Orte und Schichten der Erinnerung
Annäherungen an das östliche Europa
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Abstract in English
Abstract
Ostmittel- und Osteuropa war die Kernzone der Weltkriegs- und Revolutionsepoche. Hier tobte in präzedenzloser Form die Gewalt. Die Region geriet zwischen die Fronten von Nationalsozialismus und Sowjetkommunismus, sie war der Hauptschauplatz von Kriegen, sozialer und ethnischer Säuberungspolitik, des Genozids an den Juden, der Kriegführung der verbrannten Erde und großer erzwungener Bevölkerungs- und Fluchtbewegung. Es gibt keine Sprache, die all das auf einen Nenner bringen könnte. Erst wenn all jene namenlosen Millionen Opfer dieser Gewaltentfaltung benannt sind, kann ernsthaft von einer europäischen Erinnerung gesprochen werden.
(Osteuropa 6/2008, S. 1326)
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Places and strata of memory
Volltext
Für eine Annäherung an das östliche Europa ist Leipzig ein sehr guter Ort.[1] Für die weiter aus dem Westen Kommenden ist die Stadt schon eine Station auf halber Strecke in das östliche Europa, auch wenn es mit den Zugverbindungen dorthin nicht so gut bestellt ist, wie man es sich vor 20 Jahren, als der Eiserne Vorhang verschwand, vielleicht erträumt hatte. Leipzig ist über tausend Fäden mit dem östlichen Europa und seiner Geschichte verbunden – man denke nur an die Gründung seiner Universität, an den Verlauf der Fernhandelsstraßen, an deren Knotenpunkt die Messe entstand, aber auch an die Rolle der Messe in der Zeit des Kalten Krieges – jene Schleusenkammer, jener jährlich für einen Augenblick geöffnete Kontakthof zwischen den Hemisphären – und erst recht an die erneute Zuwendung des heutigen Leipzig, die zu einem Markenzeichen seiner Buchmesse und seiner Wissenschafts- und Forschungslandschaft geworden ist. Was soll ein von draußen kommender also an einem Ort, der so nah dran ist – geographisch, kulturell, wissenschaftlich – sich den Mühen einer Annäherung unterziehen? Noch dazu, wo das Thema so allgemein und vage ist und keine Frage formuliert, auf die man dann eine Antwort geben können muss? Solche Themenformulierungen entstehen immer lange vor dem Vortragstermin, wo alles noch im Vagen gelassen werden kann und eher etwas angedeutet werden soll. So auch in diesem Falle. Die Begriffskette „Erinnerungsgeschichte, Erinnerungsorte, Erinnerungsschichten“ ist mehr eine Assoziation und soll eher ein Thema einkreisen.
- Erinnerungsgeschichte steht für die nicht-triviale und allzu oft vergessene Einsicht, dass Erinnerung selber eine Geschichte, einen geschichtlichen Ort hat. Dies zu sehen, hilft uns zurückhaltend und bescheiden zu sein.
- Erinnerungsorte stehen dafür, dass alle Erinnerung an Orten, an denen sich die Geschichte ereignet hat, haftet. Diese Einsicht erzieht zu einer der Konkretheit und Komplexität der Welt angemessenen Haltung und Wahrnehmung.
- Erinnerungsschichten ist der Name, der beides zusammenbringt: Ort und Zeit, als „Chronotop“, um mit Michail Bachtin zu sprechen, der in einem quasi archäologischen Verfahren freigelegt und erschlossen werden kann.
Was hier als Erinnerungsgeschichte, Erinnerungsorte, Erinnerungschichten aufgefächert ist, lässt sich zusammenfassen oder zuspitzen in der Frage: Wie gehen die Europäer auf ihrem wiedervereinigten Kontinent mit ihren geteilten und je spezifischen Erinnerungen um? Was bedeutet es insbesondere für die Deutschen, sich mit den Erinnerungen „der anderen“ vertraut zu machen, und wie ist es um die Möglichkeit einer gesamteuropäischen Erinnerungskultur bestellt? Ist so etwas wie ein europäischer Erinnerungsraum denkbar?
So rasch geht die Zeit
Es ist fast unglaublich, dass 1989 schon zwanzig Jahre zurückliegt – das ist eine Generationenspanne. Es gibt Schüler und Studenten, die nach dem annus mirabilis geboren sind, für die das alles buchstäblich Vorgeschichte ist. Uns – wie auch immer wir dabei gewesen sein mögen – erscheint es wie gestern. Wer von uns erinnert sich noch daran, dass die U-Bahn in der Zeit, als wir in Westberlin studierten, Bahnhöfe passierte, die zugemauert waren und an denen Grenzer patrouillierten? Wer weiß überhaupt noch, wo die Mauer genau verlaufen ist? Und wer erinnert sich an einen Polenmarkt an der Stelle, wo heute der neue Potsdamer Platz ist, eine sandige Fläche mit abgestellten Wohnwagen und einer ins Nirgendwo führenden Magnetschwebebahn, Philharmonie und Staatsbibliothek wie Weltraumschiffe in einer Grenzlandschaft? Jeder kann Beispiele aus eigener Erfahrung beisteuern: Es gibt inzwischen polnische Studenten an der Viadrina, die – nach der Solidarność geboren – sich nicht sonderlich dafür interessieren, die aber auch schon älter sind als die glitzernde Skyline von Down-town Warschau. Oder: Alle Wege führten früher einmal über Moskau, aber jetzt fliegt man von Rostow-am-Don nach Dubai oder auf die Kanarischen Inseln. Es ist gerade zwanzig Jahre her, da musste man für ein Auslandsgespräch im Central’nyj Telegraf, dem Zentralen Telegrafenamt in Moskau noch Formulare ausfüllen und Stunden Schlange stehen, das war in der Vorhandyzeit. Aber kurz danach, Ende der 1980er, gab es zum ersten Mal und unvergesslich öffentliche Debatten, in denen wirklich etwas verhandelt wurde, und Kundgebungen von Bürgern auf einem quasisakralen Platz, auf dem sonst nur Militärparaden stattgefunden hatten. Oder jener Augenblick: Ein Bürgermeister – Anatolij Sobčak in Leningrad/Sankt-Petersburg sprach die Bewohner seiner Stadt erstmals mit „Meine Damen und Herren“ an. Der Geist einer bürgerschaftlichen Revolution wehte durch das östliche Europa. Seither hat sich vieles wiederum geändert. Wir haben uns an den neuen Zustand schon so sehr gewöhnt, dass wir die lange Agonie und den kurzen Sommer der Anarchie vergessen haben. Vergessen auch, dass erstmals der Krieg wieder nach Europa zurückgekommen war.
