Wiedergeburt per Dekret
Nationsbildung in Zentralasien
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Abstract
Nach der Erlangung der Unabhängigkeit standen die zentralasiatischen Staaten vor der Aufgabe, sich eine nationale Identität zu schaffen. Im Unterschied zu den europäischen Nachfolgestaaten der Sowjetunion, wo breite Volksbewegungen die nationale Eigenständigkeit erstritten hatten, ging die Nationsbildung in Zentralasien von oben aus. Die autoritären Herrscher kreierten für die Titularnationen identitätsstiftende Symbole, nationale Helden und Traditionen. Um eine jahrhundertealte Staatlichkeit zu konstruieren, die eigene Nation zu glorifizieren und die Herrschaft des Regimes zu legitimieren, übergehen die Machthaber historische Brüche und die problematische jüngste Vergangenheit. Die ideologische Gleichschaltung schließt jede alternative Geschichtsinterpretation aus.
(Osteuropa 8-9/2007, S. 139154)
Volltext
Der Zerfall der Sowjetunion bescherte den zentralasiatischen Staaten urplötzlich eine Unabhängigkeit, die sie keineswegs eingefordert hatten. Doch dass im Gegensatz zu den baltischen Ländern oder der Ukraine keine Unabhängigkeitsbewegung existierte, die durch breite Volksmassen oder Dissidentengruppen getragen worden wäre, bedeutet nicht, dass es in Zentralasien überhaupt keine Ansprüche auf eine nationale Identität gegeben hätte. Während der Perestroika bestimmten Forderungen nach einer stärkeren Berücksichtigung nationaler kultureller Eigenheiten sehr wohl die öffentliche Debatte. So setzten sich beispielsweise Intellektuelle dafür ein, dass die Sprachen der Titularnationen den Status von Staats- und Amtssprachen erhalten, eine Forderung, die mit den zentralasiatischen Sprachgesetzen von 1989 erfüllt wurde. Auch manches tabuisierte Ereignis der Geschichte durfte in dieser Zeit der Liberalisierung wieder gewürdigt werden. Helden, die totgeschwiegen worden waren, weil sie in der Vergangenheit gegen die Russen gekämpft hatten, wurden ebenso dem Vergessen entrissen wie die zentralasiatischen Kommunisten der Jahre 1920–1930, die später den stalinistischen Repressionen zum Opfer gefallen waren. Die neuen Machthaber, die in Kasachstan, Turkmenistan und Usbekistan auch die alten Parteichefs waren, betrachteten aber jene Intellektuellen, die während der Perestroika für eine andere, eigene Geschichte gestritten hatten, rasch als Konkurrenten: Die einen hatten eine demokratische Ordnung eingefordert und sich deshalb irgendwann gegen den amtierenden Präsidenten ausgesprochen; andere verfügten über eine große symbolische Legitimität und unterstrichen dadurch ex negativo, dass die Männer an der Spitze der nun unabhängigen Staaten sich in der Umbruchszeit als Parteichefs der jeweiligen Sowjetrepublik gegen den Wandel gestemmt hatten. Diese Männer der ersten Stunde wurden entweder ausgeschaltet und ins Exil getrieben (im Falle von Usbekistan und Turkmenistan) oder auf unauffälligere Weise kaltgestellt (wie z.B. der Schriftsteller Tschingis Aitmatow in Kirgisistan oder der Lyriker Olschas Suleimenow in Kasachstan). Heute hat sich ein Mantel des Schweigens über die intellektuellen und politischen Auseinandersetzungen der zweiten Hälfte der 1980er Jahre gelegt. Die Schaffung neuer Gedächtnisorte und nationaler Symbole Die Gesellschaften der zentralasiatischen Staaten hatten beim Auseinanderbrechen der UdSSR durchaus das Bewusstsein einer nationalen Identität. Dabei handelt es sich aber nicht um ein vorsowjetisches Erbe, das in der Perestrojka eine „Wiedergeburt“ erlebte – auch wenn eine solche von den zentralasiatischen Machthabern gerne herbeigeredet wird. Viel mehr handelt es sich um ein sowjetisches Erbe. So ging die Schaffung identitätsstiftender Symbole nicht ohne eine gewisse Willkür ab. Turkmenistan und Usbekistan etwa schafften in den 1990er Jahren das kyrillische Alphabet als Symbol der Russifizierung ab. Allerdings führten sie nicht die traditionelle arabische Schrift ein, sondern ein lateinisches Alphabet, ähnlich dem, das in den späten 1920er und 1930er Jahren auf Moskauer Geheiß bereits schon einmal gegolten hatte. Auch in Kasachstan und Kirgisistan steht diese Frage regelmäßig auf der Tagesordnung. In Tadschikistan dagegen, wo unmittelbar nach der Unabhängigkeitserklärung kurz eine Rückkehr zum persischen Alphabet erwogen wurde, scheint das Thema im Moment nicht aktuell zu sein. Auch in der Toponymie spiegelt