Der widerwillige Blick zurück
Der Holocaust in der ukrainischen Erinnerung
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Abstract
Die Ukraine war einst ein Zentrum des osteuropäisch-jüdischen Lebens. Im Holocaust wurden die meisten ukrainischen Juden umgebracht. Damit ging auch die jüdische Kultur unter. In der Sowjetunion geriet sie in Vergessenheit. Während die offizielle ukrainische Erinnerungspolitik das jüdische Erbe ausblendet, bemühen sich Privatleute und Organisationen darum, die jüdische Kultur und Geschichte als Teil der ukrainischen Identität im öffentlichen Bewusstsein zu verankern. Dies ist ein schmerzhafter Prozess: Er verlangt den Ukrainern ab, die eigene Verantwortung für die Vernichtung der Juden in ihrem Land anzuerkennen.
(Osteuropa 8-10/2008, S. 445454)
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A Reluctant Look Back
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Ende des 19. Jahrhunderts lebten im Gebiet der heutigen Ukraine, die damals unter Herrschaft von Österreich-Ungarn und Russland stand, etwa drei Millionen Juden, d.h. fast ein Drittel der damaligen jüdischen Weltbevölkerung. Die Ukraine stellte ein Zentrum des religiösen, literarischen, politischen osteuropäischen Judentums dar. Das Zusammenleben von Juden und Ukrainern war einerseits von einem gesellschaftlichen, kulturellen und ökonomischen Austausch, andererseits von Gegensätzen und Konflikten geprägt. Die schlimmsten antijüdischen Ausschreitungen hatte es 1648 bis 1654 im Zuge des Aufstands der ukrainischen Christen und Kosaken gegen die polnische Republik gegeben. Nach der Aufteilung der Ukraine zwischen dem Habsburger Reich und Russland Ende des 18. Jahrhunderts genossen die Juden im österreichisch-ungarischen Gebiet, in Galizien, in der Bukowina und in Transkarpatien die gleichen Bürgerrechte wie alle anderen Menschen auch, und der Antisemitismus war dort marginal. Anders im Zarenreich, wo der Antisemitismus Teil der Politik war und es in den Jahren 1871, 1881, 1903 und 1905 grausame Pogrome gab, die zahlreiche Juden dazu bewogen, in den österreichischen Teil der Ukraine, in die USA, nach Südamerika oder nach Palästina auszuwandern. Seinen Höhepunkt erreichte der Staatsantisemitismus Russlands 1913 mit dem weithin bekannten Gerichtsprozess gegen Mendel Bejlis in Kiew. Er wurde zu Unrecht beschuldigt, einen Ritualmord an einem ukrainischen Jungen verübt zu haben. Dank der entschiedenen Fürsprache seitens der ukrainischen und russländischen Intelligenzija sowie der einfachen ukrainischen Bevölkerung wurde Bejlis freigesprochen. Anders als vielen mittel- und osteuropäischen Staaten wie Polen, der Tschechoslowakei, Rumänien und den Baltischen Staaten brachte das Ende des Ersten Weltkriegs der Ukraine keine staatliche Unabhängigkeit. Von 1917 bis 1921 kämpften im Gebiet der Ukraine die Armee des Zaren, die Bolschewiken und ukrainisch-nationale Kräften gegeneinander. Die Juden waren Opfer aller drei Seiten. Die Bolschewiken sagten den Juden nach, sie paktierten mit den ukrainischen Nationalisten, während diese den Juden vorwarfen, mit den Bolschewiken zu kollaborieren. Die Truppen des Zarenreiches setzten die antijüdische Politik der Romanov-Dynastie fort. 1922 wurde der größte Teil des ukrainischen Gebiets als Sozialistische Sowjetrepublik der neugegründeten Sowjetunion zugeordnet. Galizien und Wolhynien wurden Polen zugeschlagen, die Bukowina ging an Rumänien, Transkarpatien an die Tschechoslowakei. Während die Juden in den westlichen Landesteilen ihren Traditionen weiterhin nachgehen