20 Jahre sind eine lange Zeit, aber auch eine kurze Zeit, wenn man von Langzeitgedächtnis, von longue durée spricht. Ihre Intervalle sind nicht die von Legislaturperioden, von Kanzlern und Kanzlerinnen, sondern eher von Generationen oder sogar Epochen. So wie sich im Jahre 1989 ganze Generationenhorizonte aufgelöst haben, so sind neue entstanden. Es wäre seltsam, wenn sich mit diesen fundamentalen Veränderungen nicht auch die Erinnerung, unsere Vorstellung von der Vergangenheit ändern würde. Es ist nichts Erschreckendes daran, sondern nur ein Beleg für die Lebendigkeit des Geschichtsbewusstseins, dass jede Generation sich aufs Neue ein Bild macht von der Vergangenheit, neue Fragen an die Vergangenheit richtet, sich diese neu aneignet, ja neu aneignen muss.
Die folgenden Betrachtungen stammen von jemandem, der 1968 und 1989 bewusst miterlebt hat, dessen prägende Erfahrung von Europa aber die der Grenze war. Ich rechne mich der Marienborn-Generation zu: es sind jene, deren innere Landkarte von dieser Erfahrung geprägt worden ist: vom Zug, der angehalten und kontrolliert wird, wo die immergleichen stupiden Fragen nach Sprengstoff und Schusswaffen gestellt wurden, wo Literatur beschlagnahmt wurde von Grenzbeamten, die selber gerne über die Grenze gefahren wären, wenn sie nur gekonnt hätten.
Veränderte Koordinaten
Die Wende von 1989 hat einen neuen Erfahrungsraum geöffnet. Die Koordinaten, in denen die Generationen nach dem Krieg aufgewachsen sind, haben sich grundlegend verändert. Es gab plötzlich kein Ost oder West mehr, sondern etwas dazwischen, das mittlere Europa. Städte, die jahrzehntelang unerreichbar waren, waren plötzlich in die Nachbarschaft gerückt. Städte und Landschaften, die man nur aus der Literatur, aus Filmen oder aus der familialen Erzählung kannte, waren mit einem Mal erreichbar.[2] Man konnte sich darin bewegen und umsehen. Mit dieser Öffnung änderte sich fast alles: der Erfahrungsraum, der Aktionsradius, die Urlaubspläne und vielleicht sogar die Lebensplanung. Nun konnte man nach Prag und Krakau zum Studieren gehen, nicht nur nach Montpellier oder Oxford. Es sind die langfristigen, eher unmerklichen Veränderungen, die prägen: die Herausbildung von neuen Achsen zwischen den europäischen Zentren – so kommt es, dass über die alten nationalstaatlichen Grenzen längst andere Wege und Achsen hinwegführen, metropolitan corridors, Zonen der Hochgeschwindigkeit, von High tech, Plastikgeld, Internet und einem way of life, der überall, wohin man kommt, identisch ist; dieses neue Europa wird zusammengehalten von Tag für Tag sich neu knüpfenden Netzwerken, in denen Güter, Menschen, Ideen zirkulieren, mächtige Kriechströme zwischen Rotterdam und Moskau, zwischen Malmö und Rom, an denen die Routinen des ganzen Kontinents hängen. Diese Korridore, diese Kriechströme, die über die alte Grenze hinwegführen, sind die wahren Säulen des europäischen Zusammenhalts. An ihnen hängen die Routinen des Austausches, des Zusammenlebens, des europäischen Alltags vielleicht mehr als an den Beschlüssen von Brüssel, Straßburg, Bologna oder Lissabon. Man sollte die kulturellen Folgen dieser „Banalität des Alltags“ nicht unterschätzen: Europa wird neu gemischt, es bekommt seine rumänische und ukrainische community in Neapel und Barcelona, seine Russen in Berlin und Stockholm, seine expat-communities in Prag und Moskau. Istanbul ist ganz unabhängig von irgendwelchen EU-Beitrittsverhandlungen eine europäische Metropole – man muss nur auf die Flughäfen gehen. Die Pendelbewegungen gehen längst über die Grenzen hinweg – man muss nur am Check-in-Schalter in Krakau stehen, wenn die Maschine nach Dublin oder Manchester abfliegt. An der Überwindung der alten Grenze arbeiten gewaltige Kräfte, man muss daher nicht pessimistisch sein. Die Karte, die da entsteht, hat nur noch wenig zu tun mit der Diercke-Schulwandkarte, mit der ich groß geworden bin: mit den verschieden kolorierten Nationalstaaten, den daumendick oder nur gestrichelt als provisorisch gekennzeichneten Grenzen Nachkriegseuropas. Die neue Karte erinnert mehr an die der frühen Neuzeit, an die Fernhandels- und Pilgerwege, an die Verbindungen zwischen heiligen Städten und Routen des Weltverkehrs. Peripherie und Zentrum, Ferne und Nachbarschaft – alles wird neu justiert. Auf dieser Karte des neuen Europa sind sogar die allerneuesten Schauplätze kommender Clashs eingetragen: die Londoner Subway Station Tavistock Road, die Moskauer Metro, der Vorortbahnhof von Madrid-Antocha, wo die Bomben hochgegangen sind. Auf diesen neuesten Karten wird eingetragen, wo Europa am verwundbarsten und verletzlichsten ist – in den öffentlichen Räumen seiner Metropolen.
