Vom Obskurantismus zur Heiligkeit
„Ostjüdisches“ Denken bei Buber, Heschel, Levinas
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Abstract
Das Denken osteuropäischer Juden ist in der öffentlichen Wahrnehmung mit einem mystischen Schleier umgeben. Die drei Denker Martin Buber, Joshua Heschel und Emmanuel Levinas haben eine „ostjüdische“ Erfahrung, eine existenzphilosophische Ausbildung in Deutschland und die Zeitzeugenschaft des Massenmords an den europäischen Juden gemeinsam. Sie verbindet ihre universalistische, auf unmittelbare menschliche Verantwortung zielende Ethik. Deutlicher als bei Buber und Heschel verdanken wir Levinas eine Würdigung dessen, was man als „Ostjudentum“ bezeichnen könnte.
(Osteuropa 8-10/2008, S. 97110)
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From Obscurantism to Holiness
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Das Denken der osteuropäischen Juden ist in der öffentlichen Wahrnehmung nach wie vor von einem beinahe mystisch anmutenden Schleier umgeben. Zumal nach der systematischen Ermordung von mindestens drei Millionen polnischer Juden durch das nationalsozialistische Deutschland wird die Wahrnehmung dieser Kultur vom berechtigten Gefühl eines unwiederbringlichen Verlusts begleitet. Äußeres Zeichen dieser nicht näher qualifizierten, oftmals an den Rand des Kitsches grenzenden Wehmut ist die bei jeder passenden oder auch nicht passenden Gelegenheit gespielte Klezmermusik. „Ostjudentum“ – das ist eine Kultur, die heute nach wie vor als eine Mischung von nostalgisch wahrgenommenem Leben in der Armut des „Schtetl“ und nicht immer klaren Sprüchen von Wunderrabbis wahrgenommen wird. Dass diese Verengung des Blicks der Realität dieser vernichteten Kultur nicht im geringsten gerecht wird, dass mindestens ebenso viele polnische oder auch russische und rumänische Juden in großen Städten lebten, dass die Kultur der osteuropäischen Juden neben den Wunderrabbis, die im allgemeinen dem Chassidismus zuzurechnen waren, auch über die intellektuell anspruchsvolle Philosophie der Mitnagdim, jener vor allem im Wilna beheimateten Schule einer rationalen, ja geradezu rationalistischen Auslegung der talmudischen Schriften verfügte, wird dabei ebenso übersehen wie der Umstand, dass die Juden Osteuropas sich in Teilen dem Reformjudentum angeschlossen hatten, dass sie sozialistische Bewegungen mit Massenanhang hervorbrachten – von einem überdurchschnittlich starken Engagement bei den Bolschewiki bis zur Gründung einer jiddischsprachigen, sozialistischen und kulturautonomistisch operierenden Gewerkschaft, dem Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund („Bund“) und einem auf sozialistische Selbstverwirklichung zielenden Zionismus – aber eben auch, dass es dort eine große jüdische Unterwelt ebenso gab wie eine nicht eben schwache Klasse von Unternehmern und Kapitalisten. Die Buntheit dieses Mit-, Neben- und Gegeneinanders verschiedenster Klassen, Gruppen, Weltanschauungen und religiösen Prägungen hat sich vor allem in den Romanen und Novellen des Nobelpreisträgers Isaac Bashevis Singer erhalten – eine Buntheit, die einer vereinfachten, auf mystische Erbauung zielenden Wahrnehmung ihrer Komplexität wegen nicht passt. Judentum, das war, nicht zuletzt in seinen osteuropäischen Ausprägungen, Ausdruck einer tiefgreifenden ökonomischen, kulturellen und politischen Modernisierung, die manchen Historiker sogar zu der kühnen Formulierung provozierte, das zwanzigste Jahrhundert sei ein „Jüdisches Jahrhundert“. „Ostjudentum“ – das war zunächst die Wahrnehmung eines Judentums „östlich“ von, nämlich östlich von Deutschland, in dem die Juden nach der Etablierung des Deutschen Reiches durch Bismarck die bürgerliche Gleichberechtigung erhalten hatten. Östlich von Deutschland – das war mit Sicht auf das Judentum im Jahre 1913 das vom Österreichisch-Ungarischen Kaiserreich beherrschte Galizien, das vom Zarenreich beherrschte Polen, die Ukraine und die westlichen Teile Russlands bis zum Ural, aber auch die Donaufürstentümer, also Rumänien sowie Teile des südlichen Ungarn. „Ostjudentum“, das war darüber hinaus vor 1913 ein Judentum, das über eine eigene Sprache, ein eigenes jüdisches Idiom, nämlich das durch das dem Mittelhochdeutschen entstammende Jiddisch mit seiner Aufnahme