Editorial
Das globale Prinzip Verantwortung
Manfred Sapper, Volker Weichsel
Abstract in English
(Osteuropa 4-5/2008, S. 78)
Volltext
Einholen und Überholen. Diese sowjetische Devise hat das Ende der UdSSR nahezu unbeschadet überstanden. 20 Jahre sind seit dem Zusammenbruch des Kommunismus und dem Ende des Ost-West-Konflikts vergangen und doch ist der Osten des Kontinents weiter damit beschäftigt, einen westlichen Entwicklungspfad zu kopieren, der sich bereits als Sackgasse erwiesen hat: Modernisierung durch Wachstum. Dabei ist schon seit dem Bericht des Club of Rome von 1972 klar, dass die Ressourcen des Planeten endlich sind. Bis heute ist unklar, ob der Kapitalismus in der Lage ist, die ökologische Frage zu lösen. Die irreparable Zerstörung von Ökosystemen und der Raubbau an den Naturressourcen gefährdet die moderne Zivilisation, wenn nicht gar die Zukunft menschlichen Lebens. Die Träger des Neuanfangs in Osteuropa waren sich 1989 dieser Grenzen des Wachstums durchaus bewusst. Sie betrachteten die Umweltkrise als Ausdruck von autoritärer Herrschaft und Fremdbestimmung und dachten Demokratie und Ökologie zusammen. Davon ist wenig geblieben. Russlands Atomindustrie wittert im Zeitalter des Klimawandels Morgenluft und glaubt, die „Tschernobyl-Hysterie“ sei endlich überwunden; Tschechiens Präsident Václav Klaus betrachtet Klimaschutz als existentielle Bedrohung für die Freiheit und stilisiert sich zum Dissidenten wider die „Ökodiktatur“. Überhaupt wird das für die ökologische Frage zentrale Politikfeld der Energiegewinnung nahezu ausschließlich unter dem Paradigma der Versorgungssicherheit gedacht. Ausgeblendet werden Erkenntnisse, die keinen Neuigkeitswert haben, aber aktueller denn je sind: Das Ende des fossilen Zeitalters naht und die Atomwirtschaft ist keine Alternative. Denn Uran ist wie Öl und Gas ein endlicher Rohstoff. Die Plutoniumwirtschaft würde dieses Problem zwar lösen. Doch sie ist sicherheitspolitisch fatal – Stichwort: Proliferation –, ökonomisch unrentabel und ökologisch wegen der verheerenden Folgen im Falle eines GAUs und der bis heute weltweit ungeklärten Endlagerung unverantwortbar. Alles spricht daher für erneuerbare Energien. Windkraft, Sonnenenergie und Biokraftstoffe sind nicht nur ökologisch nachhaltig. Sie können, wie Grzegorz Wiśniewski am Beispiel Polens in diesem Band zeigt, auch in Osteuropa wirtschaftlich genutzt werden. Sie sind sogar günstiger als Kohle und Atomkraft, die scheinbar billig sind, tatsächlich aber nur durch mehr oder weniger versteckte, exorbitante Subventionen am Leben gehalten werden können. Doch bisher ist der Anteil der regenerativen Energien an der Produktion von Wärme und Strom gering. Warum haben es die alternativen Energieformen so schwer? Dies ist eine Kernfrage der politischen Ökologie in Ostmittel- und Osteuropa, im Kaukasus wie in Zentralasien. Das Nachdenken über den Zusammenhang zwischen dem Aufbau einer Gesellschaft und der ökologischen Nachhaltigkeit ihrer Energiegewinnung offenbart: Überall dort, wo Zentralismus, Etatismus und ein formales Demokratieverständnis zusammenkommen, stehen die konventionellen Energien hoch im Kurs. Sie verlangen eine zentrale Steuerung durch einen hierarchischen Staat und eine technokratische Elite. Erneuerbare Energien hingegen werden dezentral genutzt und benötigen eine starke Zivilgesellschaft, die zu einer komplexen Selbstregulierung in der Lage ist. Die politische Ökologie hat auch