Asymmetrie der Wahrnehmung, Asymmetrie des Interesses
Bekanntlich gab es in dem, was bis 1989 Westeuropa hieß, keinen run nach Osten. Das Interesse war mäßig, sogar in einem einst geteilten Deutschland. Ganz anders im östlichen Europa. Dort hatte man sich schon immer mehr für das interessiert, was im Westen passierte: für Literatur, Ideen, Moden, vor allem aber: Freiheit. 1989 war nun die große Chance, sich selber umzusehen, und sie brachen auf, zu Millionen, zur Stippvisite, zur Bildungs- und Erkundungsreise, zum Studium, dann auch auf der Suche nach besserem Arbeitsverdienst. Das östliche Europa holte nach, was ihm so lange vorenthalten worden war: eine Explorationsbewegung größten Ausmaßes. Das kann man vom westlichen Europa – auch dies nur noch ein Hilfsbegriff – nicht sagen. Die Neugier hielt sich in Grenzen, zeitweilig überwogen sogar allerlei Befürchtungen (Ansturm von Arbeitssuchenden, Abwanderung der Industrien, wachsende Kriminalität usf.). Und doch bleibt nichts, wie es war. Neue Erfahrungen sickern ein, man muss sich neu orientieren. Alles braucht seine Zeit, aber es geschieht unvermeidlich, denn auch „den“ Westen als altvertraute Region gab es so nicht mehr. Auf die Abwicklung Ost folgte die Abwicklung West. Das erweiterte Europa ist nicht die alte „EU plus Beitrittsländer“, sondern ein Europa, das neu zusammengesetzt wird, das sich neu vergewissert und anfängt, sich von sich selbst ein neues Bild zu machen. Das neue Europa ist etwas anderes und mehr als nur die Addition von Ost- und Westeuropa.
Asymmetrie der Erinnerung. Langzeitfolgen der Teilung
Europa hat in der halbhundertjährigen Zeit seiner Teilung verschiedene und unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Wer welche Erfahrungen gemacht hat, verdankte sich den Zufällen der Geopolitik am Ende des Zweiten Weltkrieges. Europa hat sich sozial, politisch, kulturell, mental auseinanderentwickelt, sodass vieles heute als Innovation erscheint, was längst schon einmal Wirklichkeit war in der Zeit vor den Weltkriegen. Diese Unterschiedlichkeit der Erfahrung produziert unterschiedliche Zentren des geschichtlichen Interesses, eine unterschiedliche Perspektive, eine unterschiedliche Sensibilität für unterschiedliche Themen. Seltsam, wenn dem nicht so wäre. In der Wahrnehmung der jüngsten Vergangenheit gibt es andere Zäsuren mit anderen Bedeutungen. Welches Datum man auch nimmt, es knüpfen sich daran verschiedene Erfahrungen: Denken wir nur an 1918, 1937, 1938, 1939, 1941 oder 1945. Und für die Nachkriegszeit: wie unterschiedlich werden die Daten von 1948, 1953, 1956, 1961, 1968, 1981, sogar 1989 erinnert. Mit jedem Datum ist eine spezielle Erfahrung und Perspektive verbunden. Diese unterschiedlichen Erfahrungen lassen sich nicht einfach und nach Wunsch in einem „gesamteuropäischen Narrativ“ zusammenfassen.
1989 und die Inkubationszeit
Das annus mirabilis ist gleichsam die Chiffre für die Wiederkehr des geschichtlichen Gedächtnisses, für die Wiedergewinnung der Sprache und für die Reformulierung der nationalen Narrative. Aber die Vorstellung vom annus mirabilis, in dem alles anders wurde, ja sogar die Rede von der „Wende“ ist zu plakativ und nicht ganz zutreffend. Es gab keine Stunde Null, sondern es trat an die Oberfläche, was lange vorbereitet war. 1989 war Resultat einer langen Inkubationszeit, die wieder sehr unterschiedlich verlaufen ist in jedem „Ostblock“-Land. Jedes Land hatte seine eigene Erfahrung mit dem Kommunismus, ja seinen eigenen Nationalkommunismus, seine eigene Entstalinisierungserfahrung, eigene Kulminationspunkte, Persönlichkeiten und Milieus. Auch in dieser Hinsicht zeugen manche Belehrungen, die aus Deutschland zu hören sind, von Ahnungslosigkeit. Es gibt eine eigene Geschichte der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die älter ist als die „Wende“.
Und doch: 1989 war auch die Zeit des Bildersturms und der gestürzten Denkmäler. Fast alle „historischen Augenblicke“, an denen diese Zeit so reich war und die uns wie nie zuvor live übermittelt worden sind, waren begleitet oder akzentuiert von Denkmälern, die gestürzt, und von Denkmälern, die neu errichtet worden sind. In Moskau hob ein Krupp-Kran mit Unterstützung von Bergsteigern Feliks Dzeržinskij vom Sockel des Denkmals vor der Lubjanka, und wenig später wurde auf der Verkehrsinsel vor dem Gebäude, in dem nach wie vor der Geheimdienst residiert, ein Felsblock vom ersten Konzentrationslager der Sowjetunion, den Solovki-Inseln, aufgerichtet. Es fielen die Insignien der alten Macht, die Nationalhymnen, die Flaggen, und es wurden neue entworfen oder alte, vorrevolutionäre wieder eingeführt. Kathedralen, die im Bildersturm von einst in die Luft gejagt worden waren, wurden in Rekordzeit wiedererrichtet. Überall die Wiederkehr von Symbolen und Geistern, die man historisch für erledigt gehalten hatte.