hebräischer und slawischer Lehnwörter gekennzeichnet war. Schließlich galt dieses Judentum östlich von Deutschland – und darin waren sich aufgeklärte nationaljüdische Intellektuelle wie der Historiker Heinrich Graetz, liberale Philosophen wie Hermann Cohen und neoorthodoxe geistliche Führer wie Samson Raphael Hirsch und seine Nachfolger einig – als Inbegriff einer unaufgeklärten, obskurantistischen und letztlich abergläubischen Spielart der jüdischen Religion, die zu bekämpfen oder aufzuklären sei. Endlich galt das „Ostjudentum“ als Sorgenkind – als bedrohtes Objekt antisemitischer Pogrome und Ausschreitungen, als Quelle einer nicht versiegenden Flut von Immigranten, die in die großen Bevölkerungszentren Mitteleuropas, nach Wien, nach Berlin oder auch nach Hamburg strömten, um von dort in die USA oder Kanada, zu sehr viel geringeren Teilen nach Argentinien oder ins osmanische Villayet Filastin weiter zu wandern. Die Krise des Ersten Weltkriegs mit ihrem offensichtlichen Bankrott der bürgerlich-aufklärerischen Kultur, den Erfahrungen, die Deutsche jüdischen Glaubens in Polen und Russland mit diesen merkwürdigen „Stammesangehörigen“ hinter der Front machten sowie das sich abzeichnende Scheitern des Assimilationsjudentums vor dem Hintergrund des erstarkenden Antisemitismus führten indes zu einem Sinneswandel. Was zuvor als gefährlich galt – jüdisch-revolutionäre Bestrebungen, seien sie nun sozialistisch oder zionistisch – galten nun als Artikulation der Hoffnung; was einstmals als obskurantistischer Unsinn galt – der Chassidismus – erschien als zu lange unverstandener Ort eines präsenten Heiligen; was lange als abstoßend und vulgär galt, das Jiddische, nun als Inbegriff einer poetisch-zärtlichen Sprache. Doch war das, was sich so als „besonders jüdisch“ verstand, kaum mehr als die von Juden gepflogene Spielart einer geistigen Mode, die die ganze deutsche Intelligenz nach dem Ersten Weltkrieg erfasst hatte: einem Schwärmen für das mindestens „nicht-westliche“, wenn nicht gar „anti-westliche“ Fühlen und Denken der russischen Kultur. Von frühen Gedichten Rainer Maria Rilkes über die Dostoevskij-Rezeption völkischer Kreise und das Schwärmen für die russische Revolution etwa in Ernst Blochs Geist der Utopie bis zum wehmütigen Singen von Kosakenliedern an den Lagerfeuern der bündischen Jugend – sei sie nun jüdisch oder nichtjüdisch geprägt – galt Russland als Reservoir einer umstürzend neuen Weltorientierung. Von dieser Konstellation sind die drei nun zu betrachtenden jüdischen Denker, Martin Buber (1878–1965), dem Denker des Dialogs und der Begegnung, Emmanuel Levinas (1905–1995), dem Philosophen einer unbedingten menschlichen Verantwortung sowie Abraham Joshua Heschel (1907–1972), dem es um Gottes Fragen an die Menschheit ging, ebenso geprägt, wie sie – zumindest innerhalb jüdisch-intellektueller Bewegungen – diese Konstellation mitgeprägt haben. Vor allem aber hat diese Konstellation tiefe, prägende Einflüsse zumal auf ihre denkerische, philosophische Konstellation ausgeübt. Wenn man so will, sind diese „ostjüdischen“ Philosophien sehr wesentlich in Deutschland ausgebildet worden, im Deutschland der Dialog- und Existenzphilosophie, in einem philosophischen Klima, das nicht zufällig vom Denken Martin Heideggers fasziniert und überschattet wurde. Auffällig ist zudem, in welcher Weise diese „ostjüdischen“ Philosophien jene philosophisch-politischen Kulturen prägten und befruchteten, in denen ihre Protagonisten wirkten: sei es Martin Buber, jener „habsburgische Intellektuelle“ dessen Einfluss im Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg womöglich größer war als in jenem Lande, in dem er lebte und lehrte, in Israel, sei es Emmanuel Levinas, dieser litauisch-französische Moralist, dessen Werk sich immer mehr als der geheime Hintergrundtext der „Neuen Philosophie“ und der „Dekonstruktion“ nach dem Ende von Strukturalismus und Marxismus in Frankreich abzeichnet, sei es der „spiritual leader“ Abraham Joshua Heschel, dessen existentialistisch-progressistische Überzeugung ihn an die Spitze der US-amerikanischen Bürgerrechts- und Anti-Vietnamkriegsbewegung führen sollte. In allen Fällen schießen „ostjüdische“ Erfahrung, existenzphilosophisches Denken, die Zeitzeugenschaft des Massenmords an sechs Millionen