konnten, hörte das jüdische Leben in der sowjetischen Ukraine praktisch auf zu existieren. In den 1930er Jahren wurden dort die Synagogen und religiöse Schulen geschlossen und das Jiddische verboten. Unter dem stalinistischen Terror, dem Holodomor und den Erschießungen unschuldiger Personen hatten sowohl Juden als auch Ukrainer zu leiden. Juden und Ukrainer fanden sich jedoch auch in den Reihen der Verantwortlichen. Die relativ hohe Anzahl sozialistischer Funktionäre mit jüdischem Hintergrund fachte den latenten Antisemitismus in der ukrainischen Gesellschaft später weiter an. Die Unterdrückung alles Jüdischen und alles Nationalen verhinderte es aber nicht, dass Juden und Ukrainer besonders in der Literatur weiter zusammenarbeiteten. In den 1930er Jahren entwickelte sich sogar die jiddische Literatur in der Ukraine weiter. In den Werken von jüdischen Schriftstellern wie David Hofstein, Peretz Markisch, David Bergel’son und anderen fanden sich national-ukrainische Elemente wieder. Auch Nathan Rybak, Leonid Pervomajskij und Abram Kacnel’son sahen sich als Träger sowohl der jüdischen als auch der ukrainischen Kultur. Außerdem gab es in der Ukraine viele jüdische landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften, in denen ausschließlich Jiddisch gesprochen wurde. Ende der 1930er Jahre lebten knapp drei Millionen Juden in der Ukraine. Während des Zweiten Weltkriegs wurden ebenso wie in anderen Gebieten, die sich zeitweise unter der Kontrolle der Nationalsozialisten befanden, fast alle Juden umgebracht und die jüdischen Gemeinden vernichtet. Den Holocaust überlebten nur diejenigen, die weiter in den Osten der Sowjetunion, nach Zentralasien oder Sibirien geflüchtet waren oder die den Krieg als Soldaten der Roten Armee überlebt und mitgeholfen hatten, die Ukrainer, Russen, Polen und Weißrussen gegen das Hitler-Regime zu verteidigen. Das Verhältnis zwischen Juden und Ukrainern während des Krieges war jedoch äußerst komplex. Viele Nicht-Juden in der Ukraine kollaborierten mit den Nationalsozialisten. Ein großer Teil hatte sich von nationalsozialistischen Hetzreden gegen den „jüdischen Bolschewismus“, der die Verbrechen des Stalinschen Terrors zu verantworten habe, anstecken lassen. Wissenschaftler gehen davon aus, dass im Reichskommissariat Ukraine, das die Zentralukraine, sowie Teile der Ost- und der Westukraine umfasste, 140 000 Personen in der Polizei dienten. In den Akten der Nationalsozialisten werden sie alle als „Ukrainer“ geführt, obwohl sich auch Angehörige anderer Nationen darunter befanden. Viele Bewohner der Ukraine entschieden sich – vom Kriegsfieber ergriffen – dafür, mit den Besatzern zusammenzuarbeiten und wurden unter anderem auch als Aufpasser in den Todeslagern Sobibor, Treblinka und Bełżec eingesetzt. In vielen Städten in der Westukraine brachte die nicht-jüdische Bevölkerung Juden um, ohne auf eine explizite Anordnung der Besatzer zu warten. Auf der anderen Seite nimmt die Ukraine auf der Liste von Yad Vashem, die Nicht-Juden verzeichnet die ihr Leben riskierten, um Juden vor den Nationalsozialisten zu retten und daher als „Gerechte unter den Völkern“ gelten, den vierten Platz ein. Auf der Jerusalemer Liste befinden sich ungefähr 30 000 Namen von Menschen aus der Ukraine. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war das jüdische Leben im Gebiet der Ukraine ausgelöscht. Es gab keine jüdischen Gemeinden mehr, keine jüdischen Schulen, Zeitschriften und Kolchosen. Ende der 1940er Jahre wandelte sich Stalins latenter Antisemitismus in eine offene Verfolgung alles Jüdischen, und gipfelte 1952 in der Erschießung von sowjetisch-jüdischen Schriftstellern. In den 1960er Jahren hatten sich die meisten Juden dem sowjetischen Lebensstil angepasst. Bei einer Volkszählung von 1989 wurde knapp eine halbe Million Juden in der Ukraine registriert. Nach dem Zerfall der Sowjetunion ließ sich einerseits eine massenhafte Abwanderung von ukrainischen Juden nach Israel, in die USA uns nach Deutschland beobachten, andererseits entwickelte sich wieder ein Gemeindeleben in der Ukraine. 2001 wurden nur noch 100 000 Juden in der Ukraine gezählt, doch haben dort wieder Synagogen und jüdische Schulen ihre Tore geöffnet, es werden jüdische Zeitungen herausgegeben, jüdische Organisationen haben ihre Arbeit aufgenommen, und es gibt Institute für Jüdische Studien. Wahrnehmung und Reflexion des Holocaust sind in der Ukraine eng mit dem schmerzhaften Prozess der Herausbildung einer nationalen Identität verbunden. Noch ist unklar, ob und wie der Holocaust in die Erinnerungskultur integriert wird. Auch ist offen, wie das jüdische Erbe sowie das Verhältnis zwischen Juden und Ukrainern in der kollektiven Erinnerung und in der Geschichtsschreibung verortet werden. Im Jahre 2005 diskutierten ukrainische Historiker in der renommierten liberalen Zeitschrift Krytyka, ob die Geschichte und Kultur der jüdischen Gemeinschaft, die Jahrhunderte lang in der Ukraine gelebt hatte, integraler Bestandteil der ukrainischen Kultur seien. Aber welche Rolle spielt der Holocaust in der Ukraine? Gehört die Vernichtung der ukrainischen Juden im Zweiten Weltkrieg zur ukrainischen Geschichte? Je nachdem, ob Wissenschaft, Schulunterricht oder politische Debatten im Zentrum der Analyse stehen, fällt die Antwort auf diese Frage unterschiedlich aus. Der Holocaust im Spiegel der Wissenschaft Seit Anfang der 1990er Jahre machte die Holocaustforschung in der Ukraine große Forschritte. Es entwickelte sich eine regelrechte Schule zur Erforschung der Schoa. Die Historiographie des Holocaust begann mit regionaler Feldforschung und der Publikation von Erinnerungen. Im zweiten Schritt wurden einzelne Aspekte wissenschaftlich bearbeitet. Darauf folgten grundlegende Dokumentationsbände und Dissertationen, von denen es jedoch noch viel zu wenige gibt. Die Arbeiten ukrainischer Historiker, die den Holocaust behandeln, werden von der offiziellen Geschichtswissenschaft der Ukraine weitgehend ignoriert. Im Westen stoßen sie jedoch auf großes Interesse und werden immer häufiger zitiert. Die Ignoranz vieler ukrainischer Wissenschaftler verstärkte sich in letzter Zeit. So handeln Publikationen zur jüngeren Geschichte der Ukraine ebenso wie Universitätslehrbücher zur Geschichtswissenschaft, die in den letzten Jahren erschienen sind, den Holocaust mit einem kurzen Hinweis auf die Massenerschießungen von Juden in Tal Babyj Jar 1941 bei Kiew ab oder legen nahe, die Opfer seien in erster Linie Ukrainer und Russen gewesen. In Einführungen in die Geschichtswissenschaft fehlen Hinweise auf Publikationen zum Genozid an den ukrainischen Juden schlichtweg. Besonders irritierend ist die jüngste Veröffentlichung der Institute für Geschichte und für politische und ethnische Forschung der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine, über die politischen Geschichte der Ukraine im 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts. Der gewaltige Band, mehr als tausend Seiten stark und von einem Kollektiv bekannter und angesehener Autoren verfasst, behandelt die wichtigsten Ereignisse der Landesgeschichte. Eines der zentralen Kapitel ist den