Die Archive, die Depots, in denen das Gedächtnis der Gesellschaft, der Nation gespeichert ist, wurden geöffnet. Eine Geschichtsarbeit, die bisher unter normalen Verhältnissen nur außerhalb des Landes, „im Westen“, hatte geleistet werden können, kam in Gang, mit einer Flut von Entdeckungen, Dokumentenpublikationen, Quelleneditionen, die niemand mehr zu stoppen in der Lage war. Die Opfer, um die sich bisher niemand gekümmert hatte, bekamen nun endlich ihre Namen, ihre Gesichter, ihre Physiognomie, ihre Würde zurück.
Kurzum: Es entstand ein Raum, in dem sich die Normalisierung der geschichtlichen Erinnerung überhaupt erst vollziehen konnte. Es war die goldene Zeit der Reprints, die Zeit, in der eine Flut lange zurückgehaltener oder in den Schubladen liegender Erinnerungen losbrach, eine Zeit der Selbstentdeckung, Selbsterkundung und Selbstbeschreibung. Genres, die verschwunden und vertrocknet waren, entstanden neu: Biographien, Stadtbeschreibungen, Karten von Orten, über die es aus Geheimhaltungsgründen nie wahrheitsgemäße Karten gegeben hatte. Tote wurden exhumiert und umgebettet – so die Opfer der Niederschlagung des Ungarischen Aufstandes 1956 oder die im Exil gestorbenen Koryphäen russischer Kultur und Gelehrsamkeit. Eine Bewegung der Restaurierung setzte ein: Palais und Kirchen, die zu Lagerhallen oder öffentlichen Toiletten geworden waren, wurden – oft im letzten Augenblick – wieder hergestellt.
Die Doppelerfahrung des östlichen und mittleren Europa als Erfahrungs- und Erkenntnisprivileg
Das östliche und mittlere Europa war der Hauptschauplatz der Weltkriegs- und Revolutionsepoche, des 30-jährigen Krieges und der mit ihm verbundenen und in vieler Hinsicht präzedenzlosen Gewaltentfaltung. Diese Region des Kontinents geriet zwischen die Hauptfronten des europäischen Bürgerkrieges, zwischen Nationalismus und Kommunismus, zwischen deutschen Nationalsozialismus und Sowjet-Kommunismus. Es ist der Hauptschauplatz des Genozids an den europäischen Juden, einer systematischen sozialen und ethnischen Säuberungspolitik, das Aufmarschgelände der größten Kriegsmaschinen und der verbrannten Erde, großer erzwungener Bevölkerungs- und Fluchtbewegungen, und einer Befreiung, die in vieler Hinsicht Ablösung der einen durch eine andere Fremdherrschaft war. Es gibt keinen Punkt auf der Landkarte dieser Region, keine Familie, keine Biographie, die nicht von dieser Doppelerfahrung gezeichnet waren. Es handelt sich um die Kernzone des „Jahrhunderts der Extreme“. Diese Tatsache ist noch nicht überall in Europa angekommen. „Krieg ist Krieg, Besatzung ist Besatzung“ heißt es – aber zugleich stimmt: es gibt verschiedene Kriege und Besatzungsregime, die nicht dieselben sind, es gibt Orte, auf denen es kein Entkommen mehr gab, in keine Richtung. Auf den mental maps der mittleren und östlichen Europäer finden sich Namen, die im Westen oft nur exotisch klingen – Trostinec, Solovki, Katyn, Vinnica, Babij Jar. Diese extrem verschiedenen Erfahrungen zusammenzudenken, lässt sich nicht im Hauruckverfahren bewerkstelligen, sondern braucht Zeit. Es gibt kein Schema F für den Umgang mit der Geschichte, es gibt kein „deutsches Modell“, das manche gerne exportieren möchten, da es Situationen gibt, die ungleich komplizierter sind als der deutsche Fall.
Deutsche und sowjetische Herrschaft haben dafür gesorgt, dass alle Vorgänge heillos ineinander verwoben und verwirrt sind, dass die inneren Prozesse in diesen Ländern sich verbunden haben mit Interventionen von außen, so dass Ursache und Wirkung, Verantwortlichkeit und Schuld, der ganze Komplex der Zuständigkeit äußerst unübersichtlich und schwierig zu entscheiden ist. Es bedarf einer eigenen Sprache, um die Doppelerfahrung des Massenmordes am polnischen Offizierskorps im Wald von Katyn und die Vernichtungspolitik der deutschen Einsatzkommandos im Generalgouvernement zusammenzubringen. Dies gilt fast für alle anderen Staaten „dazwischen“ auch. Die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung in Litauen, Lettland und Estland durch deutsche Einsatzkommandos und die Massendeportationen eines großen Prozentsatzes der Bevölkerung dieser Länder durch den sowjetischen NKVD gehören zusammen, und sie in einem Atemzug zu nennen, gibt eine historische Erfahrung wieder, ist nicht Gleichsetzung und Verharmlosung und Apologetik – jedenfalls nicht von vornherein. Der Streit um die Beseitigung von Denkmälern für die Rote Armee in Lettland und Estland ist eine ungemein komplizierte Angelegenheit, so kompliziert, dass man sie am liebsten nicht berührt sehen möchte, weil die Zeit noch nicht reif ist und der Takt sich noch nicht ausgebildet hat, um allen darin Involvierten – den Soldaten der Roten Armee, die ihr Leben für die Befreiung von der deutschen Besatzung gegeben haben, und den Esten, die zum Opfer einer neuen Besetzung geworden sind – Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Mit einer Kultur der bedingten Reflexe ist hier gar nichts auszurichten. Man muss hier erst einmal zuhören und sich in eine Erfahrung vertiefen, bevor man Urteile abgibt und kurzen Prozess macht.