europäischer Juden sowie die aktuellen Konflikte jener Länder, in denen sie schließlich lebten, zu einem Entwurf zusammen, der eine universalistische, auf unmittelbare menschliche Verantwortung zielende Ethik mit einem deutlichen Bezug auf das „ostjüdische“ Erbe verbindet. Zu fragen ist indes, ob der Bezug auf dieses „ostjüdische“ Erbe mehr ist als lediglich ein Ausdruck „nachgeahmter Substantialität“ (Jürgen Habermas), ob dieses „ostjüdische“ Erbe nicht vielmehr neu erfunden wurde und ob das von diesen drei Philosophen auf den Weg gebrachte Denken dem „ostjüdischen“ Erbe oder auch nur einem seiner charakteristischen, unverwechselbaren Bestandteile wirklich gerecht wird. Martin Buber Martin Buber jedenfalls hatte sich keineswegs immer mit dem Chassidismus beschäftigt. 1878 in Wien geboren, wächst er seit 1881 in Lemberg im Hause seines Großvaters auf, eines aufklärerisch-rationalistischen Gelehrten, der mit der Interpretation und Edition rabbinischen, talmudischen Schrifttums befasst ist. Vermutlich im Alter von vierzehn Jahren wurde Buber das erste Mal in Sadagora einer chassidischen Gruppe ansichtig. Jahre später, 1918 – Buber war damals bereits vierzig Jahre alt und lebte inzwischen in Heppenheim an der Bergstraße – teilt er über diese Begegnung mit: Der Palast des Rebbe, in seiner effektvollen Pracht, stieß mich ab. Das Bethaus der Chassidim mit seinen verzückten Betern befremdete mich. Aber als ich den Rebbe durch die Reihen der Harrenden schreiten sah, empfand ich: „Führer“, und als ich die Chassidim mit der Thora tanzen sah, empfand ich „Gemeinde“. Damals ging mir eine Ahnung davon auf, dass gemeinsame Ehrfurcht und gemeinsame Seelenfreude die Grundlagen der echten Menschengemeinschaft sah. Der Wiener Student rezipiert indes vor allem andere Geister: Das Werk Friedrich Nietzsches zog Buber ebenso an wie das Werk des jüdischen Nietzscheaners Micha Josef Berdyczewski, mit dem Autorennamen „Bin Gurion“, der sich um Kompilation und lesbare Zusammenfassung jüdischen Sagenguts verdient gemacht hatte, ebenso wie die Musik Johann Sebastian Bachs, die ihn zutiefst berührte. Ein Studienjahr in Zürich und das Wirken Theodor Herzls entflammte ihn für den Zionismus. Bubers 1904 in Wien eingereichte Dissertation „Beiträge zur Geschichte des Individuationsproblems“ galt einer schulmäßigen Thematik – nach einer zweijährigen Phase der Zurückgezogenheit erschien 1906 Die Geschichte des Rabbi Nachman. Im Rückblick, 1918, versteht Buber seine in der Zurückgezogenheit vorgenommenen Studien zum Chassidismus als Weg zu einer Konversion und Erleuchtung. Der inzwischen Vierzigjährige schreibt über sich im Alter von achtundzwanzig Jahren: Urjüdisches ging mir auf, im Dunkel des Exils zu neubewusster Äußerung aufgeblüht: Die Gottesebenbildlichkeit des Menschen als Tat, als Werden, als Aufgabe gefasst. Und dieses Urjüdische war ein Urmenschliches, der Gehalt menschlichster Religiosität. Das Judentum als Religiosität, als Frömmigkeit, als „Chassiduth“ ging da auf. Das Bild aus meiner Kindheit, die Erinnerung an den Zaddik und seine Gemeinde stieg empor und leuchtete mir: ich erkannte die Idee des vollkommenen Menschen. Zugleich wurde ich des Berufs inne, sie der Welt zu verkünden. Nach der Publikation der Geschichte des Rabbi Nachman erschienen in schneller Folge weitere Arbeiten: 1907 die Legende des Baalschem, 1909 die Ekstatischen Konfessionen, 1910 dann die Übersetzungen der Reden und Gleichnisse des Tschuang Tse mit einem Nachwort über Die Lehre vom Tao, 1911 schließlich ein Band mit Chinesischen Geister- und Liebesgeschichten sowie die Drei Reden über das Judentum, 1913 Daniel – Gespräche über die Verwirklichung und endlich, 1914, eine ergänzte und eingeleitete Übersetzung des finnischen Nationalepos Kalewala. Daran wird deutlich, dass es Buber gar nicht im engeren Sinne um das Judentum ging, sondern darum, einer bestimmten Art ganzheitlicher, mystischer Erfahrung in ihren unterschiedlichen kulturellen Artikulationen nachzuspüren – das Urjüdische erwies sich als „Urmenschliches“, als ein Weg der Erfahrung und ihrer Erleuchtung, die allen Menschen möglich war – im Chassidismus womöglich am deutlichsten. 