Titelbild Osteuropa 7/2008

Aus Osteuropa 7/2008

Editorial
Das halbierte Bewusstsein

Volker Weichsel, Manfred Sapper


Abstract in English

(Osteuropa 7/2008, S. 3–4)

Volltext

Die Schieflage besteht fort. Wer das erste Halbjahr des großen Jubiläumsjahres in Deutschland Revue passieren lässt, wer den Veranstaltungsreigen besucht hat und die Publikationen liest, reibt sich verwundert die Augen. Das halbierte Bewusstsein aus dem gespaltenen Europa ist noch immer am Werke – als hätte sich die Welt seitdem nicht fundamental verändert. Der Ost-West-Konflikt ist seit zwanzig Jahren Geschichte. Zur EU gehören längst Ungarn, die baltischen Staaten und Slowenien, vor allem aber Polen, Tschechien und die Slowakei, die 1968 im Blickpunkt der Weltöffentlichkeit standen. Selbst Russland als Teil Europas jenseits der EU ist wirtschaftlich, politisch, kulturell so eng mit Berlin, Brüssel, Paris und Rom verbunden wie niemals zuvor. Moskau spielte 1968 eine Schlüsselrolle ganz eigener Art, über die wir Neues erfahren können, seit Hunderte von Dokumenten über den Prager Frühling aus den Archiven des Zentralkomitees der KPdSU an die Öffentlichkeit gelangt sind. Dass 1968 eine Zäsur war, ist unbestritten. Dass die Ereignisse von damals Europas politische Kultur verändert und bis heute Auswirkungen haben, wird kaum einer ernsthaft bestreiten. Und doch liegt bei der deutschen Selbstvergewisserung, was 1968 war und was es heute bedeutet, die Hälfte des Kontinents viel zu oft weiter im Dunkeln. Es ist grotesk: Die Veteranen von damals, die sich für Internationalisten hielten und auch das Jubiläumsjahr prägen, bleiben selbst im Rückblick am nationalen Tellerrand hängen. Wenn sie es doch einmal schaffen, den Blick zu heben, schauen sie nach Westen – auf den Pariser Mai oder nach Amerika. Doch was den Osten angeht: Fehlanzeige. Sie reproduzieren damit das, was 1968 weite Teile des SDS und der APO praktizierten. Dabei könnte die Einbeziehung des östlichen Europas in den europäischen Erinnerungshorizont zwei Einsichten befördern. Erstens: Es gibt eine direkte Verbindung von 1968 nach 1989. Es ist das Enzym der Mündigkeit, der Autonomie, der Freiheit. Dieses Ferment gärte in Polen seit 1956 und brach sich im „polnischen März“ 1968 endgültig Bahn. Durch Repression konnte dieses Freiheitsstreben nicht mehr unterdrückt werden – weder in Polen noch in der Tschechoslowakei, noch in der Sowjetunion. Der „polnische März“ ist der Ausgangspunkt einer Entwicklung, die über den Prager Frühling, die Charta 77 und vor allem die Solidarność zur Überwindung der autoritären kommunistischen Regime führte. Zweitens: Aus einer langfristigen Retrospektive zeigt sich, dass gerade diese kommunistischen Regime, die sich in Polen und in der ČSSR vorübergehend durchsetzten, zu ihrer eigenen Abschaffung den größten Beitrag leisteten. Die antisemitische Kampagne in Polen oder der Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in der Tschechoslowakei, der den kurzen Prager Frühling beendete, waren Pyrrhussiege. Die „sozialistischen Bruderländer“ wollten kein „menschliches Antlitz“. Sie diskreditierten den Sozialismus und entzogen ihren eigenen autoritären Regimen nachhaltig die Legitimation. Durch ihre Repressionsapparate konnten sie sich vorübergehend halten. Aber Macht gründet nicht auf Zwang und Gewalt. Ihre politische Legitimität hatten diese Regime 1968 verspielt und konnten sie nie mehr zurückgewinnen. Eine lange Agonie setzte ein. Sie endete 1989. Der Kommunismus als politische Idee ist seitdem klinisch tot.