen Autoren − Mircea Cărtărescu, Jáchym Topol, Viktor Pelevin, Ljudmila Ulickaja − wurden später in anderen Häusern erfolgreich.
[10] Eva Haldimann in Genf schrieb alle Vierteljahre für die Neue Zürcher Zeitung einen Überblicksartikel über die neuen Bücher und Autoren in Ungarn. Schon 1977 hatte sie auf Imre Kertész’ Roman Sorstalanság hingewiesen. Sie war neben György Dalos die wichtigste Gutachterin für Rowohlt Berlin. Oder die beiden jungen Slawisten Georg Witte und Sabine Hänsgen, die sich Anfang der 1980er Jahre in die Szene der Moskauer Konzeptualisten eingeschleust hatten, mit Texten im Gepäck zurückkamen oder sich regelmäßig als Kuriere betätigten. Die Texte von Dmitrij Prigov, Lev Rubinštejn, Vladimir Sorokin u.a. erschienen erstmals 1987 im Schreibheft, in einem von den beiden Slawisten zusammengestellten Dossier; sie fertigten auch die Übersetzungen an und veröffentlichten sie unter dem Pseudonym Günter Hirt und Sascha Wonders.
[11] Peter Urban, 1966 bis 1969 im Suhrkamp Verlag Experte für die slawischen Literaturen, hatte für die von Hans Magnus Enzensberger mitbegründete edition suhrkamp jugoslawische Autoren wie Danilo Kiš, Bora Ćosić, Mirko Kovač, Miloš Crnjanski und tschechische wie Richard Weiner, Ivan Wernisch akquiriert und übersetzt, die zum Teil erst nach Jahrzehnten wiederentdeckt wurden. Vor allem die Rezeption der serbischen Moderne brach mit Urbans Ausscheiden aus dem Verlag ab. Bei Rowohlt edierte er Chlebnikov (1970), bei Diogenes jahrzehntelang das Werk von Čechov. In der 1988 gegründeten Friedenauer Presse sorgt er für Ausgrabungen und Neuübersetzungen, u.a. von Babel, Dobyčin, Puškin, Turgenev, Lermontov.
[12] Eine Erfolgsgeschichte der Nachwendezeit ist der Verkauf deutscher Verlagsrechte weltweit, der sich zwischen 1995 und 2007 mehr als verdoppelt hat. Das Wachstum wird vor allem von den Märkten in Osteuropa getragen. Die EU-Osterweiterung hat die Handelsbeziehungen intensiviert. 2007 wurden 37 Prozent aller Lizenzen an Verlage in Osteuropa vergeben; Buch und Buchhandel in Zahlen. Frankfurt/Main 2008, S. 8, 82.
[13] Jáchym Topol an Katharina Raabe, 7.2.2009.
[14] Jáchym Topol: Die Schwester. Roman. Aus dem Tschechischen von Eva Profousová und Beate Smandek. Berlin 1998, S. 19.
[15] Kurt Oesterle: Neues Leben nach dem Großen Bruder, in: FAZ, 20./21.2.1999.
[16] Dies hat vermutlich auch mit seiner Herkunft zu tun. Topol war im Dissidentenmilieu groß geworden, die Familie gehörte zur Prager Bohème. Sein Vater Josef Topol galt neben Václav Havel als der wichtigste Dramatiker der Tschechoslowakei. Sein jüngerer Bruder Filip war bereits als Teenager ein bekannter Rockmusiker. Jáchym hatte früh die Charta 77 unterzeichnet und gab in den 1980er Jahren das inoffizielle Literaturmagazin Revolver Revue heraus. Er schrieb Gedichte und Songtexte, hatte kurze Zeit seine eigene Band, versuchte dem Militärdienst zu entkommen, indem er sich in die Psychiatrie einweisen ließ, und arbeitete danach, weil er nicht studieren durfte, als Heizer, Lagerarbeiter etc. Nach der Wende war er einer der Mitbegründer der Wochenzeitung Respekt und jahrelang im Osten unterwegs, bis in den Iran und nach Zentralasien. Als Auslandskorrespondent seiner Zeitung besuchte er Krisengebiete in der ganzen Welt. Nebenher begann er ein Ethnologiestudium. Er hatte zwei Gedichtbände und Prosa veröffentlicht, bevor er sich mit der Schwester in die Literaturgeschichte einschrieb. Vgl. Jáchym Topol: Von der Irrenanstalt nach Europa, in diesem Band, S. 195–203.
[17] Juri Andruchowytsch: Postscriptum zur deutschen Ausgabe der Moscoviada. Frankfurt/Main 2006, S. 221.