1921 – nach dem Ersten Weltkrieg, während dessen Buber eindeutig für den Sieg Österreich-Ungarns und des Deutschen Reiches eintrat – erschien Der große Maggid und seine Nachfolge, 1924 Das verborgene Licht. Diese Erzählungen wurden 1928 zusammengefasst und erschienen in einer nochmals erweiterten Version 1938, als Buber sich bereits in Palästina befand. 1949 erschienen alle Erzählungen der Chassidim auf deutsch, und Buber leitet das Buch damit ein, dass er selbstbewusst von „Meiner Arbeit an der Neugestaltung der chassidischen Legende“ schreibt. Dem Sammler und Kompilator ist dabei durchaus bewusst, dass die Quellenlage unzuverlässig ist und auf „begeisterte Menschen“ zurückgeht, so dass auch die Wundergeschichten „nur“ als Ausdruck der Begeisterung gelten können, Geschichten von dem, was sich so, wie es erzählt worden ist, nicht begeben hat und nicht begeben haben kann, was die begeisterte Seele aber als etwas, was sich sinnfällig so begeben hat, empfand und daher als solches berichtete. Bubers Erzählungen der Chassidim sind demnach eigener Auskunft gemäß seine eigene, persönliche „Neugestaltung“ einer noch nicht einmal in den Quellen gesicherten Begeisterung der Anhänger charismatisch wirkender Rabbis. Diese Neugestaltung besteht vor allem darin, den mitgeteilten Anekdoten und novellenartigen kurzen Erzählungen „die fehlende reine erzählerische Linie“ zu geben. Indes: Eine historisch und quellenkritisch ernst zu nehmende Forschung zum Chassidismus gab es spätestens seit den 1890er Jahren, als der bedeutende jüdische Historiker Simon Dubnow in einer russisch-jüdischen Monatsschrift sechs Artikel zur Geschichte des Chassidismus publiziert hatte, deren Summe und Überarbeitung in zwei Bänden 1931 in Berlin erschien. In einer Beilage zum ersten Band, in der Dubnow 193 Quelleneditionen würdigt, kommt er auch ausführlich auf Bubers Editionen zu sprechen, die er abgewogen bewertet: Überblicke man Bubers Lebenswerk, so Dubnow 1931, als Buber 53 Jahre alt war, so drängt sich der Gedanke auf, dass er selbst den Gegenstand des Schlusskapitels der Geschichte des Chassidismus, desjenigen über den „Neochassidismus“, bilden könnte. Aus ihm geht nämlich die legendäre „Realität“ der Schöpfer des Chassidismus über die wirkliche, durch wissenschaftliche Kritik zu klärende Realität hervor. So sind denn die Bücher Bubers geeignet, die Kontemplation und Spekulation, nicht aber die Forschung zu fördern; sie erweitern nicht unsere Kenntnisse, sondern ermöglichen lediglich eine tiefere psychologische Einfühlung. Sie stellen einen neuen, durch und durch modernen Kommentar zur chassidischen Lehre dar. Martin Buber, der des Polnischen mächtig war, verbrachte die ersten dreizehn Jahre seines Lebens in einem großbürgerlichen Haushalt in der Großstadt Wien, die folgenden elf Jahre im ebenfalls großbürgerlichen Hause seines Großvaters in der Wien nacheifernden ostmitteleuropäischen Großstadt Lemberg, verbrachte die darauf folgenden Jahre seines Studiums in Wien, Leipzig und Berlin, dann in Zürich und wieder in Berlin, um schließlich – von 1919 bis 1938 – in Heppenheim an der Bergstraße zu leben und in Frankfurt zu lehren, von wo er 1938 nach Palästina, nach Jerusalem emigrierte, wo er bis zu seinem Tod 1965 lebte. Sieht man von seinem kurzen Kindheitserlebnis in Sadagora ab, hatte Buber niemals in einem osteuropäischen jüdischen Milieu gelebt; auch ist nichts davon bekannt, dass er – wie etwa Simon Dubnow oder Gerschom Scholem – den persönlichen Kontakt zu auch noch zu seiner Zeit existierenden Mystikern oder Chassidim, deren Rabbis und Zaddikim gesucht hätte. Indes: Zwischen Oktober 1941 und Oktober 1942 erschien in einer hebräischen Zeitung, dem Zentralorgan der zionistischen Gewerkschaften im britischen Mandatsgebiet Palästina, Bubers Erzählung Gog und Magog – eine Erzählung, in der es um die Möglichkeit einer mystischen Beeinflussung der Politik in Russland während des Napoleonischen Krieges ging. Auf dem Höhepunkt des Zweiten Weltkrieges verfasst, Monate vor der britischen Abwehrschlacht gegen das deutsche Afrikakorps, dessen Sieg den Jischuw (der jüdischen Bevölkerung Palästinas) dem gleichen tödlichen Schicksal ausgesetzt hätte, wie es die Juden Ostmitteleuropas erlitten. Hier berichtet Buber ein zweites Mal von einer unmittelbaren Begegnung mit dem Chassidismus – und sei es auch nur, dass er während eines Besuchs seines Sohnes im Ersten Weltkrieg in der polnischen Etappe „die Gegend kennenlernte, in der sich der Kampf (zweier chassidischer Schulen, M.B.) abgespielt hatte.