Nationale Geschichtsbilder
Das 20. Jahrhundert und der „Krieg der Erinnerungen“. Ein Aufruf
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Abstract
Das 20. Jahrhundert hat in der Erinnerung der Völker Ost- und Ostmitteleuropas tiefe Wunden hinterlassen: Revolutionen, Diktaturen, Weltkriege, die nationalsozialistische Unterwerfung und der Holocaust sind unvergessen. Jede Gesellschaft erinnert und verarbeitet die eigene Erfahrung auf ihre Art. Häufig steht die Erinnerung eines Volkes im Widerspruch zu der eines anderen. Begegnet man diesen Widersprüchen verständnis- und verantwortungsvoll, können sie das Geschichtsbewusstsein jeder Gesellschaft bereichern. Doch es bedarf einer Plattform, um den Dialog über konfliktträchtige Themen zu führen. Memorial ruft dazu auf, ein Internationales Geschichtsforum zu bilden.
(Osteuropa 6/2008, S. 7784)
Volltext
Das 20. Jahrhundert hat in der Erinnerung praktisch aller Völker Ost- und Mitteleuropas tiefe Wunden hinterlassen: Revolutionen, Umstürze, zwei Weltkriege, die nationalsozialistische Unterwerfung Europas und die unfassbare Katastrophe des Holocaust sind unvergessen. Hinzu kommen eine Vielzahl lokaler Kriege und Konflikte mit nationalem Hintergrund – im Baltikum, in Polen, in der Westukraine, auf dem Balkan – und ein Reigen von Diktaturen unterschiedlichen Typs, die sämtlich die bürgerlichen und politischen Freiheiten abschafften und den Menschen stattdessen einheitliche, für jedermann verbindliche Wertesysteme aufzwangen. Zahlreiche Völker haben nationale Unabhängigkeit abwechselnd erlangt, verloren und wiedererlangt – eine Unabhängigkeit, die meist ethnisch begründet wurde und innerhalb derer sich stets bestimmte andere ethnische Gruppen beleidigt und erniedrigt fühlten.
Dies ist unsere gemeinsame Geschichte, doch jedes Volk empfindet und erinnert sie auf seine Art. Nationale Erinnerung verarbeitet die gemeinsame Erfahrung auf jeweils eigene Weise, verleiht ihr einen eigenen Sinn. So hat jedes Volk sein eigenes 20. Jahrhundert.
Widersprüchliche Geschichtsbilder, parallele Realitäten
Es versteht sich von selbst, dass ein „kollektives Geschichtsbild“ allenfalls als abstrakte Kategorie denkbar ist. Dennoch manifestiert sich diese Abstraktion in durchaus konkreter Weise: darin, wie historische Ereignisse politisch und moralisch bewertet werden, im Kulturleben, in Bildungsinhalten, in staatlicher Politik, in den interethnischen und internationalen Beziehungen.
Vergangene wechselseitige Kränkungen können die Beziehungen zwischen Völkern auf lange Zeit vergiften, es sei denn, es finden sich Führungspersönlichkeiten wie etwa Václav Havel, der als Präsident der Tschechoslowakei den Mut hatte, sich der damals unter seinen Landsleuten vorherrschenden Stimmung entgegenzustellen und sich öffentlich bei den sudetendeutschen Vertriebenen und ihren Nachkommen zu entschuldigen. Symbolische Gesten dieser Art können zwar keinen Schlusspunkt unter die gegenseitigen Vorwürfe zwischen den Nationen setzen, aber sie tragen doch wesentlich zu ihrer Entschärfung bei. Leider bekleiden moralische Autoritäten vom Rang eines Havel nur selten hohe staatliche Ämter.
Uns ist bewusst, dass es keine richtende Instanz gibt, die ein unabhängiges und objektives Urteil über die Geschichte fällen könnte. Nahezu jedes der vielfältigen Geschichtsbilder, die die nationale Erinnerung hervorbringt, ist in Teilen ein Versuch, das eigene Volk zu rechtfertigen, und nahezu jedes dieser Bilder präsentiert einen Ausschnitt der historischen Wahrheit, der für dieses Volk besonders evident ist, für seine Nachbarn aber schon weniger. Unterschiedliche Geschichtsauffassungen sind eine Realität, die zu vertuschen sinnlos und schädlich wäre. Diese Realität gilt es nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern auch zu verstehen.