sich die Herausbildung nationaler Identität. Die russischen und sowjetischen Namen zahlreicher Straßen und Plätze wurden ersetzt. In Turkmenistan und Usbekistan geschah dies sehr rasch, während die drei anderen Staaten sich Zeit ließen. Die Leninstatue auf dem zentralen Platz von Bischkek musste erst 2003 einer geflügelten Freiheitsstatue weichen, die das nationale Symbol einer strahlenden Sonne in die Höhe reckt. Das Lenindenkmal steht heute etwa hundert Meter weiter hinter dem Nationalmuseum. Generell verblieben die „Gedächtnisorte“ an alter Stelle und wurden nur umgewidmet. So steht statt eines Lenin auf dem Karl-Marx-Platz von Taschkent nun Tamerlan auf dem nach ihm umbenannten Platz; und in Duschanbe wurde sein Double zunächst durch den persischen Schriftsteller Ferdousi ersetzt, der jedoch rasch als gar zu politisch und „islamisch“ galt, weshalb er 1999 zugunsten von Ismail Samani das Feld räumen musste. Die Nationalmuseen wurden entweder neu erbaut oder von Grund auf umgestaltet. Kirgisistan scheint dabei am unbefangensten mit seiner sowjetischen Vergangenheit umzugehen: Es hat den Großteil des früheren Fundus beibehalten und nur eine Abteilung zur staatlichen Unabhängigkeit hinzugefügt. Im kasachischen Almaty wurde ebenso wie im tadschikischen Duschanbe das Museum vollständig umkonzipiert, während das neue Museum in Astana gänzlich der ideologischen Linie des unabhängigen Staates Kasachstan huldigt. Turkmenistan wiederum hat sich einen pompösen Neubau mit drei Abteilungen geleistet: Altertum – mit einer überaus wertvollen Sammlung –, turkmenische Volkskunde –Trachten, Schmuck, Wohnformen – und turkmenische Unabhängigkeit. Diese Abteilung ist ausschließlich dem Turkmenbaschi gewidmet, dem „Haupt aller Turkmenen“, wie sich der 2006 verstorbene Präsident Nijasow nennen ließ. Andere Geschichtsepochen gibt es nicht. In der usbekischen Hauptstadt eröffnete 1996 die Regierung mit viel Brimborium das neue Timuridenmuseum, Weiheort einer ewigen usbekischen Nation, in dessen Zentrum die Wiederaufwertung der zu Staatsgründern erklärten Dynastie steht. Es gibt kaum Originalexponate, sondern fast ausschließlich Kopien und Nachbildungen, deren Hauptzweck die patriotische Erziehung der Jugend ist. Das seit Ende der 1990er Jahre geschlossene Historische Museum konnte erst 2004 seine Pforten wieder öffnen, als das Geschichtsbild der Kuratoren nach mehreren Änderungen endlich den Vorstellungen Präsident Islam Karimows entsprach. Teilweise wurden Gedächtnisorte auch aus dem Nichts geschaffen. So gilt in Kasachstan das Gebiet von Semei (Semipalatinsk) als wichtiger Ort nationaler Geschichte, weil zwei berühmte Schriftsteller dort zur Welt kamen: Abai Kunanbajew und Muchtar Auesow. Das 1995 anlässlich des 150. Geburtstages des Schriftstellers eröffnete Abai-Museum dient gleichsam als Mekka der kasachischen Kultur. Es stilisiert den Dichter und Gelehrten Abai zum islamischen Heiligen und seine Familie zu Nachfahren der ersten Propheten. Alle fünf zentralasiatischen Staaten wollen an eine angeblich „vorsowjetische“ Identität anzuknüpfen, die untergegangen sei. Wenn es davon keine Spuren gibt, wird kurzerhand eine nationale Tradition erfunden, in dem Orte, Symbole und Ereignisse aus dem historischen Kontext gerissen und in eine nationale Geschichte eingerückt werden. Neuentdeckte nationale Symbole bekommen in Form von Flaggen und Wappen einen offiziellen Status: Die kasachische Flagge zeigt eine Sonne und darunter einen auffliegenden Steppenadler, die kirgisische eine Sonne, in die das Dach einer Jurte – Träger der nationalen Kosmogonie – eingelassen ist, die turkmenische u.a. fünf traditionelle Teppichmuster, die für die fünf größten Stämme des Landes stehen. Zum offiziellen Bilderkanon Kasachstans gehört darüber hinaus ein Reiter in vollem Galopp, Kirgisistan liebt die Jurte als dekoratives Element, und in Usbekistan feiern „traditionelle“ Gewänder fröhliche Urständ bei Hochzeiten und sonstigen Festen. Darüber hinaus kreiert jeder Staat sein „altüberkommenes“ Kunsthandwerk, das nicht nur Touristen verführen soll, sondern auch die einheimische Bevölkerung, die an dieser „Erfindung von Traditionen“ gleichfalls Anteil hat. Wie der Rest der Welt erschafft sich Zentralasien ein Territorium und verherrlicht eine Vergangenheit, die vor dem Verschwinden zu bewahren sei. Schwieriger Umgang mit der jüngsten Vergangenheit Ausgeklammert aus dieser