Geschehnissen des Zweiten Weltkriegs auf dem Territorium der Ukraine gewidmet. Das Schicksal der ukrainischen Juden wird jedoch mit keinem Wort erwähnt. In den letzten Jahren führte der Weg anscheinend von der Angabe vereinzelter Daten bis zur kompletten Tilgung der Holocaust-Problematik in wissenschaftlichen Veröffentlichungen. Diesen und ähnlichen Veröffentlichungen liegt die Vorstellung einer monokulturellen oder gar monoethnischen Geschichte der Ukraine zugrunde. Dabei ist das Verständnis, das Kultur und Geschichte der Ukraine auch von Minderheiten, darunter der Juden, in der ukrainischen Geschichtswissenschaft schon weit verbreitet. Als Beleg für diesen Forschungsansatz können die Sammelbände gelten, in denen die Konferenz „Der Zweite Weltkrieg und das Schicksal der nationalen Minderheiten der Ukraine“ dokumentiert wird. In diesen Bänden wird das Schicksal zahlreicher Völker während der nationalsozialistischen Okkupation ausführlich rekonstruiert. Initiiert werden solche Konferenzen und Publikationen in der Regel von nichtstaatlichen wissenschaftlichen Organisationen, in diesem Fall vom Komitee Babyj Jar und dem Ukrainischen Zentrum zur Erforschung der Geschichte des Holocausts. Die Initiatoren bereiten die Veranstaltungen inhaltlich vor und suchen nach Finanzquellen auch für anschließende Publikationen. Interessanterweise nehmen an solchen Konferenzen auch gerne Vertreter akademischer Institute teil, wie etwa die Herausgeber des Mammutwerks zur politischen Geschichte der Ukraine im 20. und 21. Jahrhundert. Sie halten durchaus informative Vorträge über Krimtataren, Polen, Juden, Deutschen oder Tschechen in der Ukraine. Doch in sogenannten „offiziellen“ Veröffentlichungen, welche die Akademie der Wissenschaften herausgibt oder die staatlich gefördert werden, kommen nationale Minderheiten wie die Juden nicht vor. Anders als die ukrainische Geschichtswissenschaft verfolgt die europäische Historiographie einen polykulturellen Ansatz. Dieser ist auch in ehemals sozialistischen Ländern weit verbreitet. In Polen etwa können heute selbst heikle Themen wie die Erschießung polnischer Offiziere durch den stalinistischen NKWD 1940 in Katyn, die gewaltsame, von Polen durchgeführte Deportation der deutschen Zivilbevölkerung aus West-Polen 1945 oder die Zerstörung polnischer Dörfer in Wolhynien durch Ukrainer im Jahre 1943 diskutiert werden. Auch die Pogrome gegen Juden, die Polen ohne Teilnahme von Nationalsozialistischer Truppen in Jedwabne durchführten, das Nachkriegspogrom in Kielce 1946 sowie die Bücher von Jan Tomasz Gross, die sich diesen Pogromen widmen, sind ständiges Thema in der öffentlichen Diskussion. Dies zeigt, dass Polen Verantwortung für die historische Erinnerung übernimmt. Die Ausblendung alles Jüdischen in der offiziellen ukrainischen Geschichtsschreibung lässt sich nicht allein mit dem Fortleben des sowjetischen monokulturellen Zugangs zur Geschichte erklären. Vielmehr scheint die ukrainische Gesellschaft unfähig oder unwillig zu sein, ihre nationale Geschichte als Geschichte verschiedener Kulturen wahrzunehmen. Tendenziell wird das „Andere“ ausgeklammert und als etwas Fremdes betrachtet. Offenbar ist es bequemer, von „uns“ und den „anderen“ zu sprechen, etwa von „unserem Holodomor“ und „ihrem Holocaust“. Es bildet sich ein nationales Narrativ heraus, in dem der Holocaust nicht vorkommt. Dies führt dazu, dass die ukrainische Gesellschaft, besonders die junge Generation, die Hintergründe des Holocaust in der Ukraine nicht kennt. Es herrscht die Vorstellung, der Holocaust habe sich ausschließlich