Umstritten ist Geschichte heute weniger im Hinblick auf die Fakten als auf die unterschiedliche Interpretation dieser Fakten. Eine gründliche Aufarbeitung eines bestimmten Ereignisses, Phänomens oder Vorgangs setzt zunächst einmal dessen Einordnung in einen konkreten historischen Kontext voraus. Häufig jedoch führt bereits die Festlegung des Kontextes zu widersprüchlichen Einschätzungen.
So erscheint angesichts der gewaltsamen Abtrennung von Vilnius und dem Wilna-Gebiet im Jahre 1920 sowie dessen späterer Annexion durch Polen die Rückführung dieser Gebiete in den litauischen Staat im Herbst 1939 als Wiederherstellung der Gerechtigkeit. Dasselbe Ereignis stellt sich jedoch mit Blick auf den Molotov-Ribbentrop-Pakt mit seinen Geheimprotokollen, auf den Untergang des polnischen Staates durch den Doppelschlag aus West und Ost sowie andere Umstände der ersten Kriegswochen gänzlich anders dar. Ähnlich vielfältige Bewertungen sind mit einer Reihe anderer Grenzverschiebungen, „Abtretungen“ und „Wiedervereinigungen“ verbunden.
Welche Bedeutung hat etwa der 17. September 1939 für das polnische Volk? Das Datum markiert eine nationale Tragödie – es ist der Tag, an dem das Land, das sich mit letzter Kraft der Hitlerschen Aggression entgegenstemmte, unvermittelt und grundlos von Osten angegriffen wurde. Dies ist eine historische Tatsache, und weder der Hinweis auf die Ungerechtigkeit der Vorkriegsgrenzen noch auf die Notwendigkeit, die westlichen Verteidigungslinien der Sowjetunion abzusichern, kann die stalinsche Führung vor dem Vorwurf der Mitschuld an Hitlers Angriff auf Polen in Schutz nehmen.
Für einen bedeutenden Teil des ukrainischen Volkes jedoch hat dieses Datum eine eigene, zusätzliche Bedeutung, denn an diesem Tag wurden die ukrainischen Gebiete zu einem geschlossenen Ganzen vereinigt, wenn auch im Rahmen der UdSSR.
Haben die Ukrainer also das Recht, die Ereignisse des 17. September mit anderen Augen zu betrachten als die Polen? Ja, das haben sie. Was aber sowohl Polen als auch Ukrainer mit Recht voneinander erwarten können, ist gegenseitiger Respekt und Verständnis für die Unterschiede zwischen ihren verschiedenen Erinnerungen.
Wie sind die Ereignisse von 1944 aufzufassen, als die Sowjetische Armee die Deutschen aus Litauen, Estland und dem größten Teil Lettlands vertrieb? Als eine Befreiung des Baltikums von den Nazis? Als eine wichtige Etappe auf dem Weg zum endgültigen Sieg über den Nationalsozialismus? Zweifellos, und als eben dies wurden sie in der Welt auch wahrgenommen. In Russland ist diese Wahrnehmung besonders ausgeprägt, sie gehört hier zu den Grundlagen des nationalen Selbstverständnisses.
Für Esten, Letten und Litauer jedoch bedeuteten die militärischen Siege der Sowjetischen Armee darüber hinaus die Rückkehr ihrer Länder in die UdSSR, in einen Staat, der ihnen 1940 die nationale Unabhängigkeit genommen hatte. Sie bedeuteten die Rückkehr eines Regimes, das bereits in den elf Monaten von Juli 1940 bis Juni 1941 durch eine Vielzahl von politisch motivierten Verhaftungen und Gerichtsurteilen, durch die Deportation Zehntausender Menschen nach Sibirien und Kasachstan und die außergerichtliche Hinrichtung von Gefangenen in den ersten Kriegstagen seine Visitenkarte abgegeben hatte. In der unmittelbaren Zukunft, die sich im Herbst 1944 endgültig entschied, standen ihnen Zwangskollektivierung, neuerliche Verhaftungen und wiederum Massendeportationen bevor.
