Vorwort
Anderer Blick auf die jüdische Geschichte Europas
Abstract in English
(Osteuropa 8-10/2008, S. 78)
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Editorial and Foreword
Volltext
Der vorliegende Band ist ein gemeinsames Projekt von Osteuropa und der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“. Die Stiftung wurde im Jahr 2000 auf Initiative der Bundesrepublik und der deutschen Wirtschaft gegründet, um Zahlungen an ehemalige Zwangsarbeiter und andere Opfer der nationalsozialistischen Diktatur zu leisten. Gleichzeitig hat sie den Auftrag, eine gegenwarts- und zukunftsbezogene Auseinandersetzung mit der Geschichte zu fördern. Im Hinblick auf die jüdische Geschichte hat dieser Auftrag eine besondere Dimension. Mit der Ermordung der europäischen Juden verfolgten die Nationalsozialisten das Ziel, auch die jüdische Geschichte und Kultur auszulöschen. Diese Vernichtungspolitik wirft bis heute ihren Schatten. Jüngst ergab eine Untersuchung deutscher Schulbücher, dass sie deutsch-jüdische Geschichte „defizitär, einseitig und dadurch auch verzerrend“ darstellen. Sie wird auf die Schoa reduziert. Über die 1700 Jahre jüdischen Lebens in Deutschland und seine Einflüsse auf Politik, Kultur und Gesellschaft erfahren die Schülerinnen und Schüler kaum etwas. Populärwissenschaftliche Darstellungen und Ausstellungen sind ähnlich defizitär. So wichtig es ist, die Geschichte des Zivilisationsbruchs der Schoa für jede Menschenbildung zu kennen, so unverzichtbar ist es, jüdische Geschichte als integralen Bestandteil der deutschen Geschichte zu vermitteln. Diesen Ansatz verfolgt die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ mit ihrem Leo Baeck Programm. Der vorliegende Band soll dazu anregen, diesen Ansatz auf die europäische Geschichte zu übertragen. Die Analyse der Impulse, welche aus der spezifisch jüdischen Erfahrung für die Entwicklung von Politik, Wissenschaft und Kultur ausgingen, soll zu einer transnationalen Geschichtsperspektive ermuntern und die gängigen Kategorien von Mehrheits- und Minderheitengesellschaft in Europa kritisch beleuchten. Dies bedeutet eine besondere Herausforderung. In der Bundesrepublik Deutschland war die Beschäftigung mit der jüdischen Geschichte lange reduziert auf die Gegenüberstellung von Opfern und Tätern. In Ostmittel- und Osteuropa hat das Bedürfnis nach nationaler Selbstbehauptung in den vergangenen Jahren wenig Raum für multiethnische Perspektiven gelassen. Neuere Entwicklungen weisen in eine andere Richtung. In Deutschland und in den östlichen Nachbarstaaten sind wissenschaftliche Lehrstühle, Museen, Gedenkstätten und andere Einrichtungen entstanden, die sich mit jüdischen Themen in ihren nationalen und europäischen Beziehungen beschäftigen. Ob diese Entwicklung einen Perspektivwechsel bedeutet, mit dem auch eine Wiederbelebung jüdischen Lebens einhergeht, oder ob es sich dabei um eine realitätsferne Romantisierung jüdischer Kultur handelt, diskutieren die Beiträge im vorliegenden Band.