“ Diese Erfahrung habe es ihm ermöglicht, die Niederschrift der Geschichte überhaupt ins Auge zu fassen, schließlich sei es jedoch – bereits in Jerusalem – ein „objektiver Faktor“ gewesen, der das wiederholt aufgeschobene Projekt schließlich zur Vollendung bringen sollte: [d]er Anfang des Zweiten Weltkriegs, die Atmosphäre der tellurischen Krisis, das furchtbare Wägen der Kräfte und die Zeichen einer falschen Messianik hüben und drüben. Dass mir unversehens im Halbtraum die Gestalt jenes falschen Boten, von dem mein erstes Kapitel erzählt, als ein Dämon mit Fledermausflügeln und den Zügen eines judaisierten Goebbels erschien, gab mir den entscheidenden Anstoß. Die Welt der Chassidim und ihrer Geister als Projektionsleinwand, als Bühne und Figuren eines großen Welttheaters, auf der der existentiell fühlende Philosoph seine widerstreitenden Prinzipien Gestalt annehmen lässt. Das „Ostjudentum“ von Martin Bubers Chassidim, wie es seit den 1950er Jahren vor allem im Nachkriegsdeutschland bekannt geworden ist, erweist sich damit – und das ist nicht wenig – als eine Fiktion, als die Kopfgeburt eines mit hoher Einbildungskraft begabten Sprachphilosophen, eines „Religionsintellektuellen“ (F.W. Graf), dem nichts ferner lag, als an jener Lebensform, die er dichterisch verklärte, selbst zu partizipieren, und der – auch das ist nicht ohne Bedeutung – diese Lebensform selbst auch nicht als zukunftsträchtig ansah. Rezeptionen seines Werks, die naiv von einem dem Chassidismus eigenen Menschenbild“, das im Gedanken des individuellen Wertes und der Vervollkommnung gipfele, verwechseln wider bessere Einsicht Martin Bubers eigene Ethik mit der ganz anderen Ethik der historischen Chassidim. Konnte ein Martin Buber zumindest verwandter Geist, der sich während seines Studiums in Berlin wie ein moderner Intellektueller und später, an der Spitze der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, wie ein chassidischer Rabbi aus dem 19. Jahrhundert gab, dieser Fehlrezeption entgehen? Abraham Joshua Heschel Heschel zumindest, den Martin Buber 1937, als dieser gerade 30 Jahre alt war, aus Berlin nach Frankfurt, ins Lehrhaus einlud, entstammte tatsächlich jenem chassidischen Milieu, das Buber angeblich so fasziniert hatte. 1973 publizierte Heschels Witwe Sylvia, eine New Yorker Konzertpianistin, aus dem Nachlass eine Studie Heschels zu dem chassidischen Rabbi Menachem Mendel von Kozk, dem er eine kurze Einleitung unter dem Titel „Warum ich dieses Buch schreiben musste“ voranschickte. Darin berichtet er nicht nur, in Warschau geboren worden zu sein, sondern seine Kleinkindzeit in Mezbih in der Ukraine verbracht zu haben, einem Städtchen, in dem der Begründer des Chassidismus, der Baal Shem Tov, seine letzten Lebensjahre verbracht hatte. Heschel, der sowohl väterlicher- als auch mütterlicherseits von berühmten chassidischen Dynastien abstammte, meinte über die Landschaft seiner Kindheit, dass dort jeder Schritt am Wege die Antwort auf ein Gebet gewesen sei und jeder Stein am Weg die Erinnerung an ein Wunder. Mezbih war es auch, wo er zum ersten Mal von Rabbi Menachem Mendel von Kozk gehört haben will, im zarten Alter von neun Jahren – ein spiritueller Führer, der Heschels Leben mit den Ketten des Zweifels, der Macht der Traurigkeit und der Aufrichtigkeit des Zweifels begleitet habe. Der Kozker Rebbe soll ihm, so Heschel, zum Antidot zu einer unkontrollierten Haltung der Liebe, der Erregung und des Eifers geworden sein – Haltungen, die in das Paradies eines Narren führten, das zugleich zu eines weisen Mannes Hölle werden könne. Einige Zeit vor dem Abitur verließ Heschel Warschau und legte auf dem Realgymnasium von Wilna, einer säkularen Institution, sein Abitur ab, um anschließend in Berlin an der Friedrich-Wilhelm-Universität sowie jüdischen Hochschulen zu studieren, um mit einer Arbeit über die biblischen Propheten promoviert und 1934 als Rabbiner ordiniert zu werden. Anders als Buber hatte Heschel, der die chassidischen Rabbis aus eigener Familie und damit aus eigener Anschauung kannte, keine Möglichkeit, ihr Leben und ihre Frömmigkeit zu verklären. Heschel, der bis 1937, vornehmlich als Lehrer