Identitätsbildung bleiben die Kolonialzeit und die sowjetische Periode. Die gegenwärtigen Machthaber haben sich allesamt aus der sowjetischen Nomenklatura herübergerettet und ziehen es vor, nicht an diese Kontinuität zu rühren, aus Angst, der Widerspruch zu ihren aktuellen Legitimationsrhetorik könne allzu augenfällig werden. So bleiben paradoxerweise Bezüge zum 20. Jahrhundert, die durchaus für eine Glorifizierung geeignet wären, im Schatten. Zu nennen wäre hier etwa der Dschadidismus vom Beginn des 20. Jahrhunderts, dessen intellektuelle Vordenker der Moderne eine pantürkische Identität vertraten. Eine solche entspricht nicht dem Geschmack der herrschenden Regime, da diese ihre Legitimation aus dem Nationalstaat beziehen und deshalb jede regionale Identität ablehnen. Ebenso wenig mögen sie sich auf die in den 1930er Jahren liquidierten Kommunisten mit ihrem Traum von einem islamischen Sozialismus und ihrem allzu großen Enthusiasmus beim Aufbau des Bolschewismus berufen. Die Basmatschi wiederum, eine Oppositionsbewegung der 1920er und 1930er Jahre, kollidieren aufgrund ihrer allzu fundamentalistischen Positionen – sie forderten unter anderem die Wiedereinführung der Scharia – lassen sich schlecht für die Ideologie von Staaten instrumentalisieren, die den Laizismus auf ihre Fahnen geschrieben haben. Schließlich finden diese historischen Ereignisse und Personen auch deshalb kaum Eingang in den offiziellen Kanon, weil sich ihrer die nationalistischen oder islamisch-nationalistischen Oppositionskreise bedienen. Zwiespältig ist auch die Haltung der zentralasiatischen Machteliten gegenüber der zaristischen Kolonisation. Das Zurückdrängen zentralasiatischer Traditionen, die Dominanz der russischen Sprache und Kultur sowie die wirtschaftliche Ausbeutung der lokalen Bodenschätze sind Grund genug, diese Zeit zu verdammen. Doch die großen Volksaufstände gegen das Russische Reich werden zwar in den Schulbüchern als Momente des „Kampfes für die nationale Befreiung“ dargestellt, nehmen jedoch im öffentlichen Gedenken noch keinen breiten Raum ein. Allein Turkmenistan hat bereits 1990 zum Gedenken an den gloriosen Widerstand im Kampf gegen die Russen in Gök-Tepe 1881 einen Nationalfeiertag (12. Januar) eingeführt. Was die russisch-sowjetische Periode als historischen Gegenstand betrifft, so bleibt sie ein heißes Eisen, zwingt die Beschäftigung damit doch dazu, sich einer schwierigen kollektiven Erinnerungsarbeit zu stellen sowie der Aufarbeitung der politischen und sozialen Umbrüche, die Zentralasien im 20. Jahrhundert erschütterten. Andererseits hält man in den fünf zentralasiatischen Staaten aber das Gedenken an zwei große symbolische Momente der Sowjetzeit wach: an die Eroberung des Weltraums und an den „Großen Vaterländischen Krieg“ (der 9. Mai ist unverändert Feiertag in ganz Zentralasien). Außerstande, eine eindeutige Position zur UdSSR zu beziehen, sehen sich die „neuen“ Machthaber genötigt, auf weiter zurückliegende Geschichtsepochen zurückzugreifen. Hierbei beruft man sich lieber auf nationale Heroen und „unpolitische“ Schriftsteller als auf Intellektuelle, die auch politisch aktiv waren, etwa auf Vertreter der nationalkommunistischen und dschadidistischen Eliten der 1920er Jahre. „Nationale“ Herrscherdynastien und heldenhafte Staatsgründer Der usbekische Staat stellte unmittelbar nach der Erlangung der Unabhängigkeit Tamerlan und dessen timuridische Nachfolger (15. Jahrhundert) ins Zentrum seines Erinnerungsdiskurses. 1994 verfasste Präsident Karimow selbst ein Buch über die mächtige Dynastie, und eine ganze Reihe usbekischer Historiker schreibt gegen das im Westen überlieferte Bild von Tamerlan als blutrünstigem Herrscher an, indem sie ihn als besonnenen Staatsmann und Feldherrn, als großzügigen Förderer der Künste, bedeutenden Bauherrn und in religiösen Fragen toleranten Herrscher zeichnen. Einige bedeutende Literaten und Wissenschaftler werden gleichfalls als usbekische Geistesgrößen vereinnahmt, wenngleich Tadschikistan und Kasachstan dieselben Figuren für ihren nationalen Pantheon reklamieren. Umkämpft sind insbesondere Avicenna, al-Termezi, al-Chwarizmi und al-Farabi: Ihre glänzenden Namen sind ein Aushängeschild, mit dem sich der Rest der muslimischen Welt wunderbar an die Rolle Zentralasiens für die kulturelle Blüte des mittelalterlichen Islam erinnern lässt. Auch hat die usbekische Regierung das Grab des Imam al-Buchari