Simulierter Wandel?
Belarus ’08
Volltext als Datei (PDF, 102 kB)
Abstract in English
Abstract
Die Europäische Union hatte Optimismus als Devise ausgegeben: Die Parlamentswahlen in Belarus im September 2008 sollten die festgefahrenen Beziehungen zwischen der EU und ihrem östlichen Nachbarn wieder in Bewegung bringen. Doch internationale Beobachter erklärten, die Wahlen seien nicht fair und frei gewesen, und keinem einzigen Kandidaten der Opposition gelang der Einzug ins Parlament. Es besteht die Gefahr, dass Minsk die Annäherung an die EU nur simuliert. Gleichwohl waren die Chancen auf einen Wandel lange nicht mehr so groß wie gegenwärtig. Die EU sollte sie mit einer ausgewogenen Politik nutzen, die alle Zielgruppen anspricht: die Staatsorgane, die Oppositionskräfte, die Zivilgesellschaft und die Bevölkerung.
(Osteuropa 12/2008, S. 5158)
Volltext
Die Europäische Union hatte Optimismus als Devise ausgegeben: Die Parlamentswahlen in Belarus im September 2008 sollten die festgefahrenen Beziehungen zwischen der EU und ihrem östlichen Nachbarn wieder in Bewegung bringen. Doch internationale Beobachter erklärten, die Wahlen seien nicht fair und frei gewesen, und keinem einzigen Kandidaten der Opposition gelang der Einzug ins Parlament. Es besteht die Gefahr, dass Minsk die Annäherung an die EU nur simuliert. Gleichwohl waren die Chancen auf einen Wandel lange nicht mehr so groß wie gegenwärtig. Die EU sollte sie mit einer ausgewogenen Politik nutzen, die alle Zielgruppen anspricht: die Staatsorgane, die Oppositionskräfte, die Zivilgesellschaft und die Bevölkerung. Die Belarus-Politik der EU zeitigte in den vergangenen Jahren wenig Erfolg. Seit den Parlamentswahlen im Jahr 2000 – dem ersten landesweiten Urnengang nach dem umstrittenen Referendum von 1996 – betrachtet Brüssel jede Wahl in Belarus als Lackmustest für die Kooperationsbereitschaft des Lukašenka-Regimes. Die EU verlangte freie und faire Wahlen und versprach als Gegenleistung, die Isolation von Belarus zu beenden. Doch die belarussische Führung ignorierte das Angebot, und die EU sah sich gezwungen, neue Sanktionen zu verhängen: Nach den Parlamentswahlen 2004 erhöhte sie die Zahl der belarussischen Offiziellen, die kein Visum für Mitgliedstaaten der Europäischen Union erhalten. Auch wurde Belarus nicht in das Programm der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP) aufgenommen. Dies hatte u.a. zur Folge, dass sich die Visakosten für belarussische Bürger auf 60 Euro erhöhten, während Bürger der Ukraine und Russlands weiter Visa für 35 Euro erhalten. Die belarussische Führung kritisierte daraufhin, die EU messe mit zweierlei Maß, und verkündete, sie würde keine Kompromisse eingehen, um Privilegien von der EU zu erhalten. Der Bevölkerung erklärte sie, die EU würde Belarus ohnehin nicht willkommen heißen, so dass ein Entgegenkommen keine Früchte tragen würde. Aus dieser Sackgasse schien es keinen Ausweg zu geben. Gleichwohl hoffte die EU, dass das Lukašenka-Regime sich bei den Parlamentswahlen Ende September 2008 anders als zuvor an demokratischen Standards orientieren würde. Chancen auf einen Wandel deuteten sich erstmals im Sommer 2007 an, als das Regime einige politische Gefangene freiließ. Kurz vor den Wahlen, im August 2008, wurde als letzter politischer Gefangener auch Aljaksandr Kazulin entlassen, der nach seiner erfolglosen Kandidatur für das Amt des Präsidenten 2006 in Haft genommen worden war. Damit war eine der zwölf Forderungen erfüllt, welche die EU 2006 als Bedingung für