der Erwachsenenbildung, in Berlin blieb, wirkte von März 1937 bis Oktober 1938 an Franz Rosenzweigs Frankfurter Jüdischem Lehrhaus. Nach einer Deportation nach Polen und nach kurzem Aufenthalt in London gelangte er schließlich 1940 in die USA, wo er bis zu seinem Tode 1972 als prophetischer Dichter-Denker, spiritueller Führer, Bürgerrechtsaktivist und Hochschullehrer an verschiedenen Institutionen wirkte. Am Ende wurde er der erste offiziell anerkannte jüdische Berater des II. Vatikanischen Konzils. Abraham Joshua Heschel lebte fünfundsechzig Jahre, von denen er die ersten dreißig Jahre – bis 1937 – tatsächlich in einem Milieu osteuropäischer Juden verbrachte: in Warschau, in Mezbih, in Wilna und auch in Berlin, das damals das lebendige Zentrum einer Kultur von aus Osteuropa eingewanderten Juden in der Weimarer Republik war und wo nicht weniger als 19 jiddische Zeitschriften herausgegeben wurden. Dieses Zentrum hatte indes niemals Bubers Aufmerksamkeit gefunden. Buber war der Kontakt zu nicht-jüdischen Religionsintellektuellen, die der Dialog- und Existenzphilosophie anhingen, bzw. zur deutsch-jüdischen, zionistischen und auch nicht-zionistischen Jugendbewegung in jeder Hinsicht wichtiger als die Auseinandersetzung mit der lebendigen, hebräisch- und jiddischsprachigen Szene im Berlin der Weimarer Republik. Die zweite Hälfte seines zu kurzen Lebens verbrachte Heschel in den USA, wo er zur Leitfigur eines so nur in den Vereinigten Staaten möglichen Neochassidismus wurde. Tatsächlich war er keineswegs der einzige ostjüdische Religionsintellektuelle, der die Entwicklung jüdischen Lebens in den USA prägen sollte. Das Leben all dieser zutiefst – kulturell, sprachlich und religiös – osteuropäisch geprägten Juden, die den Weg in die USA fanden, war durch einen tiefen Zwiespalt geprägt. Indem sie einerseits alternativlos der modernen westlichen Kultur anhingen, andererseits ebenso unverzichtbar den Erfahrungen ihrer Kindheit und Jugend treu bleiben wollten, waren sie – zumal durch den nicht nur äußerlichen, geographischen Ortswechsel – dazu gezwungen, diese Vergangenheit neu zu erfinden. Heschel, der in Englisch ebenso fließend wie in Hebräisch und Jiddisch publizierte, sah sich – obwohl ein orthodox observanter Jude und trotz seiner eigenen Versuche, den Chassidismus zu aktualisieren – nicht mehr in der Lage, dieser Lebensform selbst zu folgen. In den 1950er Jahren fragte ihn ein Schüler, dem Heschel selbst nachdrücklich empfohlen hatte, einen Schabbat bei den strikt orthodoxen Satmarer Chassidim in New York Williamsburg zu verbringen: Wenn er mich um mein Wochenende dort beneidete, wie er oft erklärte, warum zog er dann nicht selbst nach Williamsburg? „Ich kann nicht“, antwortete er. „Nachdem ich meine Heimat in Polen verlassen hatte, wurde ich ein moderner westlicher Mensch. Das kann ich nicht umkehren.“ Diese Modernität fand ihren einzigartigen Ausdruck in Abraham Joschua Heschels Frömmigkeit der Tat, die ihn neben Martin Luther King an die Spitze von Bürgerrechtsmärschen und Antikriegsdemonstrationen führte. Äußerlich wirkte Heschel in seinen späteren Jahren, lange nachdem er in die USA eingewandert war, nicht anders als jene Satmarer Chassidim, unter denen er nicht mehr leben wollte – sein von einem breitkrempigen Hut überschattetes Gesicht wurde von langem Haar und einem langen Kinnbart gerahmt. Der Weg in die amerikanische Moderne führte indes über das Berlin der Weimarer Republik, in dem Heschel die Einflüsse der Existenzphilosophie, der philologisch korrekten Wissenschaft des Judentums und einer radikal erneuerten jiddischen Literatur begierig aufnahm und seinen eigenen Impulsen anverwandelte. Emmanuel Levinas Anders als Buber und Heschel trug der 1905 geborene Levinas niemals einen Bart. 1906 weder in Wien noch in Warschau, sondern in Kovno (Kaunas), einem weiteren Zentrum antichassidischer, rationalistisch talmudischer Gelehrsamkeit, geboren, verstanden sich Levinas Eltern als „russische Juden“, die zwar untereinander gelegentlich Jiddisch, mit den Kindern aber nur Russisch sprachen. Als prägende Einflüsse dieser „russischen“ Kindheit verwies Levinas später auf die Werke von Puškin, Tolstoj und Dostoevskij sowie der rationalistischen Schule des Gaon von Wilna, der führenden antichassidischen Gelehrtengestalt