[18] Ebd., S. 222.
[19] Im Verlag L’Age d’Homme, den ein Freund Tišmas, Vladimir Dimitrijević, 1954 aus Jugoslawien geflüchtet, 1966 in Lausanne gegründet hatte.
[20] Ulrich Baron: Glut und Asche, in: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 21.6.1991.
[21] Andreas Breitenstein: Das verlorene Jahrhundert. Ein Gespräch mit dem serbischen Schriftsteller Aleksandar Tišma, in: Neue Zürcher Zeitung, 5.5.1997.
[22] Mirjana Wittmann: Wenn Menschen Dinge tun, die ihren Interessen zuwiderlaufen. Ein Gespräch mit Aleksandar Tišma, in: Frankfurter Rundschau, 29.3.1996.
[23] Breitenstein, Das verlorene Jahrhundert [Fn. 21].
[24] Die Originalausgabe Sorstalanság (Schicksallosigkeit) kam 1975 in Ungarn heraus. Eine erste deutsche Übersetzung von Jörg Buschmann war 1990 bei Rütten & Loening in Ostberlin unter dem Titel Mensch ohne Schicksal erschienen. Das Buch war in den Wirren des Umbruchs jedoch untergegangen. Die 1996 bei Rowohlt Berlin erschienene neue Übersetzung stammt von Christina Viragh.
[25] Paweł Huelle, Jahrgang 1957, und Stefan Chwin, Jahrgang 1949, wurden von ihrer späteren Übersetzerin Renate Schmidgall entdeckt. Huelles Debüt Weiser Dawidek erschien auf Deutsch 1990, es folgten die Erzählbände Schnecken, Pfützen, Regen (1992), Silberregen (1996), Mercedes Benz (2003), Castorp (2005), die bei den deutschen Lesern so gut ankamen wie Stefan Chwins Tod in Danzig (1997) oder Der goldene Pelikan (2005).
[26] Vor allem in den Romanen Ur und andere Zeiten (dt. 2000) und Taghaus, Nachthaus (dt. 2001), übersetzt von Esther Kinsky.
[27] Deutsch unter dem Titel Dreckskerl (2007), übersetzt von Gabriele Leupold und Dorota Stroińska.
[28] Vgl. den in Lemberg und in den Karpaten spielenden Roman Zwölf Ringe und die Essays Das letzte Territorium. „Mittelöstliches Memento“ lautet der Titel des ersten Teil eines gemeinsam mit Andrzej Stasiuk verfassten Doppelessays Mein Europa, das im polnischen Original zur Jahrtausendwende, in deutscher Übersetzung unmittelbar vor der EU-Osterwei-terung im Mai 2004 erschien (s. Fn. 29).
[29] Juri Andruchowytsch, Andrzej Stasiuk: Mein Europa. Zwei Essays über das sogenannte Mitteleuropa. Übersetzt von Sofia Onufriv und Martin Pollack. Frankfurt/Main 2004, S. 43.
[30] Die Originalausgabe unter dem Titel Dukla war bereits 1997 erschienen. – Thomas Steinfeld: Ich kenne den Weg zum durchsichtigsten Ort der Welt. Wenn der Himmel durch zu große Leere schreckt, suchen wir nach Zeichen auf der Erde: Andrzej Stasiuk findet den Geist der Karpaten und gründet eine neue Hauptstadt der Literatur, in: FAZ, 17.10.2000.
[31] Richard Wagner: Die Auslagerung der Phantasie. Nah am Himmel erfüllt vom großen Geheimnis? Die Karpaten als Mythos und Ideologie, in: NZZ, 12.4.2006. – Iris Radisch: Das ganze All ist eine Bushaltestelle, in: Die Zeit, 14/2006.
[32] Martin Pollack: Nach Galizien. Wien 1984; Frankfurt/Main 2001. – Karl Schlögels Essay wurde wiederabgedruckt in: Die Mitte liegt ostwärts. Europa im Übergang. München 2002.
[33] Potyah 76 ist der Titel einer ukrainischen Literaturzeitschrift, die inzwischen auch gedruckt erscheint; <www.potyah76.org.ua>. − Im Milleniumsjahr veranstaltete die Literaturwerkstatt Berlin eine Zugreise mit 100 Autoren aus allen europäischen Ländern, die von Lissabon über Minsk und Warschau zum Zielbahnhof Berlin-Friedrichstraße führte.