in der Nähe von Samarkand restauriert und 1998 zur offiziellen Pilgerstätte erklärt. Um eine andere große Figur, den berühmten Sufi-Gelehrten Ahmad Jassawi (1103–66), streitet sich Usbekistan mit Kasachstan: Die Grabmoschee befindet sich in der kasachischen Stadt Turkestan, die im Jahr 2000 mit viel Prunk den 1500. Geburtstag des Hodscha feierte; das Timuridenmuseum in Taschkent jedoch zeigt ein Modell des Mausoleums, ohne dessen geographische Lage zu erwähnen, so dass der Eindruck entsteht, es handele sich um ein usbekisches Nationalmonument. Tadschikistan, das nach der Erklärung der Unabhängigkeit sogleich im Bürgerkrieg versank (1992–1997), hatte Mühe, sich für eine nationale Symbolfigur zu entscheiden. Den Zuschlag bekam schließlich auch hier ein Staatsmann, in diesem Falle der Begründer der ersten persischen muslimischen Dynastie, der bereits erwähnte Ismail Samani. Diese Entscheidung ist allerdings nicht unproblematisch, befindet sich sein Grab doch in Buchara; ein Umstand, der unterstreicht, dass die persische Kultur der Samaniden nicht auf das heutige Staatsgebiet Tadschikistans beschränkt war, dass im Gegenteil die großen Städte dieser Kultur, Buchara und Samarkand, im heutigen Usbekistan liegen. Aus dieser Zwickmühle hilft der Zoroastrismus als „Alternative“ zur samanidischen Dynastie: Seine Wiederaufwertung ermöglicht es, die für die tadschikische Identität heiklen Fragen der Rolle des Islam und des Verhältnisses zu Usbekistan zu umgehen. Der Islam ist für die Staatsmacht aus mindestens drei Gründen ein Problem: zum ersten wegen der religiösen Gegensätze zwischen sunnitischen Tadschiken und schiitisch-ismailitischen Pamiri, den Bewohnern des Autonomen Gebiets Berg-Badachschan, zum zweiten weil er ganz Zentralasien gemeinsam ist und somit nicht zur Propagierung einer spezifisch nationalen Identität taugt, sondern im Gegenteil die Erinnerung an das gemeinsame kulturelle Erbe wachhält; zum dritten und vor allem aber deshalb, weil ihm in Gestalt des Islamismus eine mögliche politische Konkurrenz erwächst. So hat Präsident Emomali Rachmon – der im März 2007 die slawische Endung seines Namens Rachmonow abgelegt hat – den Zoroastrismus widersinnigerweise als die „nationale Religion“ der Tadschiken bezeichnet und Zarathustra als „ersten Propheten“ des tadschikischen Volkes. Gleichzeitig wurde eine bizarre arische Ideologie aus der Taufe gehoben, die zwar mit dem germanisch-arischen Mythos von einst nichts zu tun haben will, gleichwohl aber stark ethnozistisch aufgeladen ist. Zum 15. Jahrestag der staatlichen Souveränität erklärte Staatspräsident Rachmon das Jahr 2006 per Dekret zum „Jahr der arischen Kultur“, was international für Unruhe sorgte. In Turkmenistan ließ die krankhafte Megalomanie des 2006 verstorbenen Präsidenten Nijasow immer weniger Platz für den Kult einer Gründerdynastie oder irgendwelche Nationalhelden. Unmittelbar nach der Erlangung der Unabhängigkeit hatte sich die turkmenische Staatsmacht auf das Altertum fokussiert und angesichts der vielen archäologischen Funde im Lande die berühmten Parther (3. Jahrhundert v. Chr. bis 3. Jahrhundert n. Chr.) deutlich aufgewertet, die freilich auch der Iran für sich beansprucht. Auch berief man sich gern auf die Ogusen, ein im 9. und 10. Jahrhundert in der Region lebendes Turkvolk, und die Seldschuken (11./12. Jahrhundert). Unter den Literaten wurde der Dichter Machtumkuli zur wichtigsten Größe. In den letzten Jahren jedoch wurden all diese historischen Epochen und Figuren durch den Kult des Turkmenbaschi verdrängt, der sich als Nachfahr Alexanders des Großen ausgab und die Abstammung seines Volkes bis auf Adam und Eva zurückführte. Am schwierigsten stellt sich die Institutionalisierung einer Gründerdynastie oder eines Nationalhelden als Kristallisationspunkt der nationalen Identität in Kasachstan dar, wo mehrere historische Epochen bzw. Figuren von ihrer Bedeutung her in Frage kämen. So bevorzugen bestimmte Intellektuellenkreise Dschingis Khan. Doch nicht nur wegen seiner legendären Grausamkeit, sondern auch deswegen, weil er von der Mongolei ebenfalls als Gründungsvater beansprucht wird, ist er als Identifikationsfigur problematisch. Erschwerend kommt hinzu, dass mit ihm der nomadische Ursprung der kasachischen Identität in den Vordergrund rücken würde, während die Regierung es bevorzugt, die Kasachen als seit Urzeiten sesshaftes Volk zu stilisieren. So hat