eine Verbesserung der Beziehungen aufgestellt hatte. Darüber hinaus bekannte das Regime erstmals öffentlich, dass es mit der Freilassung der politischen Gefangenen einer Forderung der EU nachkomme und im Gegenzug erwarte, dass die EU Kooperationsangebote mache. Im Frühjahr und Sommer 2008 erklärte Lukašenka sogar, die bevorstehenden Parlamentswahlen sollten nach westlichen Standards abgehalten werden. Er könne sich, so Lukašenka, durchaus vorstellen, dass einige Mitglieder der Opposition in das Parlament einziehen. Die Behörden schienen erstmals ein Interesse daran zu zeigen, dass die Wahlen von internationalen Beobachtern für fair und frei erklärt werden. NEUE AUßENPOLITIK? Seit dem Machtantritt von Präsident Lukašenka Mitte der 1990er Jahre war Belarus außenpolitisch einseitig auf Russland ausgerichtet. Damit sollte der in Belarus weitverbreiteten Sowjetnostalgie Genüge getan werden. Neben der Machtsicherung gab es auch wirtschaftliche Gründe, die Lukašenka die Nähe zu Moskau suchen ließen. Er versprach sich niedrigere Preise für die importierten Energieträger und andere Vergünstigungen. Als Gegenleistung unterstützte Minsk Russlands Widerstand gegen die Osterweiterung der NATO und wurde so zu einem antiwestlichen Vorposten Moskaus. Die Sonderbeziehungen zu Russland, die sich in dem Abkommen über die Gründung eines gemeinsamen Unionsstaats niederschlugen, erlaubten Lukašenka auch, die Kritik des Westens an seinem immer autoritäreren Regierungsstil zu ignorieren, den er seit der Einführung der auf ihn zugeschnittenen Verfassung durch das kontroverse Referendum von 1996 pflegte. Wenn Lukašenka in den vergangenen Jahren bisweilen erklärte, er wolle die Beziehungen seines Landes zum Westen verbessern, dann stand dahinter eindeutig die Verschlechterung der Beziehungen zu Russland seit dem Machtantritt Vladimir Putins im Kreml. Ziel der Ankündigungen Lukašenkas war es immer, dem Kreml mit dem Verlust seines engsten Verbündeten zu drohen, um ihn von einer Einstellung der Subventionen für Belarus abzubringen. So blieb es bei der Rhetorik. Daran änderte sich erst etwas, als Russland im Jahr 2007 begann, die Energiepreise für Belarus zu erhöhen und als Belarus sich nach vierzehn Jahren schwieriger Verhandlungen und erfolgreicher Verzögerungstaktik gezwungen sah, 50 Prozent der Anteile des Erdgastransitmonopolisten Beltransgaz an den russländischen Konzern Gazprom zu verkaufen. Damit war Lukašenkas Politik der simulierten Integration mit Russland gescheitert. Gleichzeitig erkannte auch die EU durch die Unterbrechung des Erdgastransits durch Belarus Anfang 2007 erstmals die Bedeutung des Landes für die Versorgung Westeuropas. Belarus erschien nun als eigenständiger internationaler Akteur und nicht mehr als bloßes Anhängsel Russlands. Infolge dieser Ereignisse nahmen die belarussische Führung und die Europäische Kommission neuerlich direkten Kontakt auf. Der größte Erfolg der Gespräche ist bislang ein Abkommen über die Einrichtung einer Delegation der Europäischen Kommission in Minsk, das EU-Außenkomissarin Benita Ferrero-Waldner und der stellvertretende belarussische Außenminister Valery Varanecki im März 2008 unterzeichneten. Das zentrale Interesse der belarussischen Behörden ist es, Direktinvestitionen anzuziehen, um die durch die höheren Energiepreise verschlechterte Leistungsbilanz wieder zu verbessern und eine Modernisierung der belarussischen Wirtschaft anzustoßen. Tatsächlich wurde eine große Zahl von Gesetzen und Verordnungen verabschiedet, die