[34] Die S. Fischer-Stiftung regte an und förderte: Martin Pollack (Hg.): Sarmatische Landschaften. Nachrichten aus Litauen, Belarus, der Ukraine, Polen und Deutschland. Frankfurt/Main 2005 (gleichzeitig in polnischer Sprache bei Czarne/Wołowiec). – Richard Swartz (Hg.): Der Andere nebenan. Eine Anthologie aus dem Südosten Europas. Frankfurt/Main 2007 (das Buch erscheint in allen Sprachen der beteiligten Balkanländer). – Katharina Raabe, Monika Sznajderman (Hg.): Last & Lost. Ein Atlas des verschwindenden Europas. Frankfurt/Main 2006 (gleichzeitig in polnischer Sprache bei Czarne/Wołowiec).
[35] Der Verlag Pogranicze, von dem Publizisten und Theatermacher Krzysztof Czyżewski 1993 als Teil der gleichnamigen Stiftung in Sejny, einem früheren Schtetl an der polnisch-litauisch-belarussischen Grenze gegründet, veröffentlichte 2000 den Essay Nachbarn von Jan Tomasz Gross, der die größte Debatte der Nachkriegszeit auslöste über die Mittäterschaft der Polen bei der Ermordung der polnischen Juden. Der Verlag Czarne, von Andrzej Stasiuk und Monika Sznajderman vor zwölf Jahren gegründet, trägt den Namen eines verschwundenen Lemkendorfs in Südpolen. Beide Verlage widmen sich den sogenannten „kleinen Literaturen“ Mittel- und Osteuropas. Sie befassen sich mit jüdischer Geschichte und veranstalten grenzenüberschreitende Buch- und Kulturfestivals. Mit ihrer Entdeckung mitteleuropäischer Autoren der Zwischenkriegszeit und des Exils wie Jakub Deml oder Zygmunt Haupt, mit ihrem Engagement für intensivere Beziehungen zu Belarus und der Ukraine setzen sie die Arbeit der Kultura in Paris fort.
[36] Stephan Wackwitz: Osterweiterung. Zwölf Reisen. Frankfurt/Main 2008, S. 10f.
[37] So ein tschechischer Autor unter dem Pseudonym Josef K. in: „Mitteleuropa: Geschichte und Anekdote“ in der ersten Nummer der deutschen Ausgabe von Lettre International, 1/1988, S. 16–24, hier S. 20. Dieser Essay enthält eine ganze Theorie der großen mitteleuropäischen Literatur, die aus dem Untergang einer Zivilisation geboren wurde und vom Gefühl eines unersetzlichen Verlusts durchweht war. Er nennt Horváth, Roth, Kafka, Musil, Schulz. Vor allem die Juden seien sich bewusst gewesen, „dass eine Zeit der Wirren und großen Leiden anbrach“. Alle diese Autoren teilten den Sinn für die „zivile Absurdität der räumlichen Einengung Mitteleuropas“, wo es nie den Citoyen gab, der sich für die große Geschichte seines Landes habe zuständig fühlen können: stattdessen die kleinen Leute, Angestellte, Beamte in den zivilen und militärischen Bürokratien, wie wir sie aus den Texten Kafkas und Hašeks kennen. Am Beispiel dieser Autoren entwickelt er den Gedanken, dass „die melancholische Groteske“ und die Form der Anekdote, der „Geschichten statt Geschichte“ auch „der Idealtypus der mitteleuropäischen Literatur“ seien. Wo der Bürgersinn fehlt, ist der Sinn für die grotesken Details des Lebens umso höher entwickelt.
[38] László Darvasi, 1962 in Szeged geboren, machte sich zunächst als Autor von Kurzprosa und Novellen einen Namen. In ihm lebte die ungarische Tradition des Feuilletons und der Groteske fort (Kosztolányi, Krúdy, Örkény); er ist aber auch ein geradezu bilderbuchhaftes Beispiel für den Befund des Josef K., dass die Melancholie und Erfahrung des Absurden die Anekdote hervorbringt, dass dies, nicht der Roman, die mitteleuropäische Form sei. Darvasi hat seinen ersten Roman Die Legende von den Tränengauklern aus einer Anekdote entwickelt, und man kann das Panorama dieses Buches als riesiges Patchwork solcher Anekdoten und Novellen bezeichnen.
[39] Josef K., Mitteleuropa [Fn. 37], S. 16.
[40] Karl-Markus Gauß: Ein Bürger im Exil. Die lange Abwesenheit des Sándor Márai, in: NZZ, 7.4.2001.