Ein zweites Beispiel für die unerhörte Kompliziertheit ist eine so lange kommunistische Herrschaftszeit wie die in der UdSSR, die ja immerhin mehrere Generationen betroffen hat. Hier wären zunächst die Sequenzen von Sterben und Tod, von denen meist keine Vorstellung herrscht, zu erwähnen: Ein erster Weltkrieg, dessen Opfer vergessen sind, weil sie immer im Schatten des folgenden Bürgerkrieges und der von ihm ausgelösten Hungersnöte gestanden hatten. Die Sequenz der Hunderttausenden, ja Millionen von Toten, die im Verlauf der Kollektivierung und der Massendeportationen der sogenannten „Kulaken“ ums Leben gekommen sind, nicht zuletzt jene halbe Million Menschen, die binnen eines knappen Jahres – während des Großen Terrors 1937 – umgebracht wurde. Dies alles aber im Schatten einer Katastrophe des Zweiten Weltkrieges, die rund 27 Millionen Menschenleben auf sowjetischem Territorium forderte – gar nicht zu reden von der Hungersnot der ersten beiden Friedensjahre. Es gibt – trotz Aleksandr Solženicyn und Vasilij Grossman – keine Sprache, die all das auf einen Nenner bringen könnte. Es hat für Jahrzehnte keinen Raum gegeben, in dem die Namen, die Schicksale, die Gesichter hätten gezeigt, zu Gehör gebracht werden können. Es gab viele Gründe für dieses Schweigen: ein Regime, das von seinen Verbrechen nichts wissen wollte und Angst hatte, zur Verantwortung gezogen zu werden; die Abwesenheit einer Siegermacht, die ein zweites Nürnberg hätte veranstalten können; die Scham der aus den Lagern Zurückgekehrten, als „Feinde des Volkes“ Verurteilten, von ihren Leiden zu sprechen. Vor allem aber ist es die Kompliziertheit der Verhältnisse selbst. Viele, die in den Säuberungen Opfer geworden waren, sind zuvor, in der Kollektivierung, Täter gewesen. Viele, die in der Säuberung nach oben gekommen sind, sind im Großen Vaterländischen Krieg in den Fleischwolf des Krieges geraten. Ganze Jahrgänge sind so aus dem Zyklus der Generationen verschwunden. Viele, die „mitgemacht“ haben, sind selber zum Opfer des Systems geworden – eine Situation, auf die sich die ausschließlich auf das deutsche Desaster Fixierten kaum einen Reim machen können.
Es besteht für mich kein Zweifel, dass erst dann, wenn all jene namenlosen Millionen benannt, erwähnt, zu Gehör gebracht sind, dass erst dann ernsthaft von einer europäischen Erinnerung gesprochen werden kann. Es gibt mehrere Epizentren der europäischen Fortschritts- und Leidensgeschichten, und niemand hat das Recht, von den einen Opfern zu sprechen, aber die anderen zu verschweigen.
Ende der Flucht nach Westen
Im Jahre 1989 ist Deutschland in gewisser Weise von Europa eingeholt worden, die Deutschen sind nach dem Ende der Teilung in die Einheit entlassen worden. Ihnen rückt eine Geschichte wieder nah und sie rücken in ein Netz von Beziehungen ein, das sie selber zerstört und aus dem sie sich selber herauskatapultiert hatten. Nun lag die ganze Geschichte wieder vor Augen – und das Gelände, in dem sie sich ereignet hatte. Da gab es die Geschichte der Zerstörung, aber auch eine Geschichte davor, Jahrhunderte und Generationen, in denen die Deutschen selbstverständlicher und fester Teil des östlichen Europa waren. Die deutsche Geschichte, die manche als „langen Weg nach Westen“ sehen, ist wieder dort angekommen, wo sie sich immer abgespielt hat, im mittleren Europa. Damit kehren auch alte historische Beziehungen in den deutschen Horizont zurück. Es zeigt sich nun, dass es eine Geschichte vor der Katastrophengeschichte gegeben hat, eine Geschichte, die nur wenig bekannt ist, und die älter ist als die Nation und der Nationalismus, und eine, die zu studieren sich durchaus lohnt.
Ausweitung des geschichtlichen Horizonts
Die westlichen Europäer, die ihre östlichen Nachbarn verstehen wollen, werden nicht darum herumkommen, sich mit deren Erfahrungen zu beschäftigen. Das ist nicht wenig verlangt, und die Warnung vor einer allzu großen „Fernsten-Erinnerung“ liegt nahe. Es gibt schlicht Grenzen des Wissens, der Anteilnahme, der Fähigkeit, sich in andere Erfahrungswelten hineinzudenken. Bekanntlich hat es sogar in Deutschland ziemlich lange gedauert, bis man in dem Schatten, den Auschwitz geworfen hat, endlich auch die anderen gesehen und anerkannt hat: die Polen, die sowjetischen Kriegsgefangenen, die Zwangsarbeiter. Die europäische Geschichte endet nicht an der heutigen EU-Außengrenze. Eine Erinnerung, die nichts übrig hat für die Opfer des Terrors in der Sowjetunion Stalins, und eine Erinnerung, die nicht auch die Insassen des GULag einschließt, ist in einem bestimmten Sinne selektiv, unglaubwürdig und wenig europäisch.