kleineren und mittleren Unternehmen das Wirtschaften erleichtern sollen. Dies führte dazu, dass Belarus in dem von der Weltbank und der International Financial Corporation herausgegebenen Bericht „Doing Business 2009“ auf Platz 85 vorrückte, während es 2008 noch auf Platz 115 gelegen hatte. UNSICHTBARE WAHLEN Es gab somit Anlass zu der Hoffnung, dass die Parlamentswahlen 2008 freier und fairer verlaufen würden als die Urnengänge in den Jahren zuvor. Tatsächlich gab es zu Beginn des Wahlkampfs einige Fortschritte. So arbeitete die Zentrale Wahlkommission eng mit der Wahlbeobachtungskommission des Büros für Demokratische Institutionen und Menschenrechte (Office on Democratic Institutions and Human Rights, ODIHR) der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) zusammen. Die Sitzungen der Zentralen Wahlkommissionen waren öffentlich, und akkreditierte Beobachter sowie Medienvertreter nahmen an ihnen teil. Erstmals durften zudem die Parteien, die Kandidaten für die Wahl nominiert hatten, beratende Mitglieder in die Kommission entsenden. Mitglieder der Opposition hatten darüber hinaus einen ungehinderteren Zugang zu den Kreiswahlkommissionen, wenngleich ihr Anteil an den Kommissionsmitgliedern mit 38 von 1430 Vertretern gering blieb. Besser sah es mit der Zulassung der Kandidaten aus: Von 98 nominierten Kandidaten der Opposition wurden 78 registriert, 2004 waren es lediglich 47 gewesen. Auch nahm die Zentrale Wahlkommission bei diesem Urnengang keine Kandidaten während des Wahlkamps von den Listen. Einige Kandidaten der Opposition erkannten zudem an, dass ihr Wahlkampf weniger behindert worden sei als noch vier Jahre zuvor. Schließlich entschied die Zentrale Wahlkommission als Reaktion auf einige kritische Bemerkungen im Zwischenbericht der OSZE-Beobachtungsmission sogar, die Wahlspots einiger oppositioneller Kandidaten in Regionalsendern des staatlichen Fernsehens wiederholen zu lassen. Entscheidend ist allerdings, dass das restriktive Wahlsystem im wesentlichen unverändert blieb. Die Abgeordneten der Repräsentantenkammer wurden erneut in 110 Direktwahlkreisen nach absolutem Mehrheitsrecht gewählt. Die Regeln für die Kandidatenregistrierung sind weiter sehr strikt. Kleinste formale Fehler in der Einkommenserklärung oder bei der notwendigen Liste mit Unterschriften von Bürgern, die die Kandidatur unterstützen, kann die Wahlkommission zum Anlass nehmen, die Zulassung zu verweigern. Tatsächlich ließ sie 80 der 365 nominierten Kandidaten nicht zu den Wahlen zu. Da zudem einige ihre Kandidatur zurückzogen, stellten sich schließlich nur 263 Männer und Frauen zur Wahl. In den meisten Wahlkreisen standen somit lediglich zwei Kandidaten zur Wahl, in 15 Wahlkreisen sogar nur einer. Daher wurden auch erstmals alle Abgeordneten in der ersten Runde gewählt. Da die Behörden massiv für die – mit mehr Manipulationsmöglichkeiten bei der Stimmenauszählung verbundene – Stimmabgabe vor dem Wahltag geworben hatten, gaben zudem 26 Prozent der Wähler ihre Stimme auf diese Weise ab. Erschwerend kam hinzu, dass die Mehrheit der Wähler keine genauen Informationen über die Kandidaten hatte. Die offiziell erlaubte Summe von 800 US-Dollar pro Kandidat für den Wahlkampf verbot es, eine ernsthafte Kampagne zu führen. Daher wurden die Wahlen von der Bevölkerung kaum wahrgenommen, und die Behörden konnten deren Ausgang ohne Mühe kontrollieren. So erklärte die Wahlbeobachtung der OSZE auch vor allem aufgrund der stark eingeschränkten Möglichkeiten des Wahlkampfs sowie