sich Präsident Nasarbajew nach anfänglichem Zögern inzwischen dafür entschieden, offiziell die sesshafte und städtische Vergangenheit des kasachischen Volkes zu propagieren und damit Experten zu widersprechen, denen zufolge umherziehende kasachische Stämme sich erst vergleichsweise spät auf dem jetzigen Territorium Kasachstans angesiedelt haben. Auch das kasachische Khanat des 15. Jahrhunderts gilt nun als entscheidende Etappe der Staatsgründung, da durch den Zusammenschluss der verschiedenen Horden die Vorstufe eines kasachischen Staatsgebildes entstanden sei. Zudem schuf sich das unabhängige Kasachstan einen Pantheon von Großkhanen des 17. und 18. Jahrhunderts mit Abylai Khan an der Spitze. Kirgisistan schließlich lehnt es im Gegensatz zu den anderen zentralasiatischen Staaten ab, eine bestimmte Gründungsepoche festzulegen. Nach offizieller Lesart hat sich das kirgisische Volk in mehreren Etappen und unterschiedlichen Gebieten allmählich herausgebildet. Gleichwohl feierte das Land 2003, gestützt auf alte chinesische Quellen, denen zufolge bereits im 2. Jahrhundert v. Chr. ein kirgisisches Gemeinwesen bestand, „2200 Jahre kirgisischer Staatlichkeit“. Als Ersatz für fehlende Gründungsdynastien oder -heroen hat sich das Land Manas, den Helden des großen gleichnamigen Nationalepos, zur Symbolgestalt auserkoren. An den Universitäten beispielsweise gibt es den Fachbereich „Manasologie“, und auch die Akademie der Wissenschaften hat eine einzig dieser Versdichtung gewidmete Sektion eingerichtet. Dabei wird Manas nicht mehr als mythische, sondern als reale Gestalt betrachtet, und das Epos wird weniger unter ästhetischen Gesichtspunkten denn als historische Quelle behandelt, die es erlaubt, die Geschichte des kirgisischen Volkes von seinen Ursprüngen an nachzuzeichnen. Konstruierte nationalstaatliche Kontinuität Die von den Bolschewiki betriebene Schaffung von Nationen der Usbeken, Kirgisen, Tadschiken, Turkmenen und Kasachen auf ethnischer Grundlage trieben die zentralasiatischen Staaten nach ihrer Unabhängigkeit weiter voran. Alle fünf Staaten verstehen sich als Nationalstaat der Titularnation. Dass es einen solchen Staat in diesen Grenzen und mit dieser Bevölkerung niemals zuvor in der Geschichte gegeben hat und seine Grundlagen von der Sowjetunion geschafften wurden, wird nicht thematisiert. Ale fünf Staaten sind vielmehr bemüht, eine historische Kontinuität der „Staatlichkeit“ zu konstruieren. Allesamt postulieren sie, die jahrhundertealte Ansässigkeit ihres Volkes auf dem jeweiligen Territorium sei Unterpfand ihrer heutigen nationalstaatlichen Legitimität. Die Machthaber sind deshalb darauf bedacht, mit großer Prachtentfaltung Jahrestage zu zelebrieren, die möglichst weit zurückliegen, worin sie übrigens die UNESCO systematisch unterstützt. So feierte Usbekistan 1997 das 2500-jährige Bestehen Bucharas und Chiwas, Kirgisistan beging 2000 das 3000-jährige Jubiläum von Osch, 2002 blickte erneut Usbekistan auf die 2700-jährige Geschichte von Schachrisabs zurück, im selben Jahr feierte Kasachstan das 2000-jährige Bestehen von Taras usw. Dieser kurze Abriss der Identitätsbildung und Schaffung nationaler Symbole in Zentralasien dokumentiert einige Gemeinsamkeiten zwischen den fünf Staaten der Region: Alle sind bestrebt, ein laizistisches nationales Gedächtnis zu entwickeln, jeden öffentlichen Bezug auf den Islam zu vermeiden und eine pantürkische Identität zu leugnen, welche die zu Zeiten der Sowjetunion getroffene und nach deren Ende beibehaltene politische Option, sich als Nationalstaat zu entwerfen, infrage stellen würde. Ebenso pochen alle darauf, dass ihre Nation ohne Unterbrechung existiert habe und seit Menschengedenken auf dem jeweiligen Territorium ansässig gewesen sei – daher die Passion für Archäologie und in Tadschikistan die fieberhafte Suche nach einer arischen Identität , daher das diskrete Ausblenden der sowjetischen Vergangenheit, in der die heutigen Grenzen erst gezogen wurden, sowie all jener historischen Epochen, die sich nicht nahtlos in das gewünschte Bild einfügen lassen. Präsidentenpropaganda Der autoritäre Charakter der postsowjetischen Regime in Zentralasien wirkt sich auf das geistige Leben und damit auch auf die Schaffung neuer nationaler Symbole aus. So haben die Präsidenten nicht nur das Feld der Politik, sondern auch das der Identität besetzt. Die Überhöhung der Nation dient den Machthabern als