im westlichen Europa abgespielt und sei für die Ukraine ohne Bedeutung. Dabei wird die in zahlreichen westlichen, aber auch in ukrainischen geschichtswissenschaftlichen Werken dargelegte allseits bekannte und unbestreitbare Tatsache, dass die primären Opfer der deutschen Okkupation in der Ukraine und anderen europäischen Ländern die Juden waren, ignoriert oder verschwiegen. Mehr noch, der Holodomor 1932/33 wird immer häufiger als „ukrainischer Holocaust“ bezeichnet. Die Tatsache, dass in erster Linie Juden die Opfer des Holocaust waren, wird hiermit in sowjetischer Tradition verschleiert. Dieser Vereinfachung historischer Ereignisse setzen liberale Historiker in der Ukraine und im Ausland, unabhängige Periodika und nicht-staatliche Einrichtungen etwas entgegen. Sie verstehen den Holocaust auf dem Territorium der Ukraine eindeutig als integralen Bestandteil der ukrainischen Geschichte. Sie werden gar nicht oder nur unzureichend vom Staat gefördert und haben daher nur wenig Einfluss auf die öffentliche Meinung. Mit der Unterordnung der Wissenschaft unter politische Interessen schreibt die ukrainische Geschichtswissenschaft die sowjetische Tradition auch institutionell fort. Die Schoa im Schulunterricht Mindestens ebenso wichtig wie die Holocaustforschung ist die Auseinandersetzung mit dem Thema in der Schule, um die Erinnerung an das Schicksal des ukrainischen Judentums zu bewahren und an künftige Generationen weiterzugeben. In der ersten Hälfte der 1990er Jahre wurde der Holocaust in die schulischen Lehrpläne aufgenommen, genauer: in den Grundkurs Geschichte der Ukraine und Weltgeschichte. Im Jahre 2000 empfahl das ukrainische Bildungs- und Wissenschaftsministerium den Universitäten, einen Kurs zur Geschichte des Holocausts in der Ukraine und in Europa einzuführen. Motiviert war dieser Beschluss offensichtlich von der Stockholmer Konferenz im Januar 2000, auf der die Ukraine einer Deklaration zur Bewahrung der Erinnerung an den Holocaust durch Forschung und Unterricht zugestimmt hatte. Seit 2006 enthalten die Abschlussprüfungen allgemeinbildender Schulen Fragen zur Geschichte des Holocausts. Obwohl formal alle Voraussetzungen erfüllt sind, kann die Geschichte des Holocausts an ukrainischen Schulen zurzeit kaum unterrichtet werden. Erstens sieht der Lehrplan zu wenig Unterrichtszeit für das Thema vor. Der Holocaust soll im Themenbereich „Nationalsozialistisches Besatzungsregime“ in nur einer Schulstunde abgehandelt werden. Zweitens fehlen in den offiziellen Lehrbüchern logisch stringente Ausführungen über den Holocaust als Teil der ukrainischen Geschichte. Auch hier setzt sich die sowjetische Tradition des Verschweigens des Holocausts – in sowjetischen Schulbüchern wurde der Holocaust gar nicht erwähnt – fort. Der Kiewer Didaktiker Juryj Komarov, der Darstellungen des Holocaust in Lehrbüchern in der Ukraine, in Deutschland und in Großbritannien verglichen hat, schrieb, unter diesen Voraussetzungen sei es kaum zu erwarten, dass ukrainische Schüler eine Verbindung zwischen Babyj Jar und dem Holocaust sähen. In ihrer Untersuchung der Holocaust-Rezeption ukrainischer Schüler kommt Jelena Ivanova aus Char’kov zu dem Schluss, der Holocaust sei für die Jugendlichen ein abstraktes Ereignis ohne jeden Bezug zur nationalen Erinnerung. Der nichtstaatliche Bildungssektor in der Ukraine sendet seit Mitte der 1990er Jahre wertvolle Impulse aus. Schritt für Schritt wirken Institutionen wie das Komitee Babyj Jar, die Vereinigung nationaler Minderheiten der Ukraine, das Ukrainische Zentrum zur Erforschung der