der mangelnden Transparenz bei der Auszählung der Stimmen in ihrem vorläufigen Bericht, dass trotz einiger kleiner Verbesserungen die Wahlen nicht den demokratischen Standards entsprochen hätten, zu denen sich Belarus verpflichtet hat. Darüber hinaus gelang es keinem einzigen Kandidaten der Opposition und keinem privaten Unternehmer, in die Repräsentantenkammer einzuziehen. Insgesamt hat sich daher trotz gegenteiliger Beteuerungen der Behörden das Szenario der Wahlen in den Jahren zuvor wiederholt. Anders als zuvor fiel jedoch die offizielle Reaktion aus. Hatte die Kritik am Verlauf der Wahlen zuvor immer zu einer Verschärfung der gegen den Westen gerichteten Propaganda geführt, so reagierten die belarussischen Behörden dieses Mal moderat. Sie konzentrierten sich ausschließlich auf Aspekte, die die OSZE positiv bewertete, und drückten ihre Hoffnung auf eine Vertiefung der Kooperation zwischen der EU und Belarus aus. Erstmals seit dem Machtantritt Lukašenkas zeigte das Staatsfernsehen zwei Live-Debatten über das Wahlergebnis, an denen unter anderen die Vizepräsidentin der parlamentarischen Versammlung der OSZE, Anne-Marie Lizlin, sowie Vladimir Nistjuk, der für die Opposition kandidiert hatte, teilnahmen. PARALYSIERTE OPPOSITION Das Scheitern der Kandidaten der Opposition kann nicht allein darauf zurückgeführt werden, dass die Wahlen nicht frei und fair verliefen. Eine Rolle spielt auch, dass die wichtigsten Oppositionsparteien, die Belarussische Volksfront (Belaruski narodny front, BNF) die Belarussische Partei der Kommunisten (Partyja kamunistaǔ belaruskaja, PKB), die Belarussische Sozialdemokratische Vereinigung (Belaruskaja sacyjal-dėmakratyčnaja hramada, BSD-H) und die Vereinigte Bürgerpartei (Ab’jadnanaja hramadzjanskaja partyja, AHP) weiter zerstritten sind. Im Jahr 2005 hatten sie sich zwar in den Vereinten Demokratischen Kräften (Ab’jadnanyja demakratyčnyja sily, ADS) zusammengeschlossen und mit Aljaksandr Milinkevič einen gemeinsamen Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen 2006 nominiert. Milinkevič wurde darüber hinaus von der Europäischen Koalition (Eǔrapejskaja kaalicyja) unterstützt, einer heterogenen Gruppe überwiegend nichtregistrierter oppositioneller Organisationen, die vor allem das gemeinsame Bekenntnis zur europäischen Integration als Ziel für Belarus zusammenhält. Doch nach den Wahlen zerfiel dieses Bündnis wieder, und beide Oppositionsblöcke stellten ihre eigenen Kandidaten auf. Das war nicht nur wegen des Mehrheitswahlrechts fatal, sondern auch weil das Bild von der Selbstblockade der Opposition bestätigt wurde. Diese Vorgänge trugen dazu bei, dass die Bereitschaft der Bevölkerung, gegen die Wahlfälschung zu protestieren, sehr gering war. Unabhängigen Umfragen zufolge war zwar ein Drittel der Wähler davon überzeugt, dass die Ergebnisse manipuliert wurden, doch weniger als zehn Prozent erklärten, sie seien bereit, gegen die Fälschung des Wahlergebnisses zu protestieren. Zu einer von der Opposition organisierten Protestveranstaltung in der Minsker Innenstadt kamen nur zwischen 500 und 1000 Menschen. Vertrauen hatte die Opposition auch dadurch verloren, dass mehrere Oppositionsvertreter der Vereinigten Bürgerpartei und der Volksfront die Wahl boykottierten oder ihre Kandidaten kurz vor der Wahl zurückzogen. Ein Zweck des Boykotts war es nach Auffassung dieser Kräfte zu verhindern, dass die EU die Wahlen anerkennt, denn sie begriffen die vorsichtigen Kontakte zwischen der EU und den belarussischen Behörden als