kulturalistisches Deckmäntelchen, mit dem sie ihr autoritäres Regime rechtfertigen. Die neue nationale Identität wird von oben lanciert, ohne dass die Staatsmacht das Volk damit einladen würde, sich am Staatsaufbau zu beteilen, ebenso wenig wie sie den einzelnen Bürger dazu animiert, sich für das Gemeinwesen zu engagieren. Die ins Maßlose gesteigerte Glorifizierung der Nation entbehrt jedes staatsbürgerlichen Ziels, ja sie leistet vielmehr einer „Verabschiedung aus der Politik“ Vorschub. Der Fokus auf das Nationale soll jeden Versuch unterbinden, die Legitimität der gegenwärtigen Regime infrage zu stellen. Ganz in sowjetischer Tradition haben die Präsidenten ihre „Gedanken“ zu Unabhängigkeit, Wirtschaft, Demokratie und Nation veröffentlicht – in Büchern mit Auflagen, die in die Hunderttausende gehen und in einigen Staaten einen Großteil, in anderen sämtliche Regalmeter der Buchhandlungen füllen. Usbekistans Präsident Islam Karimow hat offiziell ein knappes Dutzend Werke verfasst, der 2005 gestürzte kirgisische Präsident Askar Akajew ebenso wie sein amtierender kasachischer Amtskollege Nursultan Nasarbajew je ein halbes Dutzend. Auch die Rhetorik der Politikwissenschaften hat sich ungeachtet des scheinbaren Systemwandels wenig verändert; weiterhin dient diese Wissenschaft den ideologischen Interessen der Staatsmacht, auch wenn sie nun statt des Klassenkampfes die nationale Unabhängigkeit propagiert. Die grenzenlose Glorifizierung der staatlichen Eigenständigkeit scheint dabei in einem proportionalen Verhältnis zur Schwierigkeit zu stehen, die Existenz des neuen Staates tatsächlich zu legitimieren. In pathetischen Ansprachen werden deshalb Güte, Gastfreundschaft und Großherzigkeit des jeweiligen Volkes über den grünen Klee gelobt, und die Zukunft des Landes erscheint in den lichtesten Farben. Ein Glanzstück dieses postsowjetischen Kauderwelsch bot Präsident Nursultan Nasarbajew 1997 mit seiner Schrift Kasachstan – 2030, in der er den Bürgern seines Landes jene strahlende Zukunft ausmalte, die sie in 30 Jahren erwarten würde, sofern sie, versteht sich, seine Politik unterstützten. In offiziellen Kreisen ist das Buch inzwischen zum unumgänglichen Standardwerk avanciert, aus dem bei allen erdenklichen öffentlichen Anlässen zitiert wird, ja es hat eine Monographien-Reihe „angestoßen“, die ihrerseits den Titel Kasachstan – 2030 trägt. Plakate mit ebendiesem Slogan schmücken die städtischen Straßen, insbesondere in der neuen Hauptstadt Astana, verschiedene Ministerien haben sich die Umsetzung des einen oder anderen Punktes aus dem Programm Nasarbajews zu eigen gemacht. In ihren Werken werden die unvermindert schreibwütigen Präsidenten nicht müde, die Notwendigkeit einer Ideologie für jede Gesellschaft zu betonen. Die marxistische war selbstverständlich eine irrige, die neue dagegen kann, da national, nur die rechte und wahre sein. Die Nation, die im Begriff steht, „wiedergeboren“ zu werden, fiebert nach einer Erklärung ihres Platzes in der Weltgeschichte und erwartet vom „Vater der Nation“, dass dieser ihnen den Weg in die Zukunft weise. Deshalb zeigen sich die Staatsoberhäupter auch so überaus interessiert an der Geschichte. Sie ist symbolischer Rohstoff und knetbare Masse, die jede beliebige Neuerschaffung der nationalen Identität erlaubt. Alle haben sie mindestens ein Standardwerk zur einheimischen Historie geschrieben: der usbekische Präsident 1997 („Usbekistan an der Schwelle zum 21. Jahrhundert“), der kasachische und der tadschikische 1999 („Im Strom der Geschichte“ respektive „Die Tadschiken im Spiegel der Geschichte“) und der vormalige kirgisische 2003 („Die kirgisische Staatlichkeit und das Nationalepos ,Manas‘“). Der frühere turkmenische Präsident Nijasow, der sich Turkmenbaschi nennen ließ, begnügte sich mit einem einzigen Werk, freilich mit einem, das in seinen Augen alle anderen zu ersetzen vermochte: Ruchnama (pers. „Buch der Seele“). Es erschien 2001 auf Turkmenisch und 2002 auf Russisch und ist praktisch das einzige zugängliche Buch im ganzen Land. Nijasows Größenwahn machte es möglich, dass die Ministerien regelmäßig Ruchnama-Tage veranstalteten; dem Werk ist ein Feiertag gewidmet (der 12. September); seit 2004 wird, wer den Führerschein machen will, auch über seine Kenntnisse des Ruchnama geprüft usw. Die Lektüre dieses „zweiten heiligen Buches nach dem Koran“ beuge, so beschied der Präsident zu Lebzeiten, im übrigen auch