eine internationale Dimension. Wo ein antiquiertes Verständnis von Staatssouveränität das Denken und die Simulation nationaler Größe oder Unabhängigkeit das Handeln bestimmen, ist es mit Weltinnenpolitik nicht weit her. Dabei ist diese nötiger denn je. Denn die Externalisierung sozialer und ökologischer Kosten ist ein Tatbestand der Globalisierung. Der Klimawandel, der regional sehr unterschiedliche Konsequenzen nach sich ziehen wird, ist nur ein Beispiel. Ein anderes ist der Raubbau an Russlands borealen Wäldern, ein weiteres die verheerenden Folgen der Ölförderung in ökologisch sensiblen Regionen. Die Ökonomie ist global, Gewinne und Kosten werden ungleich zwischen den Regionen der Welt, zwischen den Staaten und innerhalb der Staaten zwischen den Machteliten und der lokalen Bevölkerung verteilt. Wie Michael Bradshaw in seiner Fallstudie über das Öl- und Gasprojekt vor der Insel Sachalin in Russlands Fernem Osten demonstriert, sorgen global operierende Umweltorganisationen für die Mobilisierung der Weltöffentlichkeit und üben, falls grundlegende Umweltstandards verletzt werden, Druck auf kreditgebende internationale Finanzinstitutionen aus. Doch der Kreml hat diese Ansätze einer globalen Umweltpolitik unterbunden, dem Konsortium die Fördergenehmigung entzogen und sie an den hauseigenen Konzern Gazprom vergeben. Gleichwohl gibt es umweltpolitische Ansätze, die Anlass zur Hoffnung geben: Die ökologische Landwirtschaft gewinnt nicht nur in Polen an Bedeutung, die Umweltverträglichkeitsprüfung für die geplante Ostseepipeline könnte neue Standards für ein staatenübergreifendes Öko-Audit setzen, die Umweltpartnerschaft zwischen dem BASF-Standort Ludwigshafen und dem aserbaidschanischen Sumgait hat die Situation in der mit hochtoxischen Altlasten der sowjetischen Chemieindustrie kämpfenden Stadt verbessert. Wie ambivalent der Befund nach der ökologischen tour d’horizon durch den Osten Europas bis nach Zentralasien ausfällt, zeigt sich exemplarisch an der Verkehrspolitik. Der in Polen geplante Ausbau der Via Baltica durch einzigartige Naturschutzgebiete mit großer Bedeutung für die Artenvielfalt ist auf breiten Widerstand gestoßen. Das Projekt liegt zunächst auf Eis. Dies ist ein lokaler Erfolg. Global gesehen aber hat sich die Hoffnung, dass durch technologische Modernisierung das Wachstum komplett vom Ölverbrauch und vom Schadstoffausstoß entkoppelt werden könnte, als Illusion erwiesen. In Moskau etwa haben modernere Motoren und besseres Benzin die Emissionen pro gefahrenem Kilometer zwar reduziert. Gleichzeitig steigt die Zahl der zugelassenen Autos exponential. Wie überall auf der Welt ziehen auch in Russland mehr Straßen mehr Verkehr an. Nachhaltigkeitsgewinn gleich Null. Um ökologische Nachhaltigkeit zu erzielen ist mehr von Nöten als eine technische Effizienzsteigerung. Es bedarf eines politischen Umdenkens, bei weitem nicht nur, aber auch in Osteuropa. Denn gerade dort ist in den Köpfen Fortschritt noch untrennbar mit materiellem Wohlstandsgewinn verbunden und dieser ist auf dem Entwicklungsniveau der osteuropäischen Staaten nur mit einem überproportional wachsenden Verbrauch von Ressourcen und Biosphäre zu erkaufen. An die Stelle der individuellen und nationalen Nahinteressen muss daher das globale Prinzip Verantwortung treten. Der erste Imperativ dieser von Hans Jonas vertretenen Ethik lautet: „Beschafft Euch Wissen!“ Das Fundament dafür bieten die folgenden 490 Seiten.