Haben die Bürger Russlands und der anderen Länder, die Bestandteil der UdSSR waren, das Recht, auf die militärischen Erfolge der Sowjetischen Armee von 1944 stolz zu sein? Ohne jeden Zweifel: Dieses Recht wurde mit dem Blut Hunderttausender gefallener Soldaten bezahlt. Doch sollten sie, ohne ihren berechtigten Stolz aufzugeben, wissen und verstehen, was diese Erfolge den Völkern des Baltikums über die Befreiung vom Nationalsozialismus hinaus gebracht haben. Diese wiederum sollten auch angesichts ihrer eigenen tragischen Geschichte nicht vergessen, was der große Kampf der Völker gegen den Nationalsozialismus für Russland, ja für die ganze Welt bedeutet.
In Georgien und der Ukraine sind jüngst „Museen der sowjetischen Besatzung“ eröffnet worden. Die meisten Bürger der Russländischen Föderation reagierten darauf mit Befremden und Entrüstung. In Russland wissen nur Fachleute und Historiker, dass in den Jahren 1918–1921 eine unabhängige Georgische Demokratische Republik existierte, dass es zwischen 1918 und 1920 Versuche gab, eine unabhängige Ukrainische Volksrepublik zu schaffen, und welche Rolle die Rote Armee bei deren Auflösung gespielt hat. In den betroffenen Ländern dagegen ist die Erinnerung an die staatliche Unabhängigkeit im 20. Jahrhundert, so kurzlebig diese historisch auch war, nie ganz verschwunden. Es ist also nur natürlich, dass die Ereignisse von 1920 und 1921 dort jetzt neu bewertet werden.
Man muss nicht mit allen Schlussfolgerungen einverstanden sein, die im Rahmen dieser Neubewertung gezogen werden. Man kann widersprechen, wenn Historiker und Juristen die jetzige ukrainische und georgische Staatlichkeit auf die Ereignisse von 1918 zurückführen. Man kann entschieden Einspruch erheben, wenn die gesamte Geschichte dieser Länder vom Ende des Bürgerkrieges bis 1991 als eine Zeit der „Okkupation“ dargestellt wird. Doch die Gesellschaft in Russland – dem Land, das oft reflexhaft für sämtliche Verbrechen des kommunistischen Regimes verantwortlich gemacht wird – muss über die Geschichtsdiskussionen in den Nachbarländern im Bilde sein; sie muss diesen Diskussionen nicht nur mit Glossen und Karikaturen, sondern mit Verständnis begegnen.
Zu wünschen wäre aber auch, dass die georgische und die ukrainische Öffentlichkeit versteht: Die bloße Tatsache, dass Russland nicht automatisch allen scharfen Epitheta zustimmt, mit denen bestimmte Episoden unserer gemeinsamen Geschichte in Georgien und der Ukraine zuweilen belegt werden, ist noch nicht gleichbedeutend mit „Großmacht-Chauvinismus“ oder „überkommenen imperialen Denkmustern“.
Dasselbe gilt für die Bewertung des bewaffneten Partisanenwiderstands gegen das kommunistische Regime, den es in den Nachkriegsjahren in der Westukraine, in Litauen, Lettland, Estland und Polen gegeben hat. Die Erinnerung an Aufstandsbewegungen ist in der Regel komplex und voller Dramatik. Sie führt unweigerlich zu einer Vielzahl widersprüchlicher, oft diametral entgegengesetzter Bewertungen: Die einen neigen dazu, die „Freiheitskämpfer“ vorbehaltlos zu heroisieren, die anderen tun sich furchtbar schwer, ihr gewohntes Bild von den „Banditen“ aufzugeben. Für beide Standpunkte lassen sich leicht Gründe finden. Keine der streitenden Parteien ist in der Lage, die jeweils andere zu überzeugen, selbst wenn der Streit innerhalb eines Landes geführt wird. Wenn aber dazu noch politische Leidenschaften und die Ansprüche von Nationen und Staaten eine Rolle in diesem Streit spielen, besteht umso weniger Hoffnung auf ausgewogene und wechselseitig akzeptable Positionen. Dennoch ist es möglich, von Zwist und Beleidigungen zu einem zivilisierten Meinungsaustausch zu kommen – möglich und notwendig.