[41] Miljenko Jergović, 1966 in Sarajevo geboren, lebt seit 1993 in Zagreb. Sarajevo Marlboro, 1994 in Nenad Popovićs Verlag Durieux erschienen, wurde in mehrere Sprachen übersetzt. 1996 erschien die erste deutschsprachige Ausgabe bei Folio in Bozen, ein Verlag, der sich, wie Droschl in Klagenfurt und seit 1997 auch Zsolnay in Wien, für die Literatur aus dem ehemaligen Jugoslawien engagiert. Zwei weitere Bücher erschienen bei Folio; seit 2006 nimmt sich der Frankfurter Schöffling Verlag des Werkes von Jergović an. Nach den Romanen Buick Riviera (2002; dt. 2006) und Das Walnusshaus (2003; dt. 2008) erscheint im Frühjahr 2009 Sarajevo Marlboro in neuer Übersetzung. − Semezdin Mehmedinović, 1960 in Kisljak geboren, Lyriker, gründete 1992 die Zeitschrift Fantom Slobode (Das Phantom der Freiheit) und blieb mit seiner Familie in der belagerten Stadt. 1996 wanderte er in die USA aus, wo er heute lebt. Sarajevo Blues, von so unterschiedlichen Lesern wie Dubravka Ugrešić und Bora Ćosić gerühmt, von der Washington Post als bleibendes literarisches Dokument gewürdigt, erschien in Auszügen 1995 in der Sarajevo gewidmeten Ausgabe der Lettre International und 1999 im Hainholz-Verlag, Göttingen.
[42] Seine Romane, die im kanadischen Exil, vor dem Hintergrund des Zerfalls seines Landes, entstanden sind, handeln wie die Tišmas vom alten, im Zweiten Weltkrieg verwüsteten Jugoslawien, vor allem aber vom fortwährenden Antisemitismus (Mutterland, Götz und Meyer). Und sie sprechen von heute: von der Einsamkeit des Flüchtlings in einer indifferenten Umgebung (Langsamer Schneefall), von einer rätselhaften Verschwörung im Belgrad Ende der 1990er Jahre (Die Ohrfeige). Für viele Kritiker gehört der 1948 geborene Albahari heute zu den großen europäischen Gegenwartsautoren, sie entdecken den Schüler Kafkas, den Erzähler in jüdischer Tradition, der inzwischen Elemente des amerikanischen Romans aufnimmt.
[43] Aleksandar Hemon, 1964 in Sarajevo geboren, lebt seit 1992 in den USA. In seinem ersten Buch Die Sache mit Bruno (dt. 2000), das sich auf den Pfaden von Danilo Kišs Grabmal des Boris Dawidowitsch bewegt, zeigt sich Hemon als anekdotisch versierter, postmoderner Erzähler. Nach dem autobiographisch gefärbten Roman Nowhere Man (dt. 2002) liegt jetzt der vielschichtige Roman Lazarus (dt. 2009) vor, in dem die Geschichte eines ostjüdischen Einwanderers im Chicago des Jahres 1908 mit einer abenteuerlichen Reise durch das postkommunistische Osteuropa verknüpft wird.
[44] Europa im Krieg. Die Debatte über den Krieg im ehemaligen Jugoslawien. Frankfurt/Main 1992. − Konrád, Eörsi, Wagner u.a. hatten bereits erschreckend hellsichtige Beiträge im Kursbuch 102/Dezember 1990 (Mehr Europa) veröffentlicht, das wiederum an die legendäre, die ostmitteleuropäische Befindlichkeit beschreibende Ausgabe Die andere Hälfte Europas (Kursbuch 81/September 1985) anknüpfte. Die deutsche Lettre International hatte Schlüsseltexte zur Mitteleuropa-Debatte publiziert, dann Texte zu den Auflösungsprozessen in der Sowjetunion. Jetzt erschienen hier zentrale Beiträge von Autoren aus Ex-Jugoslawien (Drago Jančar, Bora Ćosić, Dubravka Ugrešić, Predrag Metvejević u.a.) − oftmals lange, bevor die Texte in Buchform herauskamen.
[45] Der Superstar der polnischen Szene, die 1982 geborene Dorota Masłowska, fegte 2005 mit ihrem poème en prose Die Reiherkönigin, einem Rap-Gesang in Endlos-Versen, alles hinweg, was die polnische Literatur bis dahin gekannt hatte. Ihr Debüt Wojna polsko-ruska pod flagą biało-czerwoną (2002; dt. 2004 Schneeweiß und Russenrot) war 2002 neben den Gedichten von Papst Johannes Paul II. das meistverkaufte Buch in Polen. Auch die deutsche Übersetzung von Olaf Kühl wurde ein Bestseller.
[46] Die Knochen und der Kaffeesatz, in: Süddeutsche Zeitung, 8.12.2008.
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