Geschichtsrevisionen und Kampf um Deutungshoheit
1989 war der Beginn einer stürmischen Neu- und Umbewertung der Vergangenheit – der letzten 50 Jahre, manchmal auch der ganzen Nationalgeschichte. In jedem Land ging das auf verschiedene Weise vor sich und umfasste das ganze Spektrum von beherzter und gründlicher Aufarbeitung bis zu Reideologisierungen und neuen Mythenbildungen. Die Auseinandersetzung spielte sich auf vielen Ebenen ab: im Kampf um Denkmäler, Straßennamen, Lehr- und Schulbücher, öffentliche Kontroversen um für das kollektive Bewusstsein zentrale Daten, Jubiläen, Feiertage, die Errichtung von Gedenkstätten und Museen. Fast jedes Land hat hier seine dramatischen Höhe- und Knotenpunkte, seinen Denkmalstreit. Fraglos ging es um Reinterpretationen des Geschichtsbildes, die fällig waren; ebenso oft ging es aber um veritable Kämpfe um die Deutungshoheit und Meinungsführerschaft. Die Tilgung von „weißen Flecken“ an der einen Stelle war oft verbunden mit dem Entstehen neuer „weißer Flecken“ an einer anderen. Und selbstverständlich geht es nicht um bloße Fragen der Geschichtswissenschaft und des Geschichtswissens, sondern um Fragen der nationalen oder kollektiven Identität, um die Gültigkeit oder Außerkraftsetzung einer sogenannten Meistererzählung.
Der Vergangenheitsdiskurs ist in vielen Fällen nur die verklausulierte und maskierte Form einer aktuellen politischen Auseinandersetzung, ein Stellvertreterkampf, ausgetragen in historischen Kostümen. Das macht sie interessant, relevant, aber auch gefährlich: Auseinandersetzungen um Geschichtsfragen werden instrumentalisiert für tages- und oft parteipolitische Interessen.
Es ist eine Frage der politischen Kultur, auch der Geschichtskultur, des Umgangs mit der Vergangenheit, wie solche Kontroversen ausgetragen werden: sachlich oder polemisch, forciert oder gelassen, ideologisch oder aufklärerisch, pluralistisch oder monolithisch, besserwisserisch oder einfühlsam, denunziatorisch oder an Aufklärung interessiert, nostalgisch oder gegenwartsbewusst. Es ist wie immer der Ton, der die Musik macht. Eine solche Geschichtskultur entsteht nicht über Nacht, und auch in Deutschland, wo man so stolz auf das Geleistete in Sachen Vergangenheitsbewältigung, Geschichtspolitik etc. ist, hat es eine Weile gedauert und ist nicht ohne heftige Konflikte abgegangen. Warum sollte es anderswo nicht ebenso seine Zeit brauchen. Neue angemessenere, „wahrere“ Geschichtsbilder lassen sich nicht dekretieren, sondern entstehen in einer ziemlich komplizierten Auseinandersetzung.
Es gibt kein „Osteuropa“ an sich. Auch kollektive Erinnerungen sind speziell
So fraglos die Doppelerfahrung von Krieg und totaler Herrschaft das mittlere und östliche Europa geprägt hat, so war diese Geschichte immer eine Geschichte vor Ort, d.h. spezifisch. Daher gibt es überall eigene Diskurse, die um die je eigenen „Fälle“ kreisen – seien dies positive Helden, oder – was häufiger der Fall ist – um Traumata. Ich wage es nicht, hier eine Liste aufzumachen. Die Auflistung der Debatten wäre weder vollständig noch gerecht. Die Diskussion um das Rotarmisten-Denkmal in Tallinn, SS- oder wechselweise NKVD-Kollaborateure in Riga, antijüdische Pogrome in Kaunas, die Debatte um Jedwabne und Kielce in Polen, die Minderheitenfrage und die Behandlung der Deutschen bzw. Ungarn nach dem Krieg in der Tschechischen Republik, der Streit um ein Denkmal für Bandera in Lviv, der Streit um das „Haus des Terrors“ in Budapest, um das Sighet-Memorial in Rumänien, die Auseinandersetzungen in Russland um die Öffnung der Archive, um die Auffindung der Orte der Massenexekutionen, um die „große nationale Erzählung“ in den Schulbüchern. Und eine Geschichte Nachkriegs-Deutschlands könnte man geradezu als eine Doppelgeschichte entlang der Geschichtsdiskurse schreiben – von den Debatten um das Holocaust-Memorial, die Wehrmachtsausstellung, einzelne Bücher oder Autoren wie Grass, bis zur Frage der Errichtung eines zentralen Museums, das an die Geschichte der deutschen Heimatvertriebenen erinnert.
Erinnern und Gedenken: Wieviel Erinnern erträgt oder braucht der Mensch
Es gibt eine Erinnerung, die vergeht: nämlich die aus eigener Erfahrung gespeiste, unmittelbare Erinnerung. Sie stirbt mit den Menschen und wird abgelöst durch ein Andenken und Gedenken, das vermittelt ist. Es kommt die Zeit, da es keine unmittelbare Erinnerung mehr geben wird. Wir, die Nachgeborenen, können die Erfahrungen, die andere gemacht haben, nie einholen. Und es gehört auch zu einer Gedenkkultur – im Unterschied zu einem zur Routine gewordenen Betrieb – dass sie diesen Unterschied respektiert. Sich in den Erfahrungshorizont einer anderen Generation hineinzudenken, ist nicht Sache eines Crashkurses oder gut gemeinter Ermahnungen, sondern ist Sache von Bildung, Takt, Feingefühl. An einer Erinnerung, die über der Vergangenheit die Gegenwart vergisst, stimmt etwas nicht. Die Zuwendung zu Toten, die nicht getragen ist von der Achtung für die Lebenden, ist irgendwie unglaubwürdig. Es gibt neben einer allseits bekannten Geschichtsvergessenheit auch dessen Pendant – Geschichtsversessenheit, eine Obsession, die den Vorteil hat, dass man – vorübergehend wenigstens – der Gegenwart entgehen kann. Manchmal bewegt man sich in der Vergangenheit, die übersichtlich und abgeschlossen ist, leichter als in der unübersichtlichen Gegenwart. Man kann sich hinter einer bewältigten Vergangenheit auch verstecken und der Gegenwart, die unendlich kompliziert ist, ausweichen – vorübergehend wenigstens. Die Betriebsförmigkeit der Erinnerung und des Gedenkens ist ein Hinweis darauf, dass etwas nicht stimmt mit der Erinnerung. Erinnerung und Gedenken sind im übrigen nicht beliebig machbar, nicht restlos verfügbar für irgendwelche „Erinnerungsstrategien“ und „Geschichtspolitiken“, wie das im „Erinnerungs-Diskurs“ oft angenommen wird. Sie hat ihren eigenen Rhythmus, ihre eigene Dynamik.