Die Aufzählung von Fällen, in denen die Erinnerung eines Volkes im Widerspruch zu der eines anderen steht, ließe sich fortsetzen. Diese Widersprüche sind nichts Schlimmes, ganz im Gegenteil: Wenn man ihnen mit dem nötigen Verständnis begegnet, können sie das Geschichtsbewusstsein eines jeden Volkes bereichern und unserem Bild von der Vergangenheit eine zusätzliche Dimension hinzufügen.
Das sowjetische Erbe
In dem Bereich der Geschichte, mit dem sich die Gesellschaft MEMORIAL befasst – der Geschichte des sowjetischen Staatsterrors –, sind diese Divergenzen in der Bewertung und im Verständnis der Vergangenheit nicht weniger schmerzlich als auf anderen Gebieten. Aus lange zurückliegenden Tragödien, die entweder gar nicht oder nur dem Schein nach und oberflächlich wahrgenommen und aufgearbeitet wurden, entstehen neue politische und historische Mythen. Sie beeinflussen und verfälschen nationale Grundhaltungen und führen zu Konflikten zwischen Ländern und Völkern.
In nahezu allen Ländern des ehemaligen „sozialistischen Lagers“ gedeiht heute eine Form der politisch-historischen Reflexion, die „eigene“ Leiden ausschließlich als Ergebnis „fremden“ bösen Willens darstellt. Diktatur und Terror werden als vor allem gegen die Nation gerichtet gesehen, und jene, die ihn ausübten, als „Fremde“ oder Marionetten fremder Mächte. Die Tatsache, dass sich die kommunistischen Regime in diesen Ländern über viele Jahre hinweg nicht nur auf sowjetische Bajonette stützten, sondern auch auf „landeseigene“ Unterstützung, verschwindet allmählich aus der nationalen Erinnerung.
Gleichzeitig werden vergangene Ereignisse historisch und juristisch immer schärfer beurteilt. Der Begriff „Genozid“ etwa ist inzwischen eine alltägliche Vokabel im politischen Wortschatz einer ganzen Reihe von postkommunistischen Ländern. Uns ist bewusst, dass auch in Zuspitzungen dieser Art oft ein Teil der historischen Wahrheit steckt. Wir glauben aber, dass Teilwahrheiten immer gefährlich sind – in erster Linie für den, der sie mit der historischen Wahrheit in ihrer Gänze verwechselt.
Es gibt einen organischen Zusammenhang zwischen dem sorgfältig kultivierten Bild vom eigenen Volk als „Opfer“, zwischen der Erhebung hoher Opferzahlen in den Rang nationaler Besitzstände und dem Abschieben von Verantwortung, der Verkörperung des „Täters“ im Bild des Nachbarn. Angesichts der erdrückenden Last der Verantwortung für die Vergangenheit ist diese reflexartige Reaktion nur zu verständlich. Doch indem wir uns selbst der Verantwortung entziehen und diese unseren Nachbarn zuschieben, schaffen wir weder für Völkerverständigung noch für die Wiedergeburt des eigenen Volkes eine Grundlage.
Für Russland hängt die Geschichte der zusammengebrochenen Sowjetunion untrennbar mit der eigenen Geschichte zusammen – so sieht es das Selbstverständnis der meisten Russen. Dadurch, aber auch weil es die Rechtsnachfolge der UdSSR angetreten hat, ist Russland für eine Reihe seiner Nachbarvölker zu einem bequemen Sündenbock geworden, dem sich die historische Verantwortung zuschreiben lässt – es genügt, das heutige Russland mit der stalinschen UdSSR gleichzusetzen und als Ursache aller eigenen nationalen Tragödien hinzustellen.