Krankheiten vor. Diese Mischung aus Personenkult und extremem Nationalismus kam auch darin zum Ausdruck, dass Nijasow im April 2001 klassische und zeitgenössische Musik, Theater, Ballett und Oper verbieten ließ, da sie „dem Geist des turkmenischen Volkes widersprechen“. Ideologische Gleichschaltung und geschönte Geschichte Um ihre neue Lesart der Geschichte zu verbreiten, bedienen sich die autoritären Regime der Schulen und Hochschulen. Hier lassen sich die Botschaften des im Aufbau befindlichen Nationalstaats am besten unters Volk bringen. In Turkmenistan und Usbekistan wird bereits in der Grundschule das Gedankengut des Präsidenten unterrichtet. In den drei anderen Staaten wird die Beherrschung des offiziellen Sprachgebrauchs erst an der Universität und in der öffentlichen Verwaltung obligatorisch. Turkmenistan bietet auch hier wieder die schauerlichste Groteske. Das Ruchnama dient landesweit als Fibel, mit ihm allein lernen die Kleinen lesen und schreiben. Zu den neuen Schulfächern gehören „Die Politik des Turkmenbaschi“, „Ruchnama“ und „Die nationalen Traditionen“. Nach dem Ende der Sowjetunion gab es zunächst ein von den zuständigen Behörden und der Zensur abgesegnetes Geschichtsbuch, doch auch dieses wurde per Präsidentendekret im September 2000 verboten und seine 25 000 Exemplare eingestampft, weil es nach Nijasows Urteil die Herkunft und den nationalen Charakter der Turkmenen verschwieg. Die Lehrer müssen also mit dem Ruchnama als einzigem Geschichtsbuch auskommen, auf Zeitungsausschnitte oder andere hie und da zusammengeklaubte Informationen zurückgreifen und eigene Texte abfassen. Der Geschichtsunterricht basiert auf den megalomanen Inhalten des Präsidentenœuvres, das eine turkmenische Nation lobpreist, die seit Urzeiten an der Spitze des weltweiten Fortschritts steht. Die jüngere und jüngste Vergangenheit ist praktisch inexistent: Zwischen der Schlacht von Gök-Tepe 1881, deren Andenken ein Feiertag gewidmet ist, und der Unabhängigkeitserklärung von 1991 haben die Schüler ein einziges historisches Ereignis zu lernen, nämlich den Zweiten Weltkrieg bzw. die patriotischen Taten des turkmenischen Volkes in diesem Krieg. Die Zugehörigkeit zum Russischen Reich und zur UdSSR dürfen zumindest theoretisch nicht behandelt werden. In Usbekistan geht es ein wenig gemäßigter zu, doch ist die ideologische Durchdringung des Lehrplans auch hier massiv. So werden Präsident Karimows Werke in verschiedenen Fächern behandelt, und Schüler, die sich dagegen sperren, gefährden ihre Schullaufbahn. Es gibt zwar keine als solche deklarierten „Karimow-Fächer“. Die Lehre des Präsidenten wird etwas subtiler als in Turkmenistan unterrichtet. Dennoch durchzieht sie alle Disziplinen. Die gesamten 1990er Jahre hindurch mussten die Lehrer im Übrigen ohne neue Schulbücher bestreiten: Die sowjetischen blieben in Gebrauch, wobei ihr Einsatz durch ministerielle Weisungen und eine Liste der Themen, die nicht mehr behandelt werden durften, streng geregelt war. So hatten die Schüler aus den Geschichtsbüchern jene Seiten herauszureißen, auf denen die Zeit des Kommunismus abgehandelt wurde, und Lenin wie Stalin durften nicht mehr erwähnt werden. 2001 hatten Schüler und Lehrer auf Befehl von oben alle Bücher abzugeben, die in der Sowjetunion vom Verlag Prosweschtschenije herausgegeben worden waren, unabhängig davon, ob es sich um Geschichts- oder um andere, z.B. auch naturwissenschaftliche Bücher handelte. In welchem Umfang russischsprachige Werke aus zaristischer und sowjetischer Zeit aus den usbekischen Bibliotheken verschwunden sind, lässt sich nur schwer überblicken, in manchen Dorfbüchereien gibt es sie bereits überhaupt nicht mehr, in den städtischen haben sie nur noch einen kläglichen Platz, und selbst in den Bibliotheken der Hauptstadt gibt es Regale, die systematisch von ihnen gesäubert wurden. In Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan hat der Staat neue Geschichtsbücher herausgegeben, meist nach einer Ausschreibung. Diese dem Anschein nach demokratische Handhabung hat allerdings eine scharfe Selbstzensur der Autoren zur Folge und entpuppt sich dank der Selektion als exzellentes Kontrollverfahren. Patriotismus ist oberste Pflicht im Geschichts- und im Staatsbürgerkundeunterricht. So wird in Kirgisistan gerade ein Fach mit dem Namen „Geschichte der kirgisischen Staatlichkeit“ auf den Weg gebracht. Geschichte wird in allen drei