Geschichte des Holocausts, der Geschichtslehrerverband Nova Doba, das Zentrum Tkuma darauf hin, das offiziellen Bildungswesen zu verändern und in der ukrainische Gesellschaft das Bewusstsein für ihre Verantwortung für die Erinnerung an den Holocaust zu verankern. Sie entwickelten praktisch ohne staatliche Unterstützung ein System zur Vermittlung der Geschichte des Holocausts. Sie organisierten didaktisch-methodische Seminare für Lehrer und Dozenten, arbeiteten mit Schülern und Studierenden, veranstalteten Wettbewerbe und Sommerschulen und ermöglichten Praktika in internationalen Holocaust-Zentren. Außerdem gaben sie Lehrmaterialen heraus, die weit über die offiziellen Lehrpläne und Schulbücher hinausgehen und die zahlreiche Lehrer und Dozenten seither verwenden. Lehrern, die sich zum Thema Holocaust ausführlich informieren möchte, legt der Staat keine Hindernisse in den Weg. Anders als zur Sowjetzeit ist der Holocaust kein Tabu mehr, die Auseinandersetzung mit dem Thema in der Schule wird jedoch nicht speziell gefördert. In den westeuropäischen Ländern ist es weit verbreitet, die junge Generation über die Beschäftigung mit dem Holocaust als beispielloser Auswuchs rassistischer Gewalt zu ethnischer und religiöser Toleranz zu erziehen. Finanzielle Unterstützung erhalten die ukrainischen NGOs daher vor allem aus dem Ausland. Wichtige Partner für ukrainische NGOs sind das Anne-Frank-Museum, die niederländische Regierung und die Task Force for International Cooperation on Holocaust Education, Remembrance, and Research. In der Ukraine erfahren solche Projekte keine große Aufmerksamkeit. Die ukrainischen NGOs stellen mittlerweile allerdings ein bedeutendes Segment der bürgerlichen Gesellschaft in der Ukraine dar, erhalten jedoch – anders als in anderen Ländern – kaum staatliche Unterstützung. Während Partnerinstitutionen des Ukrainischen Zentrums zur Erforschung des Holocaust, die ebenfalls zwischen 2002 und 2004 gegründet wurden, etwa das Zentrum zur Erforschung des Holocausts und religiöser Minderheiten in Oslo, das Zentrum zur Erforschung des Holocausts und anderer Völkermorde in Amsterdam und das Institut zum Gedenken an den Holocaust in Bukarest heute permanent vom Staat unterstützt werden, fehlt in der Ukraine jegliche moralische, institutionelle oder finanzielle staatliche Beihilfe. Positionen zum Holocaust in Politik und Gesellschaft In der Ukraine gibt es keine offizielle Erinnerung an die Schoa. Es gibt kein staatliches Museum zur Geschichte des Holocaust. Schauplätze von Massenhinrichtungen sind nicht ausgewiesen. In Babyj Jar gibt es keine Gedenkstätte. Der 27. Januar, der internationale Tag zum Gedenken an die Opfer des Holocaust wird nicht staatlich begangen. All das, obwohl die Ukraine im Jahre 2000 die Stockholmer Deklaration unterzeichnete. Die zahlreichen Denkmäler und Gedenktafeln, die überall im Land Orte kennzeichnen, wo sich Ghettos befunden oder Hinrichten stattgefunden hatten, gehen auf jüdische Gemeinden, nichtstaatliche Einrichtungen, Privatpersonen und individuellen Spenden zurück. Laut Omer Bartov befinden sich diese Mahnmale jedoch im Abstellraum der öffentlichen Erinnerung. Bisher lässt sich keine Bereitschaft des Staates erkennen, diese Gedenkstätten zumindest zu erhalten. Auch der Blick in Wissenschaft und Bildungspolitik veranschaulichte bereits, dass die ukrainische Regierung kein Interesse daran hat, eine Auseinandersetzung mit dem jüdischen Leben und dem Holocaust in der Ukraine zu fördern. Nach 1991 wurden in verschiedenen Landesteilen Denkmäler und Museen für die