Wenn es wahr ist, dass jede Generation die Geschichte neu schreibt, dann heißt dies, dass es keinen automatischen Transfer von Generation zu Generation gibt, dass die veränderten Bedingungen sich niederschlagen im Geschichtsinteresse und Geschichtsbild. Selbstverständlich sieht das Bild einer Generation, die nicht durch den Krieg, die nicht durch die Auseinandersetzung mit der Kriegsgeneration, sondern durch die neuen Verhältnisse – einer nun schon lebenslangen Friedenszeit oder eine mehrere Generationen umfassenden Immigration geprägt ist, anders aus. Wieviel mehr gilt dies für die Reorganisation und die Komplikationen für ein neues, modernes Geschichtsbild in Staaten, die aus dem Zerfall eines großen Imperiums hervorgegangen sind. Wie wird eine moderne, den wirklichen Verhältnissen angemessene postkoloniale, postimperiale Nationalgeschichte, die sich nicht in nationale Begründungsmythen flüchtet, geschrieben? Das ist eine sehr komplizierte Frage.
Geschichtskultur und politische Ordnung
Ein freier Umgang mit der Vergangenheit ist nur in freien Gesellschaften möglich. Das ist eine Platitüde – aber es ist wahr. Es gibt nicht die eine Geschichte, sondern, da es unterschiedliche Perspektiven und Wahrnehmungen gibt, auch unterschiedliche Deutungen. Der Zugang zu Archiven, die freie Publikation der Quellen, die Unabhängigkeit der Geschichtsschreibung und vor allem der Öffentlichkeit sind zwar nicht hinreichende, aber doch wichtige Voraussetzungen. Sie sind keine absolute Garantie gegen die Bildung neuer Mythen und Reideologisierungen. Aber es geht nicht nur um Freiheit von Zensur, sondern um etwas viel Wichtigeres:
Eine angemessene Erinnerung und Geschichtsschreibung basiert auf einem Akt der Anerkennung der vorangegangenen Generationen. Es sind wir, die Lebenden, die den Toten ihre Stimme leihen – oder verweigern; denn sie sind verstummt, sie können nur sprechen, wenn wir ihnen zur Sprache verhelfen. Die Beziehung zwischen Lebenden und Toten ist asymmetrisch, denn wir, die Lebenden entscheiden darüber, wer Gehör findet und wer zum Schweigen verurteilt ist. Geschichtsarbeit ist Vergegenwärtigungsarbeit, basiert auf Anerkennung. Wie aber soll jemand, der schon die Lebenden nicht achtet, die Toten anerkennen? Es gibt also einen Zusammenhang zwischen dem herrschaftlich-autoritären Umgang im Heute und dem herrschaftlich-autoritären oder herablassenden Umgang der Nachgeborenen mit den Toten. Der Autoritäre gebietet über die Vergangenheit, er hat die Macht zu definieren, für ihn gibt es die Wahrheit. Eine angemessene, der Wahrheit möglichst nahekommende Erinnerung und Geschichtsschreibung hat ihren Hauptstützpunkt, ihr Biotop in einer zivilen Vergesellschaftung. Dort bilden sich die Fähigkeiten aus, die einer angemessenen Geschichte am meisten förderlich sind. Autoritäre Verhältnisse sind erinnerungsfeindlich. Eine reife Geschichtskultur und Zivilkultur gehören zusammen.
Rückkehr der Menschen auf den geschichtlichen Schauplatz
Es gibt viele Desiderate. Eines ist – wieder ist es fast eine unzulässige Verallgemeinerung –, das Verschwinden der Akteure im Schatten der Formation, des geschichtlichen Prozesses oder der Führerkulte. Die Bühne der Menschengeschichte ist leergefegt worden von Menschen. Und sie zurückzubringen auf die Bühne, ihnen ihre Namen, ihr Gesicht, ihre Physiognomie, ihre Biographie zurückzugeben, sehe ich als große Aufgabe. Wenn wir bedenken, dass wir gar nicht wissen, um wen es sich gehandelt hat, dass wir bis heute keine Lebensgeschichten von den kleinen Leuten und von den großen politischen Figuren und Akteuren haben, dann wird uns vielleicht klar, wie tiefgreifend die Umwälzung war. Es ist fast so ähnlich wie das Verschwinden des banalen Alltags aus der Wahrnehmung und aus der wissenschaftlichen Analyse. Ein Paradebeispiel ist immer, dass wir jahrzehntelang Tausende von Monographien über die ZK-Diskussionen und Beschlüsse hatten, aber – bis vor kurzem – keine einzige Studie über die Kommunalka, den zentralen Lebensort für mindestens drei Generationen von Sowjetbürgern.[3]
Die Schauplätze der Geschichte, revisited
Die Karte der europäischen Geschichtslandschaft wird neu gezeichnet. Dort wird es neue Einträge, neue points of interest geben. Lieux de memoire sind keine Gemeinplätze, keine Metapher, sondern wirkliche Orte. Jede politische Ordnung kartiert und kodiert die Welt neu, bringt die eine Schicht zum Verschwinden und legt ein neues Zeichensystem über die bekannte Welt. So entstehen die kulturell, semiotisch und semantisch komplexen Texte, mit denen wir tagtäglich zu tun haben: Landschaften, Städte, öffentliche und private Räumen. Die Landschaft der Sturm- und Drang-Industrialisierung ist eine andere als die der Landschaft nach der Schlacht mit ihren monumentalen Ruinen aus Eisen und Rost. Jede große Bewegung hat ihre Spur hinterlassen und andere getilgt. Nach 1989 ist eine große Zeit der Archäologie überall im östlichen Europa: die Geburtshäuser der verfemten Dichter, die Klöster, die zu KZ umgebaut worden sind, die Exekutionsorte, die verwitterten Barackenkomplexe in der Zone, Heimat, aus der man vertrieben wurde, Routen, auf denen die Deportationszüge fuhren. Kurzum: der historische Schauplatz Europa wird – buchstäblich – neu vermessen.