Russland wiederum hat einen eigenen Weg gefunden, die posttotalitäre Bürde zu erleichtern. Statt ehrlichem Bemühen, die Geschichte des 20. Jahrhunderts in ihrer ganzen Tragik und Tragweite aufzuarbeiten, statt einer ernsthaften Auseinandersetzung des Landes mit der sowjetischen Vergangenheit erleben wir hier, wie der sowjetische, patriotische Großmachtmythos nur leicht verändert wieder aufersteht – ein Mythos, der die Geschichte unseres Landes als eine Abfolge ruhmreicher heroischer Leistungen sieht. In diesem Mythos ist weder Platz für Schuld, noch für Verantwortung, noch auch nur für die Anerkennung der Tragödie. Aus Heroismus und Aufopferung aber erwächst keine staatsbürgerliche Verantwortung. Viele Bürger Russlands sind daher schlicht nicht in der Lage, sich die historische Verantwortung der Sowjetunion gegenüber den heutigen Nachbarländern Russlands und das Ausmaß der Katastrophe für Russland selbst bewusst zu machen. Das Land verweigert die Erinnerung und ersetzt sie durch das holzschnittartige Bild eines Imperiums, in dem – frei nach Ševčenko – „von der Moldau bis nach Finnland / jedermann in seiner Sprache / glücklich und zufrieden schweigt“. In dieser Verweigerung liegt für die russländische Gesellschaft eine ebenso große gesellschaftliche Gefahr wie für seine Nachbarn im Pflegen der nationalen Kränkungen.
Verantwortung für die eigene Geschichte
Es sei nochmals betont: Nationale Unterschiede in der Interpretation wichtiger historischer Ereignisse sind natürlich und unvermeidlich. Man muss nur wissen, wie man sich zu diesen Unterschieden verhält.
Selbstverständlich soll sich niemand aus bloßer „politischer Korrektheit“ vom eigenen Geschichtsverständnis lossagen, aber man sollte auch nicht den Nachbarn die eigene Wahrheit aufzwingen.
Es hat keinen Sinn, „fremde“ Erinnerung zu ignorieren, so zu tun, als gäbe es sie nicht. Es hat keinen Sinn, sie für unbegründet zu erklären und sämtliche Tatsachen und Einschätzungen, auf denen sie beruht, rundweg abzustreiten.
Aus dem Leiden und Unglück des eigenen Volkes lässt sich keine moralische Überlegenheit über andere Völker ableiten, die vermeintlich oder tatsächlich weniger gelitten haben; diese Leiden dürfen nicht als politisches Kapital eingesetzt und in einen Forderungskatalog an die Nachbarstaaten und -völker umgemünzt werden.
Die Widersprüche zwischen den „nationalen Geschichtsbildern“ dürfen auf keinen Fall instrumentalisiert werden, aus den Besonderheiten der nationalen Erinnerung darf kein Vorwand für interethnische Feindseligkeiten und zwischenstaatliche Konflikte werden.
Ganz unabhängig von der individuellen historischen Perspektive ist es heute unproduktiv und gefährlich, Nationen in „Opfer“ und „Täter“ einzuteilen und die Vergangenheit in Kategorien „historischer Schuld“ der einen gegenüber den anderen zu bewerten.
Entscheidend ist hier weniger der Umstand, dass das moderne Rechtsdenken die Idee der Kollektiv- oder gar Erbschuld für ein Verbrechen verwirft (Fragen der juristischen Verantwortung von Staaten gegenüber den eigenen oder anderen Bürgern lassen wir hier unberührt). Voraussetzung für eine ernsthafte Aufarbeitung der Geschichte, für eine produktive Lösung historischer Widersprüche ist nicht in erster Linie die Suche nach Schuldigen, sondern die staatsbürgerliche Verantwortung, die jeder Einzelne, der sich als Teil einer bestimmten historisch gewachsenen Gemeinschaft empfindet, freiwillig wahrnimmt. Ein Volk, das nicht nur durch einen aktuell gegebenen staatsbürgerlichen und politischen Alltag vereint ist, sondern auch durch eine gemeinsame Vergangenheit und die Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft, trägt selbstverständlich auch die Verantwortung für seine Geschichte. Es sind nicht nur die großen Leistungen oder großen Katastrophen, die aus einem Volk eine Nation im eigentlichen Sinn machen, eine Gemeinschaft von Mit-Bürgern, sondern eben diese staatsbürgerliche Verantwortung für die eigene Geschichte.