Organisation Ukrainischer Nationalisten (Organizacija Ukraїns’kich Nacionalistiv, OUN) und die Ukrainische Aufstandsarmee (Ukraїns’ka Povstans’ka Armija, UPA) errichtet. Es scheint, als würde die Geschichte der Juden während des Zweiten Weltkriegs mit nationalen Denkmälern „überbaut“, um die „andere Opfernation“ zu vergessen. Wie vormals die sowjetischen Machthaber verschleiert die ukrainische Regierung die Tatsache, dass die Opfer des Holocaust vor allem Juden waren. Die meisten Politiker sehen den Holocaust nicht als Teil der ukrainischen Geschichte, sondern als Tragödie eines anderen Volkes, das selbst für die Erinnerung daran verantwortlich sei. In der Öffentlichkeit wird das Thema Holocaust kaum diskutiert. Statt eines Gedenkens an den Holocaust zeichnet sich eine „Konkurrenz der Opfer“ ab. Sogenannte „Forscher“ wiegen die Zahl der Holodomor-Toten gegen die Zahl der Holocaust-Opfer auf und prägten für den Holodomor die inkorrekte Bezeichnung „ukrainischer Holocaust“. Es wäre durchaus gerechtfertig, die Mechanismen und Charakteristika des Holodomor und des Holocaust vergleichend zu analysieren, eine Gleichsetzung ist aber völlig unangebracht. Die Ausblendung des Holocaust in der Ukraine ist darauf zurückzuführen, dass die Ukraine offiziell keine Verantwortung für die Erinnerung an das Vergangene übernimmt, weil weder die nationalsozialistischen noch die stalinistischen Verbrechen juristisch und historisch aufgearbeitet sind. So fehlt ein brauchbares Modell für die Erinnerung an die Geschichte des 20. Jahrhunderts und des Zweiten Weltkriegs. Dem deutschen Historiker Wilfried Jilge zufolge verstellt der Mangel an Informationen über die ukrainisch-jüdischen Beziehungen während der deutschen Okkupation und den Holocaust in der Ukraine nicht nur den Blick auf die „dunklen Seiten“ der Nationalgeschichte, sondern auch auf den Mut und die Selbstlosigkeit vieler Ukrainer, die Juden retteten. Die Konzentration der ukrainischen Geschichtsschreibung auf den Nationalstaat und einen monoethnischen Geschichtsentwurf verhindere die Überwindung von Stereotypen und Vorurteilen über die „antisemitischen Ukrainer“. Wege aus der Sackgasse Die Erinnerungskultur in der Ukraine steckt somit in einer Sackgasse. Den Ausweg weisen nicht totalitäre Erinnerungsmodelle, die nur schwarz und weiß aber keine Zwischentöne zulassen, sondern eine offene Diskussion, die von dem Wunsch geleitet ist, auch das „Andere“ zu akzeptieren. Womöglich liegt Wilfried Jilge richtig in der Annahme, die Summe unterschiedlicher Kriegserfahrungen (der ukrainischen, jüdischen, tatarischen, polnischen, sowjetischen etc.) diene der nationalen Konsolidierung der Ukraine mehr als offizielle Erklärungen und Beschlüsse, die nur eine einzige Lesart der Geschichte gelten lassen. In vereinzelten, isolierten Geschichten kommen voneinander isolierte Erinnerungen zum Ausdruck. Jede ist für sich genommen einseitig. Die Gefahr, dass dadurch Aggressivität und Intoleranz in der ukrainischen Gesellschaft zunehmen, ist groß. Die Lösung kann nur darin bestehen, Geschichte verantwortungsvoll anzunehmen und den Austausch und die Versöhnung der konkurrierenden Narrative zu fördern. Der deutsche Historiker Guido Knopp schreibt, der Holocaust sei Teil der deutschen und seiner persönlichen Geschichte, und jeder sei für die Erinnerung an die Vergangenheit verantwortlich. Noch steht die ukrainische Gesellschaft vor der Aufgabe, diese Verantwortung zu übernehmen. Aus dem Russischen von Christiane Körner, Frankfurt/Main
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