Europäische Erinnerung als work in progress. Raum der Erzählungen
Es mangelt nicht an Versuchen, ein europäisches Geschichtsnarrativ, eine europäische Geschichte auf einen Blick zu entwickeln: Die Namen von Autoren wie Norman Davies, Geert Mak, Tony Judt stehen dafür.[4] Das spricht für das starke Bedürfnis zu sehen und zu begreifen, wie alles zusammenhing auf diesem doch so kleinen Territorium, auf dieser Landnase des eurasischen Doppelkontinents. Aber solche Zusammenschauen haben meist etwas von der Vogelperspektive an sich: zu weit weg, als dass sie eine integrative Erzählung sein könnten, in der die vielen widerstreitenden Erfahrungen aufgehoben sind. Es kann sie auch nicht geben – vorerst jedenfalls nicht. Eine Erzählung kann nie weiter sein als die Erzähler selbst und eine wahrhaft europäische Erzählung wird es erst geben, wenn sich so etwas wie ein europäischer Erfahrungshorizont herausgebildet hat, also in nicht absehbarer Zukunft. Das Optimum derzeit wäre nicht eine synthetische, wohl auch nur krampfhaft erzählbare gemeinsame Geschichte, sondern der Versuch, die verschiedenen Erzählungen zu Gehör zu bringen. Das ist schwer genug, fast unmöglich, denn es ist auch eine Erzählung von Verletzungen und Kränkungen. Eine Geschichte der Zumutungen, eine Polyphonie der Geschichten, streckenweise dissonant und schmerzlich. Wenn die Europäer es aushielten, sich diese ihre Geschichten anzuhören – so wäre das mehr, als man derzeit erwarten kann. Dringlich ist also nicht die eine gemeinsame Geschichte, sondern dass der Raum, in dem die konkurrierenden Interpretationen und nationalen Narrative zu Gehör gebracht werden, nicht gefährdet wird.
Nicht des happy ends wegen
Von Europa heute zu reden, ohne von seiner Kraft, Schönheit und Herrlichkeit zu sprechen, wäre ganz sinnlos; nicht deshalb weil wir unbedingt ein happy end bräuchten. An Europa zu arbeiten, ohne auch seinen unüberbietbaren Reichtum, seine Unterschiede, Kulturen, Sprachen, Kunstwerke zur Kenntnis zu nehmen, wäre zum Scheitern verurteilt. Das 20. Jahrhundert, in dem sich Europa so verwüstet und um seine Stellung in der Welt gebracht hat, ist nur eine Schicht. Es ist Zeit, auch die anderen freizulegen. Da gäbe es ein paar Routen, die uns vor Augen führen, wie weit Europa einmal schon war, dass es einen Grad der Verdichtung, Kohäsion gegeben hat, der uns, den Nachgeborenen des 20. Jahrhunderts sensationell erscheint. Solche Routen wären: Jugendstil und bürgerliche Gesellschaft im Fin-de-siècle – nicht nur Wien und Brüssel, sondern auch Riga und Oradea. Industrialisierung und Globalisierung vor der Weltkriegsepoche: die Textil- und Metallfabriken in Łodz und Petersburg. Multiethnische Gesellschaften vor der Zeit der Entmischung: Triest, Salonika, Lemberg, Wilna. Der Zauber der Moderne, umbrandet von den Wellen des autoritären Europa: Brno/Brünn, Bukarest, Warschau-Mokotow. Man kann aber auch weiter zurückgehen in der Zeit und sich auf den Spuren der Hanse bewegen, die es vermochte, einen sichtbaren Zusammenhang zu stiften, der auch die Katastrophen des 20. Jahrhunderts überdauert hat.
Aber Europa, das nur ein Erinnerungsprojekt wäre, wäre verloren, ein Reservat für alte Leute, eine Art Themenpark und Puppenheim für den globalen Tourismus. Jeder, der sich umsieht in Europa, weiß, dass es pulsiert, arbeitet, funktioniert – über die Grenze von gestern hinweg, selbstverständlich, fast so als hätte es eine Teilung nie gegeben.
[1] Der vorstehende Text geht auf einen Vortrag zur Eröffnung der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde in Leipzig am 6. März 2008 zurück. Sie war dem Thema „Erinnerungsgeschichte, Erinnerungsorte und Erinnerungsschichten. Annäherungen an Osteuropa “ gewidmet. Er knüpft an Gedanken an, die ich entwickelt habe in: Europa neu vermessen: Die Rückkehr des Ostens in den europäischen Horizont, in: Helmut König u.a. (Hg.): Europas Gedächtnis. Das neue Europa zwischen nationaler Erinnerung und gemeinsamer Identität. Bielefeld 2008, S. 147–167.
[2] Vgl. dazu meine Erkundungen, in: Promenade in Jalta und andere Städtebilder. München, Wien 2002. – Marjampole oder Europas Wiederkehr aus dem Geist der Städte. München, Wien 2005.
[3] Erst die Arbeit von Julia Obertreis schuf hier Abhilfe. Julia Obertreis Tränen des Sozialismus. Wohnen in Leningrad zwischen Alltag und Utopie 1917–1937. Köln 2004.
[4] Norman Davies: Europe East and West. London 2006 – Geert Mak: In Europa: eine Reise durch das 20. Jahrhundert. München 2007. – Tony Judt: Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart. München 2006.
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