des 18. Jahrhunderts. In der Gestalt des Rabbiners Chaim Woloschiner, eines Schülers des Gaon von Wilna, der trotz seiner antichassidischen Grundhaltung Spekulationen in der Tradition der jüdischen Mystik betrieb, fand Levinas ein Vorbild, das persönliche Frömmigkeit, rationales Argumentieren und spekulative Gründlichkeit miteinander verband. Nach einer behüteten Kindheit musste Levinas Familie nach der Eroberung Kovnos durch deutsche Truppen im Jahr 1915 flüchten, um schließlich in Charkov eine Bleibe zu finden. Levinas, der schon als kleiner Junge Hebräisch lernte, besuchte dort 1916 trotz eines Numerus Clausus das russische Gymnasium, um ab 1919 wieder in Kaunas ein jüdisches Lyzeum zu besuchen, wo er von der Lehre des Direktors, eines aufgeklärten deutschen Juden, der ein besonderes Faible für Goethe hatte, beeindruckt war. Der im jetzt unabhängig gewordenen Litauen lebende junge russische Jude ging nach seiner Reifeprüfung ebenfalls nach Westen, blieb aber weder in Berlin noch in Leipzig, die er besucht hatte, sondern immatrikulierte sich 1923 im Alter von achtzehn Jahre an der Universität Strasbourg, also in Frankreich, wo er unter anderem bei Maurice Halbwachs hörte und sich mit der Psychoanalyse auseinandersetzte. 1928/29 folgte Levinas dem Ruhm Edmund Husserls und hörte an der Universität Freiburg, wo er auch zwei Seminare Martin Heideggers belegte, dem er zu den berühmt gewordenen Davoser Hochschulwochen 1929 folgte. Das berüchtigte Streitgespräch zwischen Martin Heidegger und Ernst Cassirer verfolgte Levinas als entschiedener Parteigänger Heideggers, der in einem ebenfalls bei den Hochschulwochen aufgeführten Studentenkabarett den in der Debatte unterlegenen Ernst Cassirer mit einer Parodie verspottete. Levinas, der diesen Auftritt später bedauern sollte, ließ seine Cassirer-Parodie die Worte „Humboldt“ und „Kultur“ stammeln und verhöhnte zudem Cassirers Pazifismus. In den 1930er Jahren wirkte Levinas dann im Rahmen der traditionsreichen jüdischen Bildungs- und Wohlfahrtsinstitution Alliance Israelite Universelle und war zudem reges Mitglied der damaligen Pariser Intellektuellenszene, wo er insbesondere wegen seiner vorzüglichen Kenntnisse des Werks von Husserl und von Heidegger geschätzt wurde. Als französischer Staatsbürger naturalisiert, wurde Levinas 1939 eingezogen, von der Wehrmacht gefangen genommen und für mehr als vier Jahre als Kriegsgefangener nahe Hannover inhaftiert, wobei sein Judentum durchaus bekannt war. Bei Kriegsende befreit, musste er bald erfahren, dass sein Vater, seine Mutter und seine beiden Brüder von litauischen Nationalisten nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Kovno ermordet worden waren. Nach dieser Information beschloss Levinas, nie wieder deutschen Boden zu betreten. Nach dem Krieg nun als Direktor der Alliance Israelite Universelle tätig, publizierte er weiter philosophische Schriften und lehrte ab 1961 zunächst in Poitiers, dann in Nanterre und schließlich an der Sorbonne in Paris. Seine halbprivat gehaltenen, philosophisch inspirierten Talmudkurse wurden zum geheimen Zentrum einer ganzen Generation von Intellektuellen, während ihn seine guten Kontakte zur katholischen Kirche zum Vorreiter eines philosophisch basierten jüdisch-christlichen Gesprächs werden ließen. 1976, im Alter von mehr als siebzig Jahren, gab er die universitäre Lehre auf, um bis zu seinem Tode im Jahr 1995 als viel gesuchter und von Jahr zu Jahr berühmter werdender geistiger Lehrer in Paris zu wirken. Seine eigene jüdische Bildung freilich verdankte Levinas nicht der Erinnerung an das religiöse Lernmilieu seiner Kindheit, sondern einer ebenso obskuren wie faszinierenden, ebenso gelehrten wie irritierenden Gestalt, einem wie das Klischee vom Ewigen Juden vagabundierenden Talmudgelehrten, dem wahrscheinlich in Marrakesch geborenen, polyglotten „Monsieur Chouchani“, der ohne Hausstand und feste Adresse zwischen den Kontinenten wanderte, um schließlich in Uruguay zu sterben. Emmanuel Levinas wurde beinahe neunzig Jahre alt, von denen er die ersten siebzehn Jahre in Osteuropa verbracht hatte, um nie wieder dorthin zurückzukehren. Sein geistiger Werdegang führte ihn nach Strasbourg, Freiburg, nach Davos und wieder nach Paris – der osteuropäische jüdische Hintergrund, der