Staaten generell nur aus der Perspektive der Titularnation gelehrt, die ethnische Vielfalt als Gegenstand unterschlagen. Die Beschäftigung mit der russischen und sowjetischen Vergangenheit wird zurückgedrängt zugunsten weiter zurückliegender Epochen, die sich leichter zurechtbiegen und verherrlichen lassen. Die Figur des Präsidenten wird nach paternalistischem Modell überhöht, die staatliche Unabhängigkeit als der natürliche Endzustand eines linearen Geschichtsprozesses dargestellt. Deutlicher wird die ideologische Gleichschaltung an den Universitäten und in den Akademien Kirgisistans, auch wenn sie nicht die Ausmaße wie in Usbekistan oder Turkmenistan erreicht. Der damalige turkmenische Präsident Saparmurad Nijasow sagte ab Mitte der 1990er Jahre der gesamten Wissenschaft den Kampf an. 1997 schloss er die Akademie der Wissenschaften und gliederte das Historische Institut dem Präsidialapparat an. Auch ließ er das Manuskript einer mehrbändigen, zuvor von ihm selbst in Auftrag gegebenen monumentalen Geschichte Turkmenistans beschlagnahmen und verschwinden. Das turkmenische Bildungssystem war bis zum Tod des Turkmenbaschi durch eine starke Verkürzung der Ausbildungszeiten an Schule und Universität gekennzeichnet. Seit 2002 umfasste die allgemeine Schulbildung nur noch neun Schuljahre. Das Studium bestand im allgemeinen aus zwei Studien- und zwei Praxisjahren. 2002 sperrte Nijasow den russischen Fundus der Nationalbibliothek und 2005 den Zugang zu allen Bibliotheken des Landes. Der neue, im Februar 2007 gewählte Präsident Gurbanguly Berdymuchammedow will nun offenbar das alte Schul- und Studiensystem wiederherstellen. In Usbekistan ist die Lehre Karimows (die „Karimologie“, wie sie ironisch genannt wird) in allen Universitäten Pflichtgegenstand. Sie wird in eigens dafür eingerichteten Kursen gelehrt und gehört zum jährlichen Prüfungsprogramm. Hinzu kommt ein Kurs in „nationaler Geistigkeit“, der die nationalen Gefühle stärken und den Stolz auf die usbekische Kultur festigen soll. Kurz, die politische Durchdringung von Schule und Universität, die während der Perestroika nachgelassen hatte, hat in Usbekistan und Turkmenistan wieder das Ausmaß erreicht, das sie in der UdSSR gehabt hatte, wenn sie dieses nicht noch überschreitet. Jeder Student oder Forscher, der gegen die nationalpolitische Korrektheit verstößt oder die Legitimität der Einflussnahme der politischen Macht auf den Wissenschaftsbetrieb infrage stellt, setzt seine Karriere heute wieder aufs Spiel. In Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan wird an den Hochschulen nach russischem Vorbild das Fach „Kulturologie“ gelehrt, dessen Hauptaufgabe darin besteht, den verordneten staatlichen und kulturellen Nationalismus zu verbreiten und die Einzigartigkeit der Titularnation herauszustellen. So betont das meistverwendete kasachische Kulturologie-Lehrbuch den unvergleichlichen Charakter der Kasachen, ihre große religiöse Toleranz, ihre außergewöhnliche Anpassungsfähigkeit an die Moderne, die globale Rolle des Landes als „Drehscheibe“ zwischen Ost und West usw. Dass der Kulturologie ebenso wie der Politologie in den Nachfolgestaaten der UdSSR eine solche Aufmerksamkeit zukommt, lädt förmlich dazu ein, die Rolle dieser neuen Disziplinen mit derjenigen zu vergleichen, die zu kommunistischer Zeit der Marxismus-Leninismus und der Dialektische Materialismus spielten. Die Kontinuitäten sind nicht nur institutioneller, sondern auch intellektueller Natur. Wie einst lernen die Studenten, für ihr Fortkommen in Studium und Beruf „politisch korrekt“ zu denken und zu reden, gleichzeitig aber auch „national korrekt“. Sie werden dazu erzogen, den Nationalstaat in einer primordialistischen Logik ethnischer Zugehörigkeit zu denken, wie sie ihnen von der offiziösen Geschichtswissenschaft und vom Präsidenten vorgegeben wird. Forschung und Wissenschaft bleiben also auch in diesen drei etwas liberaleren Staaten im Würgegriff der Politik. Ähnlich wie in der UdSSR haben akademische Publikationen die klugen Ansichten des Staatsoberhaupts über die Nation zu preisen und seine Geschichtsinterpretation mit zusätzlichen Details zu unterfüttern. Für Kasachstan gilt dies in stärkerem Maße als für Tadschikistan; in Kirgisistan ist die ideologische Gängelung in diesem Punkte am wenigsten ausgeprägt. Aus dem Französischen von Eveline Passet, Berlin
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