Verrat. Die Propaganda des Regimes griff diese Haltung auf, um die Opposition in einem paradoxen Umkehrschluss zu beschuldigen, die Annäherung zwischen Belarus und der EU zu verhindern. Diesen Kurs schlugen auch die Staatsmedien ein, die die Opposition bezichtigten, sich nicht an europäische Standards zu halten, da die Führer der Parteien nicht zurückträten, obwohl sie bereits mehrere Niederlagen erlitten haben. Dieses Argument ist in der Tat nicht ganz von der Hand zu weisen. Die Opposition benötigt tatsächlich einen Personal- und Generationswechsel, um bis zu den nächsten Wahlen mehr Anhänger zu bekommen. Nur mit neuen Ideen und Köpfen wird es ihr gelingen, das durchaus rationale Wahlverhalten vieler Belarussen zu ändern, die von „ihrem“ Kandidaten vor allem erwarten, dass er die Probleme der Menschen in seinem Wahlkreis löst und daher folgerichtig für den Kandidaten der Exekutive stimmen. GEOPOLITIK ODER WERTE? Viele Vertreter der Opposition sind seit einiger Zeit der Überzeugung, die EU lasse sich bei ihrer Belarus-Politik vor allem von geopolitischen Erwägungen leiten, demokratische Standards stünden dahinter zurück. Eine Bestätigung für diese Ansicht sehen sie darin, dass die EU Präsident Lukašenka dafür belohnte, dass er trotz des Drucks aus Moskau die einseitig erklärte Unabhängigkeit Südossetiens und Abchasiens bislang nicht anerkannt hat. Dennoch stehen hinter der am 13. Oktober 2008 vom Rat der EU-Außenminister beschlossenen, zunächst auf sechs Monate befristeten Aussetzung des Visabanns für Lukašenka und andere belarussische Staatsvertreter nicht nur geopolitische Motive. Mit dieser Entscheidung hat die EU dem Regime demonstriert, dass sie tatsächlich bereit ist, auf die Erfüllung einer ihrer Forderungen – der Freilassung von politischen Gefangenen – auch umgehend zu reagieren. Gleichzeitig hat die EU es nicht bei der Aufhebung der Sanktion belassen, sondern gleichzeitig angekündigt, mehr noch als zuvor die belarussische Zivilgesellschaft zu fördern. Versäumt hat es die EU allerdings, auch die Visagebühren für Belarussen zu senken. Damit hat sie es der Opposition leicht gemacht, ihr geopolitische Motive zu unterstellen. Indem sich die Opposition den neuen Initiativen der EU entgegenstellte, geriet sie freilich in Gefahr, aus der Annäherung zwischen Belarus und der EU ausgeschlossen und damit weiter politisch marginalisiert zu werden. Daher versuchen die Vertreter der Vereinigten Demokratischen Kräfte seit Mitte Oktober 2008 bei der EU zu erreichen, dass diese ihre Dialog-Initiativen nur in Absprache mit der Opposition formuliert. Dieses Anliegen wurde u.a. bei einem Treffen mit dem polnischen Außenminister am 21. Oktober in Warschau und mit dem stellvertretenden tschechischen Außenminister am 24. Oktober in Minsk diskutiert. Die Bemühungen der Vereinigten Demokratischen Kräfte lassen sich auch damit erklären, dass der ehemalige Präsidentschaftskandidat und Initiator der Bewegung Für die Freiheit (Za svabodu), Aljaksandr Milinkevič, sich bereits in den vergangenen Monaten als einziger prominenter Oppositionspolitiker aktiv für einen Dialog zwischen der EU und der belarussischen Führung eingesetzt hat. Zudem hat Milinkevič bewusst auf eine eigene Kandidatur bei den Parlamentswahlen verzichtet und stattdessen eine bereits auf die nächsten Präsidentschaftswahlen zielende Öffentlichkeitskampagne betrieben. Infolgedessen befürchteten seine oppositionellen Kontrahenten, dass der sich über die Niederungen der Parteikämpfe stellende Milinkevič