Titelbild Osteuropa 11/2008

Aus Osteuropa 11/2008

Editorial
Krieg im Kaukasus – Rückblick auf ein Lehrstück

Manfred Sapper, Volker Weichsel


Abstract in English

(Osteuropa 11/2008, S. 3–4)

Volltext

War da was? Wer das Ausmaß an öffentlicher Aufmerksamkeit, das ein Ereignis genießt, als Indikator für seine Bedeutung versteht, muss zu dem Ergebnis kommen, dass wieder business as usual herrscht. Und wer dazu noch die Bilder vom Russland-EU-Gipfel am 14. November 2008 in Nizza gesehen hat, reibt sich verwundert die Augen. Die kleinen Männer aus Moskau und Paris herzen sich und lachen miteinander, dass es eine wahre Freude ist. Medvedev und Sarkozy demonstrieren: Realpolitik ist schön! Sie macht Spaß und beschert Erfolg! Da passt es ins Bild, dass die Verhandlungen der EU mit Russland um ein neues Partnerschafts- und Kooperationsabkommen, die nach dem Südossetienkrieg im August 2008 unterbrochen waren, wieder fortgesetzt werden. Schließlich waren sie, diplomatisch gesprochen, nur „verschoben“, nicht ausgesetzt worden. Das macht deren Wiederaufnahme leichter. Und die Karawane zieht weiter. Das ist das eherne Gesetz der Politik und des Medientrosses. Diese Betriebsamkeit ist dem Nachdenken nicht förderlich. Doch mitunter ist es angezeigt, einmal innezuhalten, zurückzublicken und sich über das, was war, Rechenschaft abzulegen. War da was? Ja, in der Tat! Der Krieg zwischen Georgien und Russland war der sechste Krieg im Kaukasus seit 1991. Diese Region ist damit der konflikt- und kriegsträchtigste Raum in der Nachbarschaft der EU. Der Krieg war mehr als ein „kleiner“, „kurzer“ oder „lokaler Krieg“. All diese Adjektive haben eine euphemistische, anästhesierende Wirkung. Sie verschleiern, dass mit jedem Krieg Tod, Traumata, Zerstörung und Vertreibung verbunden sind. Darüber hinaus ist dieser Krieg in vielerlei Hinsicht ein Lehrstück. • Es ist ein Irrtum, Clausewitz als militärischen Denker zu lesen. Er war ein eminent politischer Kopf. Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Und der Krieg verrät viel über den Charakter der Politik, die politische Ordnung der Kriegsparteien und das Weltbild der Akteure. Das gilt für Georgien und Russland gleichermaßen. • Unabhängig von allen vorausgegangenen militärischen Scharmützeln und Provokationen in Südossetien im Sommer 2008 hat Georgiens Regime unter Präsident Micheil Saakaschwili den Krieg vom Zaun gebrochen und ein kontraproduktives Ergebnis erzielt. Der intransparente, autoritäre und von gravierenden Fehlperzeptionen geprägte Entscheidungsprozess verweist auf Funktionsdefizite im politischen System Georgiens, welche die EU bei ihrer Nachbarschaftspolitik nicht länger ignorieren darf. • Dass die Herrschenden in Russland seit Putin zur negativen Mobilisierung, Rezentralisierung und Legitimation der autoritären Ordnung äußere Feindbilder benötigen und auf das sowjetische Motiv von Russland als einer belagerten Festung zurückgreifen, haben Lev Gudkov, Boris Dubin oder Lilija Ševcova wiederholt in Osteuropa analysiert. In diesem Weltbild spielt die vorgebliche Bedrohung durch die Nato und die USA eine fundamentale Rolle. Ein „kleiner erfolgreicher Krieg“ war funktional. Tatsächlich schloss die Bevölkerung die Reihen hinter der Führung. • Der politische Kollateralschaden ist enorm. Russlands militärische Reaktion in Südossetien mag legitim gewesen sein. Doch durch das Vorrücken nach Georgien, das Besatzungsverhalten und das politische Agieren hat es der Kreml geschafft, den kleinen militärischen Erfolg in eine gewaltige politische Niederlage zu verkehren. Die Anerkennung Südossetiens und Abchasiens als unabhängige Staaten wiegt die weitere Militarisierung der eigenen Gesellschaft und Politik sowie die internationale Selbstisolation Russlands selbst in der GUS und der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit nicht auf. • Dieser Krieg war ein Katalysator. Mit einem Schlag wurden die Widersprüche, Spannungen und die Entfremdung offengelegt, die sich seit Beginn der Putin-Ära zwischen Russland und dem Westen aufgestaut haben. • Die deutsche Öffentlichkeit zeigte sich kaum auf der Höhe der Zeit. Einen Lackmustest stellten die Talkshows in ARD und ZDF dar. „Zurück in den Kalten Krieg?“ fragten die Moderatorinnen besorgt und baten ausgerechnet all die Scholl-Latours dieser Welt um eine Antwort, deren Weltbild sich zwischen Berlin-Blockade und Kuba-Krise gefestigt hatte. Ein Trauerspiel. • Überhaupt der „Kalte Krieg“. Er steckt bis heute in den Köpfen. Der Begriffsapparat in Medien und Politik ist inadäquat. Weder war der Krieg in Südossetien die Rückkehr des „russischen Imperialismus“, noch stecken hinter all der Unbill im Kaukasus die USA. Derartige Schematismen dienen nur einem Zweck: Sie spenden Gewissheit dort, wo Zweifel und Prüfung der Fakten angesagt wären. In der Regel führen sie in die Irre. Auf den Prüfstand gehören noch ganz andere Kategorien, so etwa die von der „strategischen Partnerschaft“ zwischen Russland und dem Westen. Das Mantra, zu einer engen Kooperation mit Russland gäbe es aus energiepolitischen Gründen keine Alternative, verliert an religiöser Wirkung, denkt man an die Endlichkeit von Öl und Gas sowie den klimapolitischen kategorischen Imperativ, postfossile Volkswirtschaften aufzubauen. • Unübersichtlich sind die neuen Fronten nach dem Krieg im Kaukasus. Armenien wird sich neu orientieren müssen. In den Konflikt um Bergkarabach kommt Bewegung. Das alles bedeutet: Der Südkaukasus verdient mehr Aufmerksamkeit als bisher. • Völlig ignoriert wurde eine spezifische Dimension des Krieges: die religiöse. Zum ersten Mal seit über hundert Jahren, als Serbien, Bulgarien und Griechenland um Makedonien kämpften, standen sich nun mit den Soldaten Russlands und Georgiens Angehörige von orthodoxen Bruderkirchen gegenüber. Die Macht dieser Kirchen, in tempore belli den eigenen Kriegstreibern in den Arm zu fallen und für eine friedliche Konfliktlösung einzutreten, bleibt frappierend schwach. Aber das ist ein Thema für sich – wenn auch schon wieder ein trauriges. Ob all die Handelnden, die im Brechtschen Sinne das Lehrstück aufgeführt haben, auch Lehren aus ihm ziehen wollen, steht auf einem anderen Blatt. Auf den folgenden Seiten bieten die Autorinnen und Autoren Interpretationsangebote, wie man dieses Lehrstück zumindest lesen kann.