Diese Verantwortung ist keine Arbeit, die sich ein für allemal erledigen lässt. Jedes Volk muss sich wieder und wieder mit seiner Vergangenheit beschäftigen, muss sich mit jeder neuen Generation neu mit ihr auseinandersetzen, ohne sich von den bitteren und schrecklichen Seiten seiner Geschichte abzuwenden. Es muss begreifen, dass andere das Recht auf eine eigene, abweichende Lesart der Geschichte haben. Jedes Volk sollte sich darüber hinaus bemühen, die gewachsenen Geschichtsbilder der Nachbarn und die historische Realität, die ihnen zugrunde liegt, zu erkennen und zu verstehen. Verstehen heißt nicht übernehmen: Es geht nicht darum, die eigene Wahrheit durch eine fremde zu ersetzen, sondern darum, die eigene Sicht auf die Vergangenheit zu ergänzen und zu bereichern.
Gegensätze anerkennen
Leider wird die Geschichte derzeit immer mehr zu einem Instrument zur Durchsetzung kurzfristiger politischer Ziele, zu einem Knüppel in der Hand von Leuten, denen im Kern sowohl die nationale Erinnerung anderer Völker als auch die Tragödien, die das eigene Volk erlitten hat, ja auch die Geschichte selbst gleichgültig sind. Die jüngsten Ereignisse rund um das sowjetische Soldatendenkmal in Tallinn haben einmal mehr gezeigt, wie wenig staatsbürgerliche Verantwortung Politiker – in Estland wie auch in Russland – an den Tag legen. Die Affäre um das Denkmal illustriert eindrücklich, welche Folgen unterschiedliche nationale Geschichtsbilder haben können, wenn der historische Streit zu einem „Konflikt der Erinnerungen“ eskaliert.
Es gibt immer einzelne Menschen, die solche Konflikte anheizen, um dann politischen Profit aus ihnen zu schlagen – zum Schaden des eigenen Volkes, zum Schaden anderer Völker, zum Schaden aller gewöhnlichen Bürger. Doch auch die Gesellschaft insgesamt trägt Verantwortung für solche Entwicklungen, denn Konflikte dieser Art sind nur dort möglich, wo ein offener, interessierter Dialog nicht stattfindet.
Was also kann die Gesellschaft überkommenen Vorurteilen und gegenseitiger Intoleranz, dem Eigennutz und der Borniertheit der Politiker entgegensetzen?
Unserer Ansicht nach lässt sich die zunehmende Entfremdung zwischen den Völkern nur durch einen freien, unvoreingenommenen und zivilisierten Meinungsaustausch zu allen Fragen, in denen Differenzen über unsere gemeinsame Geschichte bestehen, überwinden. Das Ziel dieses Austauschs ist nicht, alle Meinungsverschiedenheiten auszuräumen, sondern nur, die Positionen des jeweils anderen besser kennen und verstehen zu lernen. Wenn wir auf diesem Weg zu einer gemeinsamen Einschätzung eines bestimmten Problems unserer Geschichte gelangen, umso besser. Wenn nicht, so ist auch das kein Unglück: Jeder bleibt bei seiner Auffassung, aber wir entwickeln auch ein Verständnis für die Geschichtsbilder, die das Bewusstsein unserer Nachbarn prägen. Einzige Voraussetzung für einen solchen Dialog ist die Bereitschaft aller Beteiligten, den Standpunkt des anderen zu respektieren, wie „falsch“ er einem auf den ersten Blick auch erscheinen mag, das aufrichtige Interesse und der aufrichtige Wunsch, zu verstehen.
Für einen solchen Dialog bedarf es gewisser Mechanismen, die Diskussion braucht ein Forum.