zu sehr an außen- und innenpolitischem Einfluss gewinnen könnte. Während die Opposition somit taktierte und ihre innere Zerrissenheit vertiefte, zeigte die belarussische Führung überraschend deutlich Initiative. Beim XI. Minsk-Forum unterstrich der Leiter der Präsidialadministration, Vladimir Makej, am 13. November 2008 die Dialogbereitschaft seines Landes und kündigte u.a. für den Medienbereich, spürbare Verbesserungen an. Wenige Tage später bestätigte die belarussische Führung in einem der EU überreichten Non-paper ihre Bereitschaft zu Gesprächen über das neue Mediengesetz und den Wahlkodex. Als konkrete Schritte wurde den unabhängigen Zeitungen Narodnaja volja und Naša niva wieder der Zugang zu staatlichen Druckereien im Lande sowie zum staatlichen Vertriebsnetz über Kioske etc. gewährt. Gleichzeitig erfolgte in den staatlichen Medien eine intensive positive EU-Berichterstattung. Damit erfüllte die belarussische Führung weitere der inzwischen von 12 auf 5 reduzierten Forderungen der EU. Gleichwohl ist die Gefahr groß, dass der Wandel bloß ein kosmetischer sein wird und dass keine tiefgreifenden, das System verändernden Reformen erfolgen. An die Stelle der simulierten Integration mit Russland könnte eine simulierte Annäherung an die EU treten. Die zarten Ansätze zu einer innen- wie außenpolitischen Neuorientierung sind insbesondere dadurch gefährdet, dass Russland bei den anstehenden neuen Verhandlungen über die Energiepreise Belarus unter Druck setzen wird, den russländischen Rubel zu übernehmen. Die bereits erkennbaren Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auf Belarus dürften dabei die belarussische Verhandlungsposition schwächen. Perspektiven Die EU ist nun gefordert, entschlossen zu handeln. Der Dialog mit Vertretern des belarussischen Staats sollte sich auf konkrete Fragen in den Bereichen Energie, Verkehr, Privatisierung, Sozialpolitik und Bildung konzentrieren. In die Gespräche sollte nicht nur die Exekutive, sondern auch das neugewählte Parlament einbezogen werden. Da die belarussische Führung anders als die dominanten politischen Kräfte in der Ukraine nicht an einer EU-Mitgliedschaft interessiert ist, wäre die Europäische Nachbarschaftspolitik sowie die neu angekündigte Initiative der osteuropäischen Partnerschaft der ideale Rahmen für eine schrittweise Verbesserung der Beziehungen. Die Nachbarstaaten Polen und Litauen können als Vorbilder eine wichtige Rolle bei der Vermittlung von Reformen in Belarus spielen. Fest steht aber, dass ein tiefgreifender Wandel ohne eine andere politische Kultur nicht möglich sein wird. Daher muss die EU darauf achten, dass sie eine ausgewogene Politik betreibt, die alle Zielgruppen anspricht: die staatlichen Stellen, die Oppositionskräfte, die Zivilgesellschaft und die passive Bevölkerung. Es geht um den Ausbau der Beziehungen zu allen Ebenen sowie um den Brückenschlag zwischen ihnen. ASTRID SAHM (1968), Dr. phil., Direktorin der internationalen Bildungs- und Begegnungsstätte „Johannes Rau“, Minsk Von Astrid Sahm ist in Osteuropa erschienen: Im Banne des Krieges. Gedenkstätten und Erinnerungskultur in Belarus, in: Osteuropa, 6/2008, S. 229–246. – Schwierige Nachbarschaft. Die polnische Belarus-Politik, in: Osteuropa, 11–12/2006, S. 101–126. – Auf dem Weg in die transnationale Gesellschaft? Belarus und die internationale Tschernobyl-Hilfe, in: Osteuropa, 4/2006, S. 71–80. – Gesellschaft als eigenständige Veranstaltung, in: Osteuropa, 2/2004, S. 96–110.
Volltext als Datei (PDF, 102 kB)