Editorial
Mosaiksteine
Manfred Sapper, Volker Weichsel, Andrea Huterer
Abstract in English
(Osteuropa 8-9/2007, S. 78)
Volltext
Zentralasien ist paradox. Seine Vergangenheit ist nahe, seine Gegenwart fern. Jeder, der das Mosaik an der Mir-e-Arab Medrese in Buchara auf dem Titelbild und die Kuppel der Medrese als Vollbild in der Rückklappe sieht, kann historisches Wissen über die Seidenstraße abrufen. Ohne die große Tradition – die städtischen Hochkulturen an den Oasen, die riesigen Steppenreiche, die Blüte des Islam am wichtigsten Handelsweg zwischen Ost und West und die Multikulturalität zwischen Wüsten und Hochgebirgen – ist Zentralasien nicht zu verstehen. Doch der Glanz des Gewesenen lässt alles andere verblassen: Das heutige Zentralasien ist weitgehend terra incognita. In dieses Dunkel richten die Autoren des vorliegenden Bandes ihre Scheinwerfer. Dazu folgen sie zunächst den Pfaden der Herrschaft in den fünf autokratisch verfassten Staa-ten Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan. Vergleichende Analysen und exemplarische Studien zum Regimetypus, den Funktionen des Führerkults und zur Elitenrekrutierung zeigen: Wer die autoritäre Herrschaft auf eine vermeintliche orientalische Tradition zurückführt, unterliegt einem Geschichtsdeterminismus. Dieser geht ebenso in die Irre wie die geschichtsvergessene Annahme, Demokratie könne mit Geld erkauft oder der Hilfe einiger ausländischer Nichtregierungsorganisationen in kurzer Zeit herbeigefördert werden. Die wahren Wurzeln des zentralasiatischen Autoritarismus liegen in der Sowjetzeit. Ihn zu überwinden ist nicht unmöglich, aber es bedarf eines günstigen internationalen Umfelds. Genau dieses ist nicht gegeben. Es ist kein Zufall, dass das politische Klima in den fünf Staaten in dem Maße restriktiver geworden ist, in dem Zentralasien in den letzten Jahren von der Peripherie zum Drehkreuz der Großmächte geworden ist. Ganz gleich, ob es um die Energieressourcen oder um Überflugsrechte und Militärbasen geht: Die konkurrierenden Aspirationen Russlands, Chinas und der USA erweitern den Handlungsspielraum der herrschenden Präsidenten und ihrer Entourage. Dies zeigte sich in aller Deutlichkeit nach dem Massaker im usbekischen Andischan im Jahr 2005. Als Washington Taschkent wegen Menschenrechtsverletzungen kritisierte, sank der Stern der USA rapide. Moskau und Peking, die den zentralasiatischen Staaten nicht nur geographisch, sondern auch politisch näherstehen, standen bereit, die Lücke zu füllen. Dem kann die Europäische Union nur wenig entgegensetzen. Dabei wäre das Kooperationsmodell der EU genau das, was Zentralasien bräuchte. Die fünf Staaten sind infrastrukturell auf nahezu allen Feldern der Politik voneinander abhängig. Wie existentiell diese Interdependenz ist, zeigt sich an einer der größten menschengemachten Umweltkatastrophen: der Austrockung des Aralsees. Diese zeitigt klimatische Veränderungen mit verheerenden gesundheitlichen und sozioökono-mischen Folgen, die nur durch Kooperation zwischen den Staaten am Oberlauf der wichtigen Flüsse und den Unteranrainern zu lindern wären. Die physischen, politischen und thematischen Karten in den Einschüben dieses Ban-des visualisieren diese Zusammenhänge und geben einen Überblick über den Natur-, Kultur- und Politikraum Zentralasien. Bei den Karten wie im ganzen Band war es oberstes Ziel, den Zugang zu Neuem für den Leser so leicht als möglich zu machen. Daher sind die Eigennamen in jener Form gehalten, die dem deutschen Leser die vertrauteste ist. Eine originalgetreue Übernahme der landessprachlichen Formen – etwa usbekisch Qu’qon für Kokand – wäre hingegen einer Exotisierung gleichgekommen.