Für ein Internationales Geschichtsforum
Die Gesellschaft MEMORIAL schlägt allen, die an einer sachlichen und offenen Diskussion von Themen der gemeinsamen Geschichte interessiert sind, vor, an der Schaffung eines solchen Forums mitzuarbeiten. Dieses Internationale Geschichtsforum sollte ein loser Zusammenschluss von Verbänden, Forschungszentren, Kultur- und Bildungseinrichtungen usw. sein, innerhalb dessen ein ständiger Meinungsaustausch zu konfliktträchtigen Ereignissen des 20. Jahrhunderts in unserer Region geführt wird.
Selbstverständlich wird dieses Forum auch einzelnen Forschern, Publizisten und anderen Interessenten offenstehen. Es wäre außerdem wünschenswert, dass in ihm sowohl die in den einzelnen Gesellschaften „herrschenden“ Geschichtsauffassungen vertreten sind als auch „dissidentische“ Positionen, mit Ausnahme solcher, die auf offen menschenverachtenden, faschistischen und rassistischen Wertesystemen beruhen.
Der Zustand der nationalen Erinnerung in den Ländern Mittel- und Osteuropas ist vor allem für die Länder der Region selbst von Bedeutung, aber auch darüber hinaus. Das sogenannte „Alte Europa“ wächst mit dem Neuen Europa zusammen. Nahezu alle Staaten der Region sind heute Mitglieder von gesamteuropäischen Strukturen oder streben nach einer solchen Mitgliedschaft. Mit den Staaten halten die Probleme, Traumata und Komplexe unserer Geschichte auf eine neue Weise Einzug in die europäische Kultur, die europäische Erinnerung. Die Erfahrungen der postkommunistischen Staaten (nicht nur im „geographischen Europa“, sondern auch im Kaukasus und in Zentralasien) stellen eine Herausforderung für alle Europäer dar: Diese Erfahrungen gilt es zu verarbeiten und zu verstehen. Der von uns vorgeschlagene Dialog ist lediglich Teil eines gesamteuropäischen und letztlich eines globalen Geschichtsdialogs. Andererseits standen viele Länder in Westeuropa oder auch in Südamerika und anderen Gebieten bei der Erforschung und Aufarbeitung „ihres“ 20. Jahrhunderts vor ähnlichen Probleme wie wir jetzt, und es wäre wichtig für uns, zu erfahren, wie diese Probleme dort angegangen wurden und werden. Wir hoffen deshalb, dass die Themen und die Zusammensetzung des Forums nicht eng regional begrenzt bleiben.
Wir schlagen vor, die konkreten Formen, in denen der Dialog stattfinden soll – eine eigene Internet-Seite, bi- und multilaterale Themenkonferenzen, an denen nicht nur Fachhistoriker teilnehmen sollen, sondern auch Juristen, Soziologen, Journalisten, Vertreter gesellschaftlicher Organisationen etc. –, gemeinsam mit all jenen auszuarbeiten, die unsere Idee unterstützen und sich an ihrer Verwirklichung beteiligen wollen. Dies gilt auch für die „Produkte“ der Forumsarbeit, beispielsweise gemeinsam herausgegebene Zeitschriften oder gemeinsam erstellte Lehrbücher für die Sekundarstufe, aus denen Jugendliche in jedem unserer Länder etwas über die „nationalen Geschichtsbilder“ ihrer Nachbarstaaten und Nachbarvölker erfahren können.
Das von uns vorgeschlagene Geschichtsforum wird zweifellos das Verständnis zwischen den einzelnen Teilnehmern fördern, zwischen Menschen und Institutionen, die jeweils verschiedene Länder mit verschiedenen Traditionen der Geschichtsdeutung vertreten. Wir hoffen jedoch, dass es sich darüber hinaus auch zu einem Weg der Verständigung zwischen unseren Ländern und Völkern entwickelt.
Wir müssen uns dafür einsetzen, dass unsere gemeinsamen tragischen Erinnerungen die Völker einander näher bringen und sie nicht entzweien. Dieses Ziel ist erreichbar, wenn es uns gelingt, die Geschichte nicht in jedem Land isoliert aufzuarbeiten, sondern gemeinsam.
Moskau, März 2008
Aus dem Russischen von Hartmut Schröder, Berlin
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