ihn mitgeprägt haben könnte, war anders als bei Buber und Heschel nicht der Chassidismus, sondern der talmudische Rationalismus. Auch Levinas war zutiefst von der Existenzphilosophie und ihren Vorläufern geprägt: Was Nietzsche für Buber und Kierkegaard für Heschel war, waren für Levinas Husserl und Heidegger. Der Widerlegung des un-ethischen, ja geradezu anti-ethischen Denkens Heideggers sollte Levinas nach 1945 sein philosophisches Leben widmen. Von russischer Literatur, talmudischem Rationalismus, Phänomenologie und Existenzphilosophie geistig vorbereitet, gewann Levinas sein eigenstes, im engeren Sinne jüdisches Denken schließlich von einem sephardischen Talmudgelehrten. Gleichwohl verdanken wir Levinas, anders und deutlicher als Buber und Heschel, eine klare Würdigung dessen, was man als „Ostjudentum“ bezeichnen könnte. Ostjudentum? In seiner Abhandlung zu dem rationalistischen Rabbi Chaim Woloschiner erörtert Levinas zunächst die ganz eigenständige Rezeption der durch Mendelsohn und andere auf den Weg gebrachten jüdischen Aufklärung, der Haskala, durch die jüdischen Gemeinden Osteuropas: Seit dem 19. Jahrhundert beginnen sie in der Tat mehr und mehr über das Studium der Tora hinauszugehen und sich sogenannten westlichen Denk- und Lebensformen anzunähern, ein Prozess, dem sich das osteuropäische Judentum seit dem 18. Jahrhundert entschieden anschloss. Diese Entwicklung zur sogenannten Moderne geschah bei den russischen, polnischen und litauischen Juden in Wirklichkeit fast im Wettstreit mit dem Einfluss, den man der Jeschiwa von Woloschin zuschreiben kann. Aber trotz der Verführungskraft des Westens und seiner rationalistischen Kultur blieb das osteuropäische Judentum größtenteils gegen die Versuchung, sich schlicht und einfach an die jeweilige Umgebung zu assimilieren, immun. Es ging nie soweit, die geistige Welt seiner Ursprünge als zweitrangig zu betrachten und an der völligen Mündigkeit der jüdischen kulturellen Tradition zu zweifeln, auch wenn es sich nach und nach in seiner Lebensweise und seinen intellektuellen Interessen von den ganz strikten Regeln der Tradition entfernte. Diese Treue zur Tora als Kultur und ein auf dieser Kultur aufbauendes Nationalbewusstsein blieben trotz eines westlichen Lebensstils das Unterscheidungsmerkmal des Ostjuden. Dafür gab es gewiss eine Reihe von demographischen, sozialen und politischen Gründen. Doch zu den Gründen für die Festigkeit dieser Haltung muss mit Sicherheit auch die von den osteuropäischen jüdischen Eliten in den Jeschiwot des Typs der Woloschiner Jeschiwa erhaltene Ausbildung gezählt werden. Das Judentum der Talmudakademien – oder die in den Familien fortgesetzte Erinnerung an dieses Judentum – bewahrte die jüdischen Massen vor der Assimilation, wie es den Chassidismus vor dem Schisma bewahrt hatte. Mit einer Ausnahme – so wäre Levinas zu ergänzen –, nämlich jener nicht unerheblichen Zahl junger russischer Jüdinnen und Juden, die sich entschlossen und nun wirklich im Kampf gegen die Tradition den Bolschewiki angeschlossen hatten, das religiöse und jiddistische Judentum bekämpften und damit keinen geringen Anteil an der geistigen Zerstörung des osteuropäischen Judentums hatten. Das „Ostjudentum“ wie wir es auch in seinen repräsentativen Denkern kennen, ist das Ergebnis eines doppelten Verlusts und einer doppelten Trauer sowie einer Neuerfindung – dieser Trauer hat niemand genaueren Ausdruck verliehen als Abraham Joshua Heschel, der den schmerzlichen Weg des Übergangs in die Moderne so beschrieb: Als wir vom Licht der europäischen Zivilisation geblendet wurden, konnten wir den Wert des kleinen Feuers des ewigen Lichts nicht schätzen […] Wir verglichen unseres Väter und Großväter, unsere Lehrer und Rabbis mit russischen und deutschen Intellektuellen. Wir predigten im Namen des 20. Jahrhunderts, verglichen Berdichev mit Paris, Ger mit Heidelberg. Vom Licht der Laternen in den großen Städten geblendet, verloren wir unsere innere Vision. Die strahlende Vision, die für so viele Generationen in den kleinen Kerzen schien, erlosch für viele von uns. Indes: Die Wiederentdeckung jenes verloschenen Lichtes führte nicht dazu, dass es wieder entzündet worden